Album

Beth Gibbons: Lives Outgrown & Wadada Leo Smith / Amina Claudine Myers: Central Park’s Mosaics of Reservoir, Lake, Paths and Gardens

„There‘s a real sense of being repeatedly slammed up against mortality by biology, especially on the salt-scoured „Oceans“. Gibbons sings of ovulation, and exhaustion, in an unusual porous, chalky register, the song ending with her sinking to the (rock) bottom of the sea, „not afraid any more“. If that all sounds bleak, it is. Yet „Lives Outgrown“ is also very beautiful not least when  Gibbons quietly sings „it‘s not that i don‘t wanto to return“, on Floating On A Moment‘s contemplation of death.“ (Victoria Segal, Mojo, June)

Dieses Album von Beth Gibbons, das am 17. Mai erscheint, hat mich kalt erwischt. Dass ich so oft darüber schreibe, hängt damit zusammen, dass es mich nicht loslässt und seltsame Dinge mit mir anstellt. Manche Passagen erinnern mich an ganz alte Klänge, die ich immer noch nicht unterbringen kann. Im Auto lege ich die Cd ein ums andere Mal in den Player, und höre dann immer nur einen Song, etwa auf dem Weg zur Bäckerei. Beth Gibbons is channeling something. Vielleicht sind es Momente, Schwingungen, Atmosphären, aus frühen Alben von Dead Can Dance (das rituelle Element), oder der mythenumwobenen Platte „Les mystères des voix bulgares“. Aber da ist nichts abgekupfert. Ich werde mir verbieten, im Radio das Wort „archaisch“ zu benutzen, wenn ich über „Lives Outgrown“ spreche. Die lyrics sind auch speziell, weil sie erstmal so allerweltsmelancholisch daherkommen, an den Oberflächen, und ich dachte lange, Beth Gibbons kann halt auch ein Telefonbuch in einen Monolog von Sophokles verwandeln. Aber mit der Zeit dringt auch die Semantik zu mir, einzelne Verse ragen wie scharfe Kristalle aus den perkussiven Schleierwelten. Ich glaube auch, dass, so verrückt sich das anhört, sie jedes Lied mit einer subtil anderen Stimmlage vorträgt. So als wäre sie ganz bei sich angekommen, aber nicht im Sinne der Nachwirkungen eines tiefgründigen Wochenendworkshops. No message, no teacher, no easy way out. „Lives Outgrown“ is devastating in the best sense. Und sowas von archaisch.

From the start, all of her works have been collaborative. In the very early days when strolling through small venues and pubs, she often relied on a repertoire of classics, made famous by Nina Simone and Janis Joplin. Later on, in the Portishead years (that perfect trio with Barrow & Utley), the silences in between, and, after the fractured blow away zone of „Third“, out of another nowhere, „Out Of Season“, the album with Paul Webb aka Rustin Man. At last singing Gorecki – all teamwork: the intricacies of her voice, the surrounding sounds, the immaculate productions.  Landscapes she‘s been moving through. The urban darkness. The dystopia, the hometown. The hinterland. Between  „Dummy“ and „Out Of Season“ a archaic sort of melancholia took center stage, strangely uplifting, elevating. All the way through she led a reluctant life, never hurrying for fame. And now, after a career spanning three decades and more, her first proper solo album, and it comes a long as a sort of farewell.

It took her (and her fabulous companions, former Talk Talk drummer Lee Harris, producer and multi-instrumentalist James Ford, and a well-chosen crew, Raven Bush on cello and violin amongst them) ten years from first sketches to final mixes. Beth’s singing now reaching out so far and deep – not heard that vocal range before. Hypermelodic and far, far out at the same time. Restrainment and passion all over the place (clash of polarities). From a distance, vibes of „The Wicker Man“ and ancient incantations . „Lives Outgrown“ is a unique achievement of kindred spirits, the darkest campfire chamber music we may have heard in quite a while. The listener will soon realize that James Ford’s sophisticated, lush arrangements do not simply embellish the songs artistically, but rather add a second, third layer to them, the famous double bottom, counterpoints, subversive vibrations.


The old stuff laid bare: grief, growing old, losses (and what change is gonna come after sleepless nights for too long). The beyond of the everyday. „On the path / With my restless curiosity / Beyond life / Before me …“ The most „progressive“ instruments: a mellotron, an oscillator, and an electric guitar. Floating lines (on the verge of breaking apart). Passages close to catching fire (and catching fire). The glow, the gloom. Under that nearly controlled delivery of Gibbons‘ singing a high wire tension, most of the time. No involvement of cozy nostalgia, of things coming to rest – in spite of the last song, an invocation of nature and peace of mind, like a dream, at least traces of acceptance. What a terrific work. The most honest review: a painted horizon.

Michael Engelbrecht


Wadada Leo Smith & Amina Claudine Myers: Central Park’s Mosaics of Reservoir, Lake, Paths and Gardens


Für dieses Album – Central Park’s Mosaics of Reservoir, Lake, Paths and Gardens – brachte Wadada Leo Smith die Pianistin, Organistin und Sängerin Amina Claudine Myers ins Boot –  auf seinem Album Trumpet (TUM Records)hatte er ihr bereits ein Stück gewidmet; und Andrew Cyrille spielte auf seinem letzten Soloalbum Music Delivery / Percussion (Intakt Records) eines von ihr. Unter Jazzpianist/innen wird die 1942 geborene Myers sehr geschätzt und verehrt, ich fand sogar alte deutsche Jazzmagazine aus den 1980ern mit Berichten über sie, doch abseits von Kenner/innen ist sie heute kaum jemanden überhaupt ein Begriff. Insofern ist es sowohl dem halb so alten Produzenten Sun Chung als auch Wadada ein Anliegen, sie nun in ihren Achtzigern noch einmal ins Bewusstsein zu rufen. Anfang 2025 erscheint bei Red Hook ein Soloalbum von ihr, das im Oktober gemischt wird. 

Sun Chung war acht Jahre Produzent bei ECM Records, und auch bei unzähligen ECM-Aufnahmen, bei denen er nicht selbst die Produzentenposition innehatte, war er an Manfred Eichers Seite anwesend (er hat mir in einem bislang unveröffentlichten zweistündigen Gespräch von diesen „Lehrjahren“ erzählt). Für ECM produzierte er unten anderem eine Reihe exzellenter Alben mit Andrew Cyrille, an denen Bill Frisell und Wadada Leo Smith mitwirkten.

Nach seinem Ausstieg bei ECM startete Sun mit den letzten Studioaufnahmen von Masubumi Kikuchi (1939-2015) aus dem Dezember 2013 (Hanamichi, das bei ECM keinen Platz finden konnte; in einem Jahr wird es eine „Deluxe Edition“ mit mehr Aufnahmen aus dieser letzten Session geben) sein eigenes Label Red Hook Records, benannt nach dem Viertel in Brooklyn, in dem er aufwuchs. Bereits fürs zweite Album Two Centuries — wiederum mit Andrew Cyrille und Wadada Leo Smith — gewann Red Hook vor einem Jahr den Deutschen Jazzpreis. Das Album Refract mit Tyler Gilmore, Jason Moran und Marcus Gilmore war letzte Woche für den Deutschen Jazzpreis nominiert; es wurde im Mai 2022 in der gleichen Woche aufgenommen wie Suns sechste Zusammenarbeit mit Andrew Cyrille (Trio mit Bill Frisell und Kit Downes), welche im Herbst erscheinen und, so viel sei schon verraten, eine recht ungewöhnliche, aber, wie ich finde, enorm faszinierende Musik bieten wird. 

Leider konnte ich bei den Sessions des „Central Park“-Albums mit Wadada und Amina aufgrund des Corona-Einreiseverbots für Nicht-US-Bürger nicht persönlich dabei sein, dafür aber im Herbst 2023 bei den Aufnahmen von Aminas Soloprojekt im Studio „Sear Sound“. Bei der Gelegenheit habe ich ein Auto gemietet und Wadada in New Haven besucht [über einen lustigen Umweg via Keene, New Hampshire, wo ich ein höchst erinnerungswürdiges Konzert von Xiu Xiu besuchte], um ihn zu diesem Duo-Album zu befragen – und bei der Gelegenheit auch gleich Material gefilmt für ein Video zu seinem 17. Streichquartett, das er im Herbst beim London Jazz Festivalpräsentieren wird. Wadada erzählte mir von seinen Inspirationen zu den Stücken, die allesamt mit Orten im Central Park verbunden sind, und ich bemühte mich tags darauf, innerhalb einer kurzen Zeit von knapp zwei Stunden ein paar Aufnahmen von wenigstens einiger dieser Orte zu machen. Immerhin war es ein wunderschöner Herbstsamstag, und da das Wetter an den darauffolgenden Tagen unglaublich schlecht war, konnte ich die ausstehenden Orte nicht mehr audiovisuell einfangen. 

Mein Doku-Portrait zum Album ist also selbst wie ein kleines Jazzstück, kombiniert aus ein paar Videofragmenten, die jemand anderes bei der Studiosession mitgeschnitten hat, aus ein paar (zu wenigen) Herbstbildern aus dem Central Park, einem Gespräch in Wadadas Wohnzimmer und einem kleinen Kommentar von Amina aus dem Interview, das ich im Rahmen der Session ihres Soloalbums mit Sun Chung gefilmt habe. 

Ingo J. Biermann