• monthly revelations (march)

    (album) das aussergewöhnliche Pianoalbum „Skrifum“ von Jon Balke, das m.E. in einer eigenen Sphäre existiert zwischen Harold Budds und Brian Enos „The Plateauf Of Mirror“ sowie Paul Bleys „Open, to love“ (film) Ingo J Biermann erinnert an David Lynch (prose) Martina Weber (Herausgeber): Und man hört sie doch – 20 Jahre Literaturwerkstatt in Darmstadt (Anthologie) (talk) „The infinity of goove“ – life and times of Philip Jeck (radio) Playlist in Motion: die Ausgabe der Klanghorizonte am 27. März (mit Tommy Perman, Anthony Wasylyk, Gus Fairbarn, Jon Balke u.a.) (binge) Mo, Staffel 1 und 2, die tragikomische Geschichte eines Palestinensers in Mexiko (archive) Paul Bleys „Open, to love“, einer der frühen Pianomeilensteine des Labels ECM

    Solche kleinen „revelations“ sind teilweise gedacht als Blick in die nahe Zukunft, wenn es beispielsweise um Alben geht, deren Veröffentlichung naht. So findet sich auf diesem Blog, ein paar Tage zurück, die allererste Besprechung von Jon Balkes „Skrifum“ überhaupt.
    Nun wird aus dem Neuen wird kein Fetisch gemacht, und der „letzte Schrei“ ist in der Regel überbewertet. Also leisten wir uns auch Blicke „vorwärts in die Vergangenheit“ und machen Altes im Sinne von Wiederkehrendem aufmerksam, das uns schlicht viel bedeutet in diesen Tagen: in den „march revelations“ sind es Erinnerungen an David Lynch und Philip Jeck, sowie eine Sternstunde des Jazz, die damals, 1972, durchaus kein kommerzieller Erfolg war. Einmal sass „der Meister“ vor mir, und rückblickend hätte ich gerne gesagt: „Paul, lass uns morgen noch einmal viel länger über „Open, to love“ reden, auch über deine Zeit mit Annette und Carla, und vielleicht hätten wir Tage und Abende lang über sein Leben gesprochen, damals im Bremen, im Sommer 1994 – wie auch immer, Magie lässt sich nicht enträtseln und auf den Punkt bringen. „Open, to love“ zählt zu den Platten, die ich seit meinem Abiturjahr 1973 höre, immer wieder mal, in kürzeren, in längeren Abständen, und die Wahrnehmungen wandeln sich, weil man selber nie zweimal in den gleichen Flusss steigt: die Vorsokratiker waren schon schlaue Füchse!

  • Morvern Callar: Die Musik treibt sie immer weiter

    Im Jahr 1995 erschien der erste Roman des schottischen Autors Alan Warner im Londoner Verlag Jonathan Cape. Der Name der Hauptperson ist auch der Titel: „Morvern Callar“. Die deutsche Übersetzung folgte drei Jahre später unter einem vagen und mutlosen Titel, in den man aber doch das ein oder andere hineininterpretieren kann, wenn man das Buch gelesen hat: „Hin und Weg“. Die Ausgangssituation: Eine junge Frau liegt an Weihnachten auf dem Wohnzimmerboden, die billige Beleuchtung eines Weihnachtsbaumes blinkt unablässig, neben ihr liegt ihr Freund, der sich mit einem Küchenmesser und einem Hackebeil umgebracht hat. Seinen Computer hat er nicht heruntergefahren. Auf dem Bildschirm steht „Read me“. Der Abschiedsbrief wirkt geradezu gut gelaunt oder auch zynisch und nicht wirklich überzeugend. Eine entscheidende Rolle im Buch spielt das druckreife Romanmanuskript, das sich ebenfalls auf dem Computer findet und von dem sich der Freund (der im Buch namenlos bleibt) wünscht, dass es veröffentlicht wird, wofür er eine Liste an Verlagen zusammengestellt hat.

    Schauplätze des Romans sind außer der Wohnung der Supermarkt, in dem Morvern Callar seit ihrer Jugend arbeitet (Fruit and Veg Section), Clubs und Kneipen, der Ort am Hafen und seine hügelige, idyllische Umgebung, das kleine Haus einer Großmutter, eine Hotelanlage mit Pool, das spanische Hinterland usw. Dass „Morvern Callar“ in Großbritannien zu einem Kultbuch avancierte, liegt neben der bemerkenswerten Geschichte vor allem an zahlreichen Musiktiteln und einigen Mixtape-Beschriftungen von Geheimtipp-Format: neuer Ambientsound, Acid Jazz, darkside Hardcore, elektronische Sounds, die in unbekannte Zonen des eigenen Unbewussten vordringen, mystisch, magisch, meditativ, und dazu eine ganze Menge Rave. Das Buch wurde in der Blütezeit der Mixtapes geschrieben. Morvern Callar ist, genau wie ihr verstorbener Freund, musikenthusiastisch: sie steht auf Rave und kennt so gut wie alles, was in Clubs aufgelegt wird; aber auch mit seiner Musik ist sie vertraut. Unterwegs ist sie fast immer mit ihrem Walkman verbunden. Mit Leichtigkeit stellt sie sich Mixtapes zu passenden Unternehmungen zusammen.

    Hier ihre optimale Kassette zum Sonnenbaden:

     A-SEITE:

    Czukay Wobble Liebezeit: Full Circle.
    Zawinul: The Harvest.
    PM Dawn: So on & So on.
    Can: Pauper’s Daughter & I.
    Scritti Politti: A Little Knowledge.
    Neville Brothers: With God On Our Side.
    Robert Calvert: Ejection.
    Hardware: 500 Years.

    B-SEITE:

    Keziah Jones: Free Your Soul.
    Daniel Lanois: Still Water.
    Spirit: Topango Windows.
    John McCormack: Come my Beloved.
    James Chance: Roving Eye.
    Hunters & Collectors: Dog.
    Leisure Process: A Way You’ll Never Be.

    Und hier noch ein paar weitere Musiktitel aus dem Buch:

    FSOL: Room 208. [Das Doppelalbum „Lifeforms“ von The Future Sound of London verzaubert mich zum wiederholten Male von der ersten bis zur letzten Sekunde vollkommen! Ich bin noch weit davon entfernt, das Buch musikalisch „ausgewertet“ zu haben. – M.W.]
    Kraftwerk: Orbital / Computer Love.
    Weather Report: Cucumber Slumber (von der Mysterious-Traveller CD)
    Brian Eno: Here Come The Warm Jets.
    The Can/Ege Bamyasi: Okraschoten: Vitamin C.
    The Can: Future Days.
    Holger Czukay: Persian Love.
    Magazine: Secondhand Daylight.
    Miles Davis: Get Up With It, He loved Him Madly

    Die Musik bedeutet Flucht vor dem tristen Alltag und Lebendigsein zugleich. In Rave-Katakomben erlebt Morvern Callar einen trancehaften Ambientsound, der erst, wie es heißt, in eine träumerische, pulsierende Endlosschleife übergeht und dann in eine ausgedehnte Reise in die Finsternis. Einmal spult Morvern Callar eine Videokassette von Michelangelo Antonionis „The Passenger“ (auf Deutsch „Beruf: Reporter“) zurück. (Vor langer Zeit habe ich auf manafonistas über den Film geschrieben, hier der Link.) In dem Film bricht ein Journalist aus den Bahnen seines ihm langweilig gewordenen Lebens aus und lässt sich auf eine ungewisse neue Existenz ein. Er tauscht seine Identität mit der eines andern. Dies ist auch ein Motiv in „Morvern Callar“. Ein unbeschwertes Leben, befreit von den Mühen der Lohnarbeit, ist eins der zentralen Themen. Die Strukturen in dem kleinen schottischen Ort am Hafen sind festgefahren, eng und historisch gewaltdurchdrungen. Sie lassen wenig Raum für eine individuelle Entfaltung. Die Hauptfigur erzählt kühl und distanziert, als beobachtete sie sich nur selbst. In einem Gespräch erklärt sie, jemand habe ihr gesagt, sie sei autistisch. Die Beziehung zu ihrer engsten Freundin und Supermarktkollegin, der aufgedrehten, lebenslustigen Lanna, ist geprägt von einem Wechselspiel von Distanz und Erfahrung inniger Gemeinschaft im bloßen Beisammensein. Zu keinem Zeitpunkt erfährt Lanna von dem Suizid, der für Morvern Callar eine weitere Traumatisierung durch den Verlust der am nächsten stehenden Person bedeutet. Mehrmals erwähnt sie die Insel, auf der ihre Pflegemutter begraben ist.

    Morvern Callar ist ein Mensch ohne Wurzeln; sie kennt nicht einmal den Ort ihrer Geburt. Im Unterschied zu ihrem finanziell wohlhabenden Freund ist sie kein intellektueller Typ. Er hatte ihr nichts von seinem Manuskript gezeigt und nach seinem Suizid liest sie es nicht, auch wenn es in seinem Abschiedsbrief heißt, er hätte es für sie geschrieben. Sie bleibt mit ihm durch die Musik verbunden. Zu Beginn und zum Ende des Buches hört sie den 32-Minuten-Track „He Loved Him Madly“ von Miles Davis (aus: „Get Up With It“), zu Beginn auf dem Walkman und am Ende auf dem Discman. Eine Veränderung im Medium, aber der Inhalt bleibt konstant. Am Ende des Buches wählt sie überraschend einen Ort für ihr zukünftiges Leben, mit dem sie durch ein nachgebautes Modell bestens vertraut ist und der genauso auf symbolischer Ebene bedeutsam ist wie der Track von Miles Davis. Solche Feinheiten zeigen, wie sorgsam der Roman komponiert ist. Jenseits der Musik, in der Morvern Callar sich am intensivsten erfährt, gelingen ihr seltene zauberhafte Momente. Als sie an der spanischen Küste nachts ins Meer hinausschwimmt, sehr differenziert die verschiedenen Lichter wahrnimmt und das Dunkel und schließlich beim Autokino landet, beobachtet sie, wie das Licht der Leinwand auf den Blättern von Bäumen flimmert. „Ich drehte mich zum Meer hin“, heißt es dann. „An meinen Haaren hörte man es leise tropfen. Ich schloss die Augen dort in der Stille und atmete einfach nur durch. Ich hatte drei Tage nicht geschlafen, um mir nur ja keine Minute von diesem Glück entgehen zu lassen, auf das ein Recht zu haben ich mir nie hätte träumen lassen.“

    Eignet sich der Roman für eine Verfilmung? Ein Amazon-Rezensent des Buches der englischen Originalfassung schrieb am 23. Januar 2000, er hätte vor drei Jahren für eine große Filmgesellschaft ein Gutachten zu dieser Frage verfasst, das er großzügig in seine Bewertung hineinkopiert hat. Zentrale Sätze lauten: „As far as film potential goes, this is a critical stumbling block. Films need to ask questions, then answer them. This novel leaves the reader pondering many unanswered questions.“ Und seine Schlusssequenz: „There are too many lists of different rave records, put in I suspect as a self-conscious sop to a „hip“ readership. Overall however, it is an engrossing read. I particularly liked the descriptions of Scottish binge drinking, and the ghastly Club Med group activities. On a deeper level, there some great symbolic strands which run through the book. To conclude, this is an excellent work of literary fiction, and works well on its own terms. I unreservedly recommend it as a good read. But there is no obvious film premise lurking within its pages, and though it is fun using the novel’s setup as a springboard for possible movies, I don’t think that justifies buying up the rights.“

    Die schottische Filmemacherin Lynne Ramsay, deren Kurzfilm „Gasman“ ich vor einiger Zeit hier einen kleinen Post vorstellte, hat glücklicherweise eine andere Vorstellung als der Amazon-Rezensent davon, was einen gelingenden Film ausmacht. Im Jahr 2002 erschien ihre Verfilmung des Romans, wobei sie den Buchtitel übernahm. In einem Film Fragen zu stellen, um diese dann zu beantworten, liegt Lynne Ramsay fern. Sie macht die Hauptfigur geheimnisvoller, schweigsam und geradezu unnahbar. Trotz teilweise verstörender Bilder gelingt es, die innige Liebe Morvern Callars zu ihrem verstorbenen Freund als roten Faden zu inszenieren und Abwesendes in Szene zu setzen. Die Verbindung wird vor allem durch den Walkman inszeniert; das durchsichtige Kabel und die durchsichtigen In-Ear-Plugs lassen an eine Nabelschnur denken. Morvern Callar ernährt sich von der Musik. Sie ernährt sich darüber hinaus, wie ein Säugling, vor allem von Flüssigkeiten. Auffällig oft trinkt sie Milch, außerdem Wasser und Alkohol. Sie wirft E-Pillen ein, ohne sie anzusehen. Feste Nahrungsmittel stehen kaum auf ihrem Speiseplan. Als sie einmal eine Fertigpizza in den Backofen schiebt, lässt sie sie verbrennen und beschäftigt sich weiter mit dem, was sie gerade tut, obwohl der Timer schrill geläutet hat. Während Morvern Callar im Roman beim Gruppensex darauf bedacht ist, alle zu befriedigen, macht sie im Film den Eindruck, als ob sie sich ernsthaft in jemanden verliebt hat oder verlieben könnte, und als von seiner Seite aus klar ist, dass nichts daraus wird, flüchtet sie, so weit weg wie nur möglich.

    Ein roter Faden des Films ist das Spiel mit der Identität, inszeniert durch ein Spiel mit dem Namen der Hauptfigur. Immer wieder buchstabiert sie ihren Namen. Ihr Name wird falsch ausgesprochen, der Nachname ist Bedeutungsträger auf Spanisch, Korrekturen führen nicht weiter. Wie um ihre wahre Identität zu schützen, trägt Morvern Callar eine Kette mit dem Namen „Jackie“.

    Der Musik, die Lynne Ramsay ausgewählt hat, unterscheidet sich völlig von den Tracks aus dem Roman. Auch im Film ist die Bedeutung der Musik elementar. Immer wieder wird suggeriert, dass wir gerade den Klängen aus dem Walkman lauschen: der Sound ist weniger differenziert und scheppert etwas metallisch. Der Soundtrack erschien im gleichen Jahr wie der Film, 2002, bei Warp Records auf CD (es war die Zeit, in der Audiokassetten als uncool galten). Das ist die Tracklist:

    Can: I Want More
    Aphex Twin: Goon Gumpas
    Boards of Canada: Everything You Do Is a Balloon
    Can: Spoon
    Stereolab: Blue Milk (Edit)
    The Velvet Underground: I’m Sticking With You
    Broadcast: You Can Fall
    Gamelan: Drumming
    Holger Czukay: Cool In the Pool
    Lee ´Scratch´ Perry: Hold Of Death
    Nancy Sinatra and Lee Hazlewood: Some Velvet Morning
    Ween: Japanese Cowboy
    Holger Czukay: Fragrance
    Aphex Twin: Nannou

    Den Schluss des Buches übernimmt Lynne Ramsey nicht. Am Ende bleibt das Gefühl, eine geheimnisvolle Figur, eine traumatisierte junge Frau, auf ihrem Weg einer Transformation eine Zeitlang begleitet zu haben: ins Offene und Ungewisse. Die filmische Interpretation des Romans ist, wenn auch eher nicht für ein Mainstreampublikum, hervorragend gelungen. Und: Mir fällt kein Film ein, dessen Musikauswahl mich mehr begeistert hat.

  • The last excellent jazz album of 2024

    Per „Texas“ Johansson; tenor saxophone, clarinet, contrabass clarinet, cor anglais & flute   / Ståle Storløkken; grand piano, fender rhodes & synths  / Petter Eldh; double bass, electric bass & mpc  / Gard Nilssen; drums & percussion

    Some days ago, I received a batch of recent WeJazz vinyls, and I started listening to „Unionen“, the first album of a stellar set of Nordic Jazzmen with a history. They all are bandleaders, ans theit creative output is quite incredible. Free of self-imposed things called style and genre, you never know what to expect. This album is, from start to end, a stunner, and it quite remarkable to release an album between the years, on Decmeber 6, 2024. You can see these four guys as sonic architects who create a very different sound and atnosphwre with every piece: though free as they are in their playing, they know how to handle dark cinematic moods, grooves in the most open territory, twists and turns after every corner. You can easily get lost in this album. There is no lost moment here, and, while listening, you very soon quit labeling, comparing, or thinking hard. This fantastic album tales you on a journey, on which you see and hear things different every time. Absolutel refined, raw, sensual music. And, word of honour If I wozld have received this album on December 6, ist would‘ve landed in my Top 20 list of last year‘d overflowing harvest. Fact: I listened to the record three times in a row, that good it is! I am not alone with my enthusiasm. To quote Jazztrail:

    „Die unkonventionellen Stimmungen sind es, die Lust auf diese Platte machen, und Stücke wie „Ganska Långt Ut På Vänsterkanten“ und „Tomikron“ veranschaulichen diese Qualität mit ihren kohärenten Klangwelten. Ersteres, das von durchgehenden Folk-Riffs geleitet wird, wird von Kontrabassklarinette und Flöte geprägt und erzeugt eine leidenschaftliche Stimmung, die mit bittersüßen Wendungen die Farben wechselt; letzteres, mit seinem gebürsteten Schlagzeug, groovigen Basslinien und luftigen Melodien, strahlt Charme und Wärme aus.“ Und der Rezensent setzt noch einen drauf: UNIONEN bietet ein meisterhaftes Gleichgewicht zwischen gut ausgearbeiteten Passagen und Ausbrüchen spontaner Kreativität, die neue Wege im modernen Jazz aufzeigen. Das Ergebnis ist eine fesselnde und befreiende Erfahrung, und die Hörer werden wahrscheinlich eine seltsame Befreiung des Geistes erleben. (For further info go the label page or bandcamp site of WeJazz.)

  • Einmal Tamla Motown mit einer melancholischen Note

    Mit 15, 16 war ich ein Fliegendgewicht und flog mehr am Geländer in das Erdgeschoss hinunter als dass ich sanft herunterglitt. Im Wohnzimmer meiner Eltern legte ich 1971 oder so die einzige Single auf, die ich je von Tamla Motown besass, „Just My Imagination (Running Away With Me)“. Der Titel war auch mein Programm in Sachen Verliebtheit, Sex, und Autosex. Das Wort „Knutschen“ war in regem Umlauf, und das Mädchen, das mir den ersten Zungenkuss erlaubte, war einem jungen, aufstrebenden Briefträger versprochen. Ich dachte, ich trumpfe wild auf mit all meinen Besonderheiten, aber ich war ein blutiger Anfänger und schnurrte beim Küssen wie eine Katze. Jene Single der Temptations lief heiss, als ich von Petra Schmidt-Rimpler träumte (ich war so verliebt). Mit ein paar Zeilen auf Tinte und Papier beendete sie den einseitigen Zauber, während in meinem Kopf diese Single nun erstmal ausgespielt hatte. Keinen Song der Soulgeschichte habe ich mehr geliebt als diesen. Es musste 2025 werden, dass ich erstmals die dazugehörige Langspielplatte auf 140 Gramm Vinyl erwarb, in einer feinen Edition. Meine erste Tamla Motown-Platte ever! Und sie macht mir einen Höllenspass (einerseits): eine perfekte Zeitreise, ein afroamerikanisches Lebensgefühl mitten im Herzschlag der Hippie-Ära, das allen Traumata der Zeit trotzte und die Utopie Titel werden liess: „Sky‘s The Limit“. Sieht man sich das Cover in Ruhe an, ist es schon ein bisschen crazy, woll!? Mit dem Charme von Bravo-Starschnitten besiedeln die einzelnen Temptations einen imaginären Raum zwischen Meeressaum und Wolke Nummer 9. Der vorherrschende Farbton ein rostrot gefilterter Sundowner. Das Traurige an diesen Zeitreisen, dass sich neben einer gewissen Berauschtheit (beim Versinken in den alten Klängen) immer auch die gute alte Tante Wehmut breitmacht. Einen Teil des letzte halben Jahres ging ich auf Kindheitssuche in meiner alten Stadt, und das Resultat war die Nachricht vom Tode meines besten Freundes aus jenem alten magischen Revier zwischen den Lebensjahren fünf und zwölf, dessen Grenzlinien die Kohlenhalde, der Weissdornweg, die Harkortstrasse und das Stadion Rote Erde waren. Das war vielleicht traurig, das war vielleicht eine Scheisse! Und kaum suche und finde ich noch ein paar angeschlagene Recken von damals (Zurli und Klaus W.), ist es nun leider, leider, leider nicht mehr an der Zeit, uns aus gefunden Ästen schicke Schwerter zu schnitzen: wir erzählen uns Stories, die ein halbes Jahrhundert und diverse andere Ewigkeiten zurückliegen. Die Zeit ist ein endlos weisses Band, und völllig ausser Rand und Band, wenn das Träumen beginnt. Man weiss, wieviele Millionen Fäden Marcel Proust gesponnen hat! Aber, ähem, um diesen einen Faden zuendezuspinnen: es gibt auf der Langspielplatte der Temptations einen epischen Song, der knapp die Dreizehn-Minuten-Grenze verfehlt, und (weil die Jungs um Norman Whitfield nun mal keine völlig durchgeknallten Romantiker waren) mit scharfkantigen Bläsersätzen, eine Geschichte kompletter Desillusionierung bereithält: „Smiling Faces Sometimes“, und was sich an Dunkelheit und Gemeinheit und Leere dahinter verbergen kann. Aber du tanzt dich da hindurch, weiter und weiter, Wirbel für Wirbel, und noch eine Runde, please!

  • Das schönste Buch des Jahres 2024

    13 cm nehmen meine drei Comics von Craig Thompson im Bücherregal ein. 

    Das dünnste (na ja, 580 Seiten ‚dünn‘) ist das vor 21 Jahren erschienene „Blankets“, eine autobiographische coming of age Geschichte. Thompson berichtet von der christlichen Erziehung durch seine Eltern, vor allem aber davon, wie sich die erste Liebe und der anschließende Kummer anfühlen.

    „Habibi“ ist das dickste (6 cm) und kam 2011 dazu: wieder eine Liebesgeschichte, auch eine Reise zu den gemeinsamen Wurzeln von Islam und Christentum – magischer Realismus aus 1001 Nacht.

    „Ginseng Wurzeln“ wurde im letzten Oktober im Reprodukt Verlag veröffentlicht und kommt auf 5cm. Es handelt über eines der wirksamsten Kräuter der chinesischen Medizin, auch über Klassenunterschiede in den USA, den Handelsbeziehungen nach China, wie Großkonzerne Familienbetriebe verdrängen und vieles mehr. 

    Die Welt des Ginseng wird zu einem Kaninchenbau in dem Craig Thompson selbst tiefe Wurzeln hat. Er wächst in Marathon (Wisconsin) auf, dem Hauptanbaugebiet in den USA. Jede Sommerferien arbeitet er als Kind mit seinen Eltern und Geschwistern auf den Feldern. Umkraut jäten, Steine wegschleppen, usw. Das Geld was übrig bleibt investiert er in Comics – so dass seine Karriere tief im Ginseng Anbau verwurzelt ist. Das er als Erwachsener Ginseng als Medizin gegen eine Wucherung in seinen Händen, die dieselbe Karriere bedroht, einnimmt, unterstreicht die schicksalhafte Bedeutung der Pflanze in seinem Leben.

    „Ginseng Wurzeln“ ist eine Mischung aus Autobiographie und journalistischer Dokumentation. Thompson zeichnet verschiedenste Verästelungen und Verzweigungen nach: Es gibt Interviews mit amerikanischen Ginseng Farmern, Mythen um die Pflanze stehen neben dem Schicksal der Hmong nach den Vietnam Kriegen, neben seinen eigenen Wurzeln und der Entstehung des Buches.

    Und dabei passiert fast alles gleichzeitig, die Erzählung nimmt verschiedene Abzweigungen und Umwege durch dieses Geflecht an Geschichten und Fakten. Begleitet wird der Leser nicht nur von Craig Thompson selbst, sondern oft auch von einer kleinen menschlichen Ginseng Wurzel.

    Dabei halten die wundervollen Bilder die Vielzahl an Themen zusammen, verleihen ihnen zusätzliche erzählerische Tiefe: sehr detaillierte Schwarz-Weiß-Zeichnungen, wobei auch Rot – die Farbe der Ginsengbeeren – eingesetzt wird; immer wieder halten fantastische Elemente Einzug.

    Giseng Wurzeln beeindruckt nicht nur optisch und inhaltlich, vor allem macht es viel Spaß diese Verflechtung von globalen mit persönliche Themen zu lesen.

  • Skrifum

    Let’s call this, like that underrated gem of Leonard Cohen, another „new skin for the old ceremony“. Jon Balke’s fourth solo piano album on ECM is a strangely organic affair, no matter how much science from the laboratory is involved. A llittle machine called „spektrafon“ is extrapolating / filtering (what would be the perfect word here?) sounds from the interior of the grand piano that inspire in subtle ways Jon‘s playing of the keys. Even without a bigger technical understanding of what the heaven‘s going here I‘m immediately thrilled by the game he‘s playing on „Skrifum“. Like from a shadow world, sounds unheard appear in drone-like clothing, on the verge of vanishing or lingering on – you never know. And they are not tapping into the „drone trap“ by sounding especially mysterious or alien. So forget about „new age“ and „old tricks“. Thanks to Jon’s heightened awareness ranging (to follow the meaning of the Icelandic word „Skritum“) from a sharp pencil to a broad brush (staying away from conversational stylings), every track of this adventurously discreet music is a little world of its own. The whole album is a quietly flowing, exciting journey, a ghost story for an old instrument – delivered with a constant sense of wonder. Welcome to your next favourite ritual of deep listening!

    (first version, before the interview)

  • Kleines Verlagsecho

    Lieber Herr Engelbrecht,

    schon sehr lange möchte ich Ihnen zu Ihrer Empfehlung von Liz Moore „Der Gott des Waldes“ schreiben. Das geht aber nicht mal eben so, wenn man überwältigt und zum Nachdenken angeregt ist, wenn ein Kritiker sein „Inneres nach außen“ kehrt, wie ich das nenne. 

    Lieber Herr Engelbrecht, ich bin überwältigt, wie nahbar, persönlich, tiefgehend und glasklar in zwei, drei Sätzen Ihr Urteil ausfällt (weibliche Befreiungsakte), wie viel Sie über sich verraten (Ihre Generation, Leserekord) und dass Sie sogar noch einen Sound hinterlegen (The Who, Live at Leeds). Sie haben auch schöne Kommentare erhalten, wie ich lesen konnte, und dass Sie die Lit.Cologne empfehlen, freut mich sehr.

    Es wird wahr, Liz Moore kommt am 29. März nach Köln und tritt am 30. März auf der Lit.Cologne auf – erinnere ich das richtig, dass Sie in unserem Telefonat sagten, Sie würden sie gern zum Interview treffen? Wenn ja, dann vermittle ich das gern! 

    Nur Gutes Ihnen und allerbesten Dank für diese treffliche, persönliche und überhaupt: wortschöne Empfehlung (und wegen des Covers: Wir diskutierten lange, ob wir das Original übernehmen oder nicht. Wir übernahmen es schließlich.) 

    Ihre T. W.

    (Wer den (bei aller Wertschätzung sehr einfachen) Text, der ein „first take“ war und „ aus der Hüfte“ geschrieben, HIER noch einmal zum Nachlesen, mit Olafs Zuspruch in den Kommentaren. Der Roman erscheint am 20. Februar.)

  • „One Poem, and one Robert“

    Time was away and she was here
    And life no longer what it was,
    The bell was silent in the air
    And all the room one glow because
    Time was away and she was here.

    Ich habe von jemandem gehört, der diese Gedicht von Louis MacNeice zu der Hochzeit eines Freundes las – mit seinen einfachen Bildern, ihrer leise nachhallenden Wucht, hat es auch etwas, das bei Beerdigungen vorgetragen werden könnte. Elementar. Das ging mir heute morgen durch den Kopf, als ich es las, und eine Woche nach der Wiesenbestattung der sterblichen Überreste einer meiner besten Freundinnen.

    Würde ich in Louth leben, wäre ich sicher befreundet mit Alfie und Robert, so herzlich und nachhallend waren unsere drei Begegnungen in London. Wie Hansjörg und Gudrun, so sind auch Robert und Alfie ein so unzertrennliches Paar gewesen, und sind es noch, jetzt, wo Robert Wyatt seinen 80. Geburtstag feierte. Olaf (Ost) sandte mir dazu einen feinen Text, HIER nachzulesen. „Wir sind nicht allein.“ ich verspüre gerade unbändige Lust, Robert Wyatts „Cuckooland“ aufzulegen! Eine andere Art von Seelentrost hält „Tocotronic“ bereit, auf ihrem neuen Album „Golden Years“. Alte Bekannte, und lauter offene Türen in dunklen Zeiten! (m.e.)

  • Die besten Alben der Siebziger Jahre in den Ohren von Norbert Ennen

    „Der Clou solcher Listen ist, das dass sie Landkarten gelebten Lebens ausbreiten, und jedes einzelne Album eine Geschichte erzählt, und manchmal zwei. In solchen Listen tauchen diese privaten Stories nicht auf, dabei sind diese so existenziell wie die Schallplatten selbst. Üblicherweise nennt man das auch den „Soundtrack unseres Lebens.“ (M.E.)

    Norberts erste Liste

    Television – Marquee Moon / Wire – Pink Flag / Wire – Chairs Missing / Wire – 154 / Talking Heads – Fear Of Music / John Cale – Paris 1919 / Devo – Are We Not Men / Specials – Specials /Sex Pistols – Never Mind The Bolocks / Slits – Cut / Pere Ubu – The Modern Dance / Kraftwerk – Die Mensch Maschine / Kraftwerk – Autobahn / Suicide – Suicide / Joy Division – Unknon Pleasures / David Bowie – Station To Station / David Bowie – Low / David Bowie – Heroes / Brian Eno – Another Green World / Brian Eno – Before And After Science / Steve Wonder – Innervisions

    Norbert (Jahrgang 1960) hat mir (Jahrgang 1955) eine Doppelliste gesendet mit seinen Lieblingsalben jenes wilden Jahrzehnts. Die erste Liste umfasst die 20 Alben, die er damals, in der Zeit, von der hier die Rede ist, über alles liebte, die zweite Liste enthält jene 20 Alben, die er erst im nachhinein entdeckte, und die ihren Status für die einsame Insel erst mit Verzögerung erlangten. „Ich war ja noch kein Oberchecker wie du“, bemerkt er in Anspielung an unsren Altersunterschied von fünf Jahren, und tatsächlich fallen fünf Jahre „musiksozialisationstechnisch“ ins Gewicht (Leute, die auf Elvis standen, waren für ich schon „Die Alten“, genauso wie Frank Sinatra-Fans): ich würde nur eine einzige Liste präsentieren, denn ich war damals schon so verrückt nach Musik, dass mir wenig entging, und im perfekten Alter für Prägungen des musikalischen Geschmacks. Natürlich studierte ich seine Liste mit grossem Interesse, und konnte rasch Gemeinsamkeiten und Unterschiede ausfindig machen.

    Norberts zweite Liste

    Can – Ege Bamyasi / Curtis Mayfleld – Curtis / Neu – Neu / Judee Sill – Judee Sill / Annette Peacock – I’m The One / Gil Scott Heron – Pieces Of  A Man / Joni Mitchell – Blue / Funkadelic – Maggot Brain / Dadawah – Peace And Love / Linda Perhacs – Parrallelograms / Cluster – Zuckerzeit / Miles Davis – On The Corner / Upsetters – 14 Backboard Jungle Dub / Nick Drake – Pink Moon / Steve Reich – Music For 18 Musicians / Stooges – Fun House / Alice Coltrane – Journey To Satchinanda / Neil Young – On The Beach / Pharoah Sanders – Deaf Dumb Blind / Herbie Hancock – Sextant

    Kein Jahrzehnt hat mich so beeinflusst wie die Siebziger Jahre, und jede meiner Listen würde wohl überquellen, ichn mache hier nur den Go-Between für Norbert. Vielleicht eins noch: eine Differenz zwischen uns auf den ersten Blick: in seinen zwei Zwanziger-Listen gab es nur eine ECM-Platte, Steve Reichs „Music For 18 Musicans“ von Steve Reich. Würde ich eine Liste posten (und es wäre eine TOP 40-Liste ohne Ranking), wären etliche ECM-Alben dabei, aber nicht diese zugegeben tolle Scheibe von Steve Reich. Es war ein Jahrzehnt des Überflusses an Magie, und in der Parade absoluter persönlicher Favoriten wären diese ECM-Alben wohl dabei – ich nenne nur die Titel: Sart, Ruta and Daitya, Bremen / Lausanne, The Köln Concert, Solstice, Open To Love, Yellow Fields, The Following Morning, What Comes After (oder doch Odyssey), Diary, Whenever I Seem To Be Far Away, Danca des Cabecas, Nan Madol, The Survivors Suite, Return To Forever, und Witchi-Tai-To. Those were the years, my friend.