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  • Medical Grade Music

    Ich werde ja nicht müde, ein Loblied auf die Streams von Stunty / Stuntrock Confusion zu singen. Auch DIESES Interview mit den sympathischen The Utopia Strong (Steve Davis, Kavus Torabi und Michael York) ist sehr sehenswert.

  • The shit I was falling through“ – ein paar Gedanken zu einem Phänomen namens „Tindersticks“ und ihrem neuen Album „Soft Tissue“


    „Falling, the light on Neals Yard / Falling, the light on Cold harbour lane / Falling, the light on your hand in mine / Falling, the light on a secret shared“ Ich war am Freitag bei einem wunderbaren Flutlichtspiel im Westfalenstadion, unserem 4:2 gegen Heidenheim. Lange war ich nicht mehr bei einem Spiel – beim Abschied von Marco Reus trafen wir uns nebenan im „Strobels“ mit Freunden und bejubelten Marcos Kunstschuss auf der grossen Mattscheibe. Das Live-Erlebnis fehlte mir. Wie früher liebe ich es einfach, in die Menge einzutauchen, beim Überqueren der Brücke über die A40. Die früher die B1 war. Oder das Aufbrausen des Torjubels: kein Privileg der Gelben Wand. Ich spüre die Verbindung zu Wildfremden wie zu alten Gesichtern, meine Spielart von „spirituellem“ Agnostizismus. Man kann viele Kopfhörer so einstellen, dass das Ambiente der Erwartung und Vorfreude hörbar bleibt, und sich mit der Musik meiner absoluten Zuneigung mischt. „Soft Tissue“ heisst das neue Opus der Tindersticks, dem ich auf dem Weg lauschte. Ein paar Leute wollten schon von mir wissen, in den letzten 30 Jahren, was ich an diesen Melancholikern aus Nottingham so schätze, aber letztlich hat sich nie einer beschwert, dass ich seit 1995 jedes Album von Ihnen (und ich meine jedes!) nachts in den Klanghorizonten im Deutschlandfunk spielte. Nachts stellen sich solche Fragen auch nicht, denn Tindersticks machen Musik, die in der Nacht tendenziell undwiderstehlich ist. Hier nun die Gedanken von Alex Petridis aus dem Guardian.

    Es ist leicht, den Anfang der Karriere der Tindersticks als verpasste Chance zu betrachten. Es gab einen kurzen Moment, etwa zur Zeit ihres gleichnamigen Albums von 1995 und seines Nachfolgersl „Curtains“, in dem es so aussah, als ob die üppig instrumentierten, gefühlvollen Songs der Band aus Nottingham ein breites Publikum finden könnten: ersteres erreichte kurzzeitig die Top 20, letzteres verhalf ihnen zu einem Major-Label-Vertrag. Aber sie waren dazu verdammt, ein von der Kritik gefeierter Kultbetrieb zu bleiben, der in Kontinentaleuropa größer war als in ihrer Heimat. Sie waren eine Band, die etwas aus der Reihe tanzte, zu spröde und eigenwillig für eine Ära, in der der britische Alternative Rock zu grellen Primärfarben und Mitsing-Kommerz neigte, ihr Image zu abgehoben und ihre Stimmung zu niedergeschlagen, ihre Musik eher zur Untermalung der anspruchsvollen Filme der französischen Regisseurin Claire Denis geeignet als zum Torjubel bei Match of the Day.

    Doch man spürt, dass der Kultstatus ihnen in ihrem zweiten Akt gut getan hat. Tindersticks traten 2008 nach einer fünfjährigen Pause und ohne die Hälfte der ursprünglichen Mitglieder wieder in Erscheinung. Die meisten Bands, die sich neu formieren, sind, ob sie es zugeben oder nicht, der Nostalgie und den damit verbundenen Erwartungen verfallen: Ihr neues Material ist bestenfalls eine faire Fälschung alter Alben, die jeder kennt, um den Platz in der Setlist zwischen den großen Hits zu füllen, für die jeder bezahlt hat. 

    Aber die verjüngten Tindersticks wurden nicht von ihrer eigenen Vergangenheit eingeengt oder von dem Bedürfnis angetrieben, frühere kommerzielle Erfolge wieder aufleben zu lassen. Sie haben die letzten 16 Jahre damit verbracht, leise nach vorne zu drängen und äußerst beeindruckende Alben zu machen. Ihre bemerkenswerte qualitative Beständigkeit wird durch die Tatsache verstärkt, dass sie sich ihres Publikums sicher genug sind, um ihm gelegentlich einen Kurvenball zu verpassen, wie auf „Distractions“ von 2021: Das Album wurde während eines Lockdowns aus der Ferne aufgenommen und handelte mit Samples, Loops und Geräuschausbrüchen und wies so spärliche Arrangements auf, dass die Musik hinter der Stimme von Frontmann Stuart Staples gelegentlich kaum vorhanden zu sein schien.

    Der Nachfolger könnte nicht unterschiedlicher sein. Die Musik auf „Soft Tissue“ ist zurückhaltend und leise genug, um das Gefühl zu erwecken, dass das Ganze irgendwo bei gedämpftem Licht in den frühen Morgenstunden aufgenommen wurde, aber sie fühlt sich auch warm und befriedigend an und ist stellenweise im Soul der 70er verwurzelt.

    Die Bläser und das E-Piano des Openers New World haben einen deutlichen Memphis-Flair – und die Drum-Machine, die den Song untermalt, erinnert ein wenig an Timmy Thomas‘ „Why Can’t We Live Together“.

    Streicher, die irgendwo zwischen einem Blaxploitation-Soundtrack und einem dramatischen Disco-Arrangement liegen, sind auf „Don’t Walk, Run“ zu hören. Eine sparsame, hypnotische Basslinie treibt „Turned My Back“ in einem gemächlichen Tempo voran. Anderswo gibt es einen schwachen lateinamerikanischen Einfluss im Rhythmus von „Nancy“, insofern er wie die „Bossa Nova“-Einstellung einer primitiven Drum-Maschine klingt, und ein faszinierendes Wechselspiel zwischen Staples‘ Bryan Ferry-artigem Drawl und dem schärferen und geradlinigen, souligen Ton seiner Gesangsdame Gina Foster.Die Stimmung ist oft so düster wie immer. „Nancy“ bittet um Vergebung, aber man ahnt, dass sie damit auf taube Ohren stößt; die leidenschaftliche Liebe, die auf „Always a Stranger“ „in flames“ ist, scheint trotz des streicherlastigen Arrangements unerwidert zu bleiben. Der Erzähler von New World beklagt „the shit that I was falling through“: Der wiederholte Refrain von „I won’t let my love become my weakness“ klingt mitreißend, bis man merkt, wie zweideutig die Zeile ist.

    Aber die Verzweiflung ist nicht die ganze Geschichte. Im Zentrum des Albums steht „Falling, the Light“, das auf einer unglaublich hübschen Gitarrenfigur und einem seltsam klimpernden Rhythmus aufbaut. Der Text ist abwechselnd von der Schönheit Südlondons im Sonnenschein und von Erinnerungen an Hochzeitstage und gemeinsame Geheimnisse geprägt. Das abschließende „Soon to Be April“ ist traumhaft, besitzt eine wunderbare, lange instrumentale Coda und findet echten Optimismus im Vergehen der Jahreszeiten. Wenn es bei der Gesamtbotschaft darum geht, die Schönheit der kleinen Dinge als Bollwerk gegen die Grausamkeit des Lebens im 21. Jahrhundert zu erkennen, dann spiegelt sich das auch im Sound des Albums wider, der reich an schönen, subtilen Details ist: das schimmernde Keyboard, das sich tief in „Don’t Walk, Run“ verbirgt, die zarten Geigenverläufe um Staples‘ Gesang in „The Secret of Breathing“.

    Es spricht viel für eine Band, die es schafft, ihre Identität auf zwei so scheinbar ungleiche Alben wie „Soft Tissue“ und seinen Vorgänger zu übertragen. Vielleicht liegt das daran, dass die Tindersticks in ihrer eigenen Welt leben, unbehelligt von den Launen der Musikmode und losgelöst von allem anderen. Das war schon immer so: Man hat Mühe, einen zeitgenössischen Künstler zu finden, mit dem man die Tindersticks im Jahr 2024 vergleichen kann, aber damals war es auch schwer zu erkennen, wo sie vor 30 Jahren hingehörten. Sie scheinen sich damit zufrieden zu geben, einen ruhigen Ort abseits des Geschehens zu bewohnen, und das ist auch verständlich: Es ist ein Ort, den zu besuchen ein Vergnügen ist.

  • Rarities of Sky


    I remember the seaside, smoking
    a pipe while reading a paperbook
    about how to smoke a pipe.
    I stranded, the tongue too hot, that
    Scottish Blend a festival of fragrances,
    under the palms of Paignton,
    hunting for words, rhyming plums
    and rums in 1971. All from my picture book,
    in which all, there is, is
    vanishing. Clouds playing
    solitaire in the rarities of sky,
    far away, too, the sounds of
    a gambling hall with that song
    I love so much, on tip of the tongue.

    (Im Umfeld der Aufnahmen zu seinem letztjährigen Album, das ich für eines seiner schönsten halte, enstanden auch die acht Stücke von „the skies: rarities“. Rund 30 Minuten ist dieses Minialbum lang, und es umfängt mich genauso wie der grosse „Vorgänger“. „Above and Below“ ist für mich ein „instant classic“, die Solopianoversion von „Through The Blue“ ein mit Understatement gespielter Evergreen, der Lust bereitet, wieder sein Debut „Voices“ aus dem Regal zu holen, das einst Bruder Brian mit Dan Lanois in Hamilton, Ontario, produzierte. Übrigens zähle ich das auch zu seinen schönsten Alben. Das kleine Gelegenheitsgedicht schrieb ich, und feilte daran, während das Album dreimal von vorne bis hinten lief. Roger Eno ist ein grosser Wanderer an den Küsten von Suffolk, und ich mischte da eine ferne Erinnerung auf, an einen unvergesslichen Nachmittag an der Küste von Paignton, an dem, bis auf mein Abenteuer mit der Pfeife, rein gar nichts passierte. Ich war 16, und die Baskenmütze auf meinem Kopf habe ich verschwiegen, es wäre auch zu peinlich 😂…)

  • The Flying Building Blocks Of A Radio Hour in March 2025

    Je perfekter das „sequencing“ einer Ausgabe der „Klanghorizonte“ ist, desto leichter das Schreiben der Texte. Unbewusst liegen sie dann schon vor, es geht nur um das Ausformulieren, und ein Quantum Storytelling. Und somit ist es eine schöne Sache, ab heute mit den „fliegenden Bausteinen“ zu hantieren. Eigentlich kam mir die Idee gestern, als ich mit Marjan im Wartezimmer ihrer Zahnärztin sass und ein paar Gedanken zu „Amelia“ notierte.

    Es schien auf Anhieb eine perfekte Abfolge zu sein: ein Track aus Laurie Andersons neuem Album, mit den Flügelschlägen einiger von Dennis Russell Davies arrangierter Violinen und Violas, gefolgt von dem berühmten „Cantus (In Memory of Benjamin Britten)“ aus Arvo Pärts Klassiker „Tabula rasa“, bei dem ein gewisser Dennis Russell Davies mitwirkte, und einer alten englischen Folkmelodie, traumhaft drageboten vom Danish String Quartet und ihrer neuen Arbeit „Keel Road“. Jetzt denke ich noch einmal darüber noch, und ersetze dann doch, wegen des allzugrossen Bekannheitsgrades, Arvo durch Annette, bei der das Cicada String Quartet amwesend war – und die Abfolge lautet, im Zentrum der „Klanghorizonte“ am 25. März um 21.05 Uhr:

    Laurie Anderson: Amelia
    OTON (Danish String Quartet)
    Danish String Quartet: Keel Road

    OTON (Danish String Quartet)
    Annette Peacock: An Acrobat‘s Heart

    Annettes einziges Songalbum für ECM kommt in Kürze als Schallplatte heraus. Nun, bis dahin ist es noch eine Weile, und entweder sammeln sich hier, neben der dann real herausspringenden, auch noch ein paar imaginäre Radiostunden, wer weiss?! Leicht liesse sich diese Stunde hieb- und stichfest machen, aber das widerspräche der Grundidee der „flying building blocks“. Trauen Sie also Ihren Augen besser nicht! Wie bringe ich eine Episode aus Joe Boyds „And The Rhythm Will Remain“ in der Stunde unter, und zu welcher Musik? Wo landet der erste Auftritt des „American Analog Set“ in der Geschichte der Klanghorizonte?

    … beware now, it is friday 13th, and my fantasy get further shapes, „overnite sensations“…though one thing is clear, we will see so much musical brilliance til March 25 that this sequence will definitely get a lot of workover, maybe some basic ideas stay. Fact is, this sequence now seems close to perfect, full of horizons, symmetries, the old and the new, and, quite imaginary … with these boxsets and albums at hand, winter can come …

    The American Analog Set
    Joni Mitchell Archives, Vol 4: The Asylum Years (1976–1980) 
    *
    Henriksen / Bang / Kleive: Chiaroscuro (the album)
    A track based on chapter 2 of Joe Boyd‘s book
    Laurie Anderson: Amelia
    Danish String Quartet: Keel Road
    Annette Peacock: An Acrobat‘s Heart
    A second track based on chapter 2 of Joe Boyd‘s book

    Chiaroscuro: the 20th anniversary concert
    Shane Parish: Repertoire (Probably „Europe Endless“)
    Nala Sinephro: Endlessness

    *The lost highways of Joni’s 1970s odyssey, mapped and charted across six astonishing discs. Joni Mitchell seemed to know exactly where she was going. At the end of 1975, as her contemporaries gave up the ghost or were laid waste by punk, she was embarking on one of the most extraordinary artistic solo odysseys of the 20th century. Far from Saskatoon, Laurel Canyon, Canada and the United States, beyond folk, rock, jazz and blues, she was out on her own strange adventures into the wild blue yonder.

  • In den Miniaturen der Klänge

    In der letzten Sendung ging Michael mal wieder weit in die Klangwelt hinaus, und als er über Port Townsend sprach, wehte eine Erinnerungsfahne an mir vorbei, auf der Puget Sound stand. Er sprach über den Gitarristen Miles Okazaki, der am äussersten Ende der Olympic Peninsula geboren worden war. Aus privaten Gründen war ich nach Seattle gereist, die Stadt von Jimi Hendrix, Microsoft und Amazon. Schon damals hat mich der Anblick von den Hightech Freaks in Wanderschuhen auf der Fähre über den Puget Sound begeistert . Der Busfahrer auf der anderen Seit von Seattle warnte mich vorsichtig vor dem Wald, indem verschiedene Indianerstämme leben. Er bot mir an, mich an einer markanten Stelle abzusetzen, um mich auf seiner Retourfahrt dort aufzugabeln.Nach ein paar Stunden begriff ich die Warnung und nahm das Angebot an. In dem Indianerwald taumelten einige betrunkene Gestalten an mir vorbei, ich konnte sie nicht einordnen und verhielt mich still. Also fragte nichts und niemanden. Später im Bus erklärte mir der Fahrer, dass die Indianer mit ihrem Leben unzufrieden seien, sie leben von Feuerkörpern und Schnitzereien für die Touristen und betrinken sich häufig. Mein Plan bis nach Port Townsend hochzufahren war leider abgebrochen.

    Von den Miniaturen von Amerika möchte ich mich verabschieden und mich aus der kleinen Welt im Ruhrgebiet melden. Vom Puget Sound zum Pulverweg in Duisburg. Dort wurde heute der älteste Schallplattenladen 70 Jahre alt. In den Strassenniederungen der Innenstadt hebt er sich nicht heraus, er liegt plötzlich vor mir, so alsob ein Bergmann sich hierher verirrt hat: Ja, watt is datt geez? Schallplattenladen. Kannze für. Rolf arbeitet seit 20 Jahren in dem kleinen Laden. Ich frage ihn nach Veränderungen seit dem Internet. Und ob die jungen Musikhörer überhaupt noch wüssten, was eine LP sei. Er schüttelt den Kopf und meint, dass die auch nicht wüssten, wo der Eiffelturm stünde. Aber auch ältere Sammler kämen in seinen Laden und können nicht mehr sagen, was sie zuhause alles stehen haben. Alles sei ordentlich im Netz gelistet, deswegen schnell abrufbar. Ich frage ihn nach seinen drei liebsten Platten. Beatles, Stones und Kinks. Ich bin etwas enttäuscht über die ourgenerationmainstreamanswer. Ich frage ihn nach LPs oder CDs von Jackson Browne. Er hat nichts von ihm in seinen Archiven, er mag ihn nicht. Ich frage , warum nicht? Lieber Metallica. Ich gehe zu seinem Jazz Sortiment, erwähne Miles Okazaki, ob ich ihn hier finde. Nee, den kennt er nicht, ob der noch am Leben sei. Ja, sage ich, seine neue CD heisst „Miniature America“. Er googlet, er liest, er hört und sagt dann: den merke ich mir.

  • “Woodland“

    „Ein Güterwagen täuscht das Auge. Auf seinen sich drehenden Rädern ist keine Ladung zu sehen, nur die Knochen einer Fracht, die den Himmel einrahmen, durchschossen von Blau. So beginnt das neue Album von Gillian Welch und David Rawlings: mit einem illusorischen Fenster zum Jenseits. „Empty Trainload of Sky“ ist eine akustische Rock’n’Roll-Miniatur, wie sie Welch und Rawlings auf ihrem Meisterwerk Time (the Revelator) aus dem Jahr 2001 perfektioniert und seither bewusst mit zwei Gitarren, zwei Stimmen, Spannung, Anmut und Entschlossenheit erweitert haben. Der Schwung dieses skelettartigen Mystery-Trains trägt Tradition und Unendlichkeit in sich. Ob er nun hohl oder voll ist, nichts oder alles enthält, er rast immer weiter vorwärts.“ (Jen Pelly, NPR)

  • Amelia

    „Die Leute haben geklatscht, wie man das halt so macht. Aber ich wäre am liebsten im Boden versunken. Eine sinfonische Komposition war ein Novum für mich. Ich hatte keine Ahnung, wie man so was macht. Nie wieder, sagte ich mir.“

    Laurie Anderson in einem NZZ-Interview über die Premiere von Amelia im Jahr 2000. Aber der Dirigent des Werkes, Dennis Russell Davies, sah die Sache offenbar nicht ganz so katastrophal und behielt das Stück im Kopf. Einige Jahre später schlug er Laurie vor, es ein zweites Mal zu riskieren, diesmal aber mit auf die Streicher reduziertem Orchester. Das gefiel ihr schon besser.

    Es dauerte dann nochmals einige Jahre, bis Davies, der inzwischen Chefdirigent der Philharmonie Brünn geworden war, ihr vorschlug, das Werk nochmals auf die Bühne zu stellen. Den Mitschnitt dieser Version bearbeitete Laurie nach: Mit allerlei elektronischen Tricks aus ihrer eigenen Werkstatt und einigen Mitteln, die man aus der Hörspielproduktion kennt, veränderte sie Teile ihrer Sprechstimme (tatsächlich sind es wohl um die zehn verschiedene Stimmen, die sie so erzeugte), fügte Perkussionsinstrumente hinzu und heuerte als ergänzende Vokalistin die Künstlerin Anohni an. Das Ergebnis gibt es nun als Platte. 

    Als ich meiner Liebsten erzählte, von Laurie Anderson sei eine Platte über Amelia Earhart zu erwarten, war ihre Reaktion, ob man denn da nichts Interessanteres hätte finden können. Ich wusste nicht, dass die amerikanischen Kinder mit der Geschichte dieser Flugpionierin schon in der Schule zugeschüttet werden. Insofern war ich ein bisschen skeptisch, was da wohl kommen würde.

    Das Resultat ist trotz des recht sanften Gesamteindrucks kein Easy Listening. Es ist, soweit ich erinnere, das erste Mal, dass Laurie Anderson eine durchgehende, in sich geschlossene Geschichte erzählt, und die Platte erzeugt ein irgendwie ungutes Gefühl; man weiß ja, wie sie enden wird. Schockmomente gibt es aber nur selten, und selbst sie sind eher relativ. Das ist einerseits ein bisschen verblüffend, denn immerhin geht es um die versuchte Weltumrundung, die Amelia Earhart 1937 als erste Pilotin startete und die für sie und ihren Co-Piloten tödlich endete. Andererseits aber würden solche Ausbrüche wohl nicht mehr zu Lauries inzwischen doch sehr gereifter Stimme passen. Insgesamt ist das Werk eher harmonisch gehalten, verfügt aber dennoch über die Anderson-typische Intensität, die man von ihr kennt. Und die hält bis zum Ende, das nach 34 Minuten eher angedeutet als ausgespielt wird.

    Wir folgen dem Flug, bis über dem Pazifik der Funkkontakt abbricht. Es gab später mehrere Suchaktionen, aber bis heute sind die Trümmer der Maschine nicht gefunden worden. Laurie verwendet unter anderem Texte, die auf Protokollen des Funkverkehrs, auf Interviews während Zwischenlandungen und Flugtagebüchern basieren. Der vollständige Text liegt der LP bzw. der CD bei; man muss ihn mitlesen, weil die Dramaturgie der Aufnahme einige Passagen fast unkenntlich macht.

    Als nächstes soll dann wohl entweder United States, Part V folgen (für mein Gefühl vielleicht nicht unbedingt die beste Idee), oder, so ließ Laurie in einem „Guardian“-Interview verlauten, „von einem Schiff namens Arche.“ Warten wir’s ab.

    Frühbesteller des Albums Amelia erhielten zusätzlich eine signierte Druckgrafik im LP-Format. Sie zeigt ein seltenes, Fliegern aber bekanntes Phänomen: einen ringförmigen Regenbogen, der den Schatten des Flugzeuges auf der Regenwand umschließt. Ein passendes Bild.

  • Aus dem Tunnel

    Seit 5 Wochen läuft hier der Schulbetrieb wieder. Die 6 Wochen Sommerferien am Stück sind ja ein nicht zu unterschätzendes Privileg. Von daher will ich jetzt nicht in so einen „wir Lehrer arbeiten alle so hart„-Schnack verfallen. Ich bin dankbar für die Arbeit, die ich gerade tue: mit 18jährigen ein Theaterstück einzuüben („Die 12 Geschworenen„), in 7 Wochen ist Premiere.

    Keine Frage ist das viel Arbeit, die letzten 5 Samstage haben wir geprobt, an den Sonntagen habe ich zudem meinen übrigen Unterricht vorbereitet. Unabhängig von dem Theaterstück hatte ich in den ersten drei Wochen des Schuljahres doppelt so viel Unterricht wie normal – diese Stunden kamen dann also noch dazu. Aber die Proben machen – trotz aller Anstrengung, trotz allem Generve („Muss ich auch kommen?“ „Wann ist Pause?“ „Wann machen wir Schluss?“) – wirklich Spaß. Irgendwann wird es einen toten Punkt geben, irgendwann wird es zwischen mir und den Jugendlichen knallen – das gehört dazu. Aber momentan ist es sehr befriedigend, gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten. Schön wäre es, wenn die Schauspieler*innen mit dem Lernen des Texts beginnen würden, da muss ich aber vernutlich noch drei Wochen drauf warten.

    Alte und neue Musik“ habe ich in den letzten Wochen auch gehört, in solchen Momenten ist Musik besonders wichtig. „Repertoire“ von Shane Parish lief besonders häufig. Parish spielt auf seiner Gitarre Versionen von Stücken verschiedener Künstler: Aphex Twin, Mingus, John Cage, Alice Coltrane, Ornate Coleman, Kraftwerk, u.a. Es herrscht eine Atmosphäre wie auf der Veranda eines amerikanischen Holzhauses im Sommer. Und das ganze klingt wunderschön, aus der Gitarre kommen die Klangfarben einen Orchesters heraus. Ich glaube, „Repertoire“ würde vielen der Mitlesenden sehr gefallen.

    Das neue Nick Cave & The Bad Seeds Album gefällt mir auch. Irgendwie leicht überdreht und überkandidelt-schwelgerisch in den Arrangements (diese Chöre!), trägt diese Musik mich auf die angenehmste Weise durch meine Tage.

    Und in das erste Album von Azimuth, dass ich jetzt schon einige Monate besitze, kann ich mindestens genau so gut verschwinden, wie in „Repertoire“. Und dann ist da noch „The Pretender“, ein Song den ich durch Lajlas Post lieben gelernt habe und in den letzten Wochen immer wieder mal gehört habe.

  • Ein paar Geschichten rund um Tabula Rasa (1)

    In der Vinyl-Serie „Luminessence“ von ECM ist nun, zum 40-jährigen Bestehen der „New Series“, das erste Werk dieser Reihe für notierte Musik als Schallplatte mit Gatefold-Cover wiederveröffentlicht worden. Zu einem stolzen Liebhaberpreis knapp unter 50 Euro. HIER ein zehn Jahre altes Gespräch mit dem Produzenten Manfred Eicher darüber. Es folgt, bis Monatsende, ein kleiner launiger Text zu diesem aussergewöhnlichen Werk. Vielleicht haben ein paar Leser dieser Zeilen Lust, sich das Album erst einmal (wieder) daheim anzuhören (auf Cd, einer etwas älteren Schallplatte, oder als Download) und ihren eigenen Erinnerungen und Empfindungen nachzuspüren. Wer mir seine kleine „Hörgeschichte“ mit „Tabula Rasa“ erzählen möchte, schreibe diese bitte, egal wie kurz oder lang, an micha.engelbrecht@gmx.de

  • Brennan Brilliant

    Unter dem reichen Angebot von neuen Releases befindet sich ab und zu etwas wie der Bob-Beamon-Weitsprung von 8,90 Metern. Von dem gerade auf dem Pyroclastic Label der Pianistin Kris Davis erschienenen Album BREAKING STRETCH der New Yorker Vibraphonistin mit mexikanischen Wurzeln Patricia Brennan kann das wohl mit Fug und Recht gesagt werden. Brennan setzt mit ihrem hervorragenden Septet neue Maszstäbe für ihr Instrument, die sich konsequent aus den beiden Vorgängeralben MORE TOUCH and MAQUISHTI ergeben (siehe für ausführliche Besprechung HIER ). Schon die Besetzung des BREAKING STRETCH Septets lässt aufhorchen: Marcus Gillmore (Schlagzeug), Mauricio Herrera (Perkussionsinstrument), Kim Cass (Bass) und eine Bläsermacht aus Adam O’Farrill (Trompete), Mark Shim (Tenorsaxofon) und Jon Irabagon (Altsaxofon/Sopranino).

    Als Mitglied von EUROPE JAZZ MEDIA habe ich das Brennan-Album für die monatliche Chart im September nominiert (siehe Link)

    Among recent fantastic new music, for me “Breaking Stretch” of vibraphonist Patricia Brennan is an extraordinary case. It is highly perplexing how she not only lays a stark groundwork for the four-part rhythm section as well as a three-part horn section but especially how the richness and melodic sense of the music powerfully emerge energetically from the depths of this movable foundation. Thereby an astonishing interchange of high density and spaciness takes place, creating a captivating expressive whole that never loose its high inner tension and self-renewal. Fluency of sophisticated lines and stunning rhythmical layering feed and reinforce each other ravishingly thereby opening up a new vibraphonistic reach. All these musical strengths are ruled by a consistently strong sense of significance. The piece “Palo de Oros (Suit of Coins)” has a dream of a bass-intro and the video to the piece “Earendel” by filmmaker Frank Heath is of a rare beauty. Go listening! Go taking in! 

    Hier zu schneller Verfügung zwei Videos des BREAKING STRETCH Septets:

    VIDEO „Palo de Oros (Suit of Coins)

    VIDEO „Earendel“

    Auch in Deutschland tut sich was auf dem Vibraphon, etwa in Person der griechischstämmigen Berliner Musikerin Evi Filippou. Dazu demnächst mehr.