• Talking Triage – Erik Honoré‘s fantastic album (1)

    The Bone Setter 
    Erik Honoré: live sampling, samples, synthesizer 
    Sidsel Endresen: voice 
    Jan Bang: live sampling 
    Kirke Karja: piano samples 
    Eivind Aarset: guitar and electronics 
    Text from ”Early Care Of Gunshot Wounds” (US Surgeon General’s Office), read by Mary Ann Spiegel 

    In einer Station der Métro. Die Erscheinung dieser Gesichter in der Menge. Blüten auf einem nassen schwarzen Stamm.“ So ungefähr lässt sich der berühmte Dreizeiler von Ezra Pound ins Deutsche übersetzen, der mir nach den Lyrikinterpretation meines Lehrers Dr. Egon Werlich, unlängst neu begegnete, in der Verarbeitung von Erik Honoré, auf seinem dritten Soloalbum „Triage“. Folgendes erzählte er mir dazu (aber ich werde noch eine Geschichte anzufügen haben, die, so hoffe ich, deutlich machen wird, wieso „Triage“ zu meinen fünf Alben des Jahres 2024 zählen wird, neben denen von Beth Gibbons, Shabaka, Fred Hersch, und vielleicht Eric Chenaux) …

    Prague 
    Erik Honoré: samples, live sampling, synthesizer 
    Nils Petter Molvær: trumpet 
    Bjørn Charles Dreyer: guitar 
    Mats Eilertsen: double bass samples 
    Ingar Zach: percussion samples 
    Honoré/Molvær recorded live in Prague by Johnny Skalleberg 

    „Ich betrachte „Triage“ als dritten Teil einer losen Trilogie, die mit den Alben  „Heliographs“  und  „Unrest“ begann. Dieses dritte Album befasst sich mit Themen, die ich schon zuvor erforscht habe. Für mich ist diese Arbeit eine Reise durch dunkle Zeiten, durch Erfahrungen, Atmosphären und Stimmungen in turbulenten Jahren von politischem, sozialem, und persönlichem Aufruhr.  Ich denke, das Album ist ein Versuch, verschiedene Themen  miteinander zu verweben, bestimmte Muster zu erkennen, und das Drängende vom Weniger Drängenden zu trennen.

    Hope Is The Thing With Feathers  
    Erik Honoré: samples, live sampling, synthesizer, synth bass 
    David Toop: flutes, flute samples 
    Jan Bang: live sampling 
    Eivind Aarset: guitar and electronics 
    Mats Eilertsen: double bass 
    Anders Engen: drums 
    Sidsel Endresen: voice samples 
    Basic tracks recorded live at Punkt 2017 by Sven Persson 
    Text by Emily Dickinson, read by Maryan Karwan 

    Das genau ist ja auch die Bedeutung des Wortes „Triage“, dass man hochproblematischen  Dingen gegenüber weniger wichtigen den Vorrang geben muss, vor allem im Angesicht von Chaos. Und dieser thematische Fokus auf Dringlichkeit und Entscheidungsfindung unter schwierigen Umständen… ich denke, das bildet das Rückgrat des Albums, neben der Art und Weise, wie ich die Texte ausgewählt habe.

    Ich habe Literatur als Ausgangspunkt für die Kompositionen von „Triage“ gewählt. Einige dieser Texte sind als Spoken-Word-Passagen auf dem Album geblieben, während andere verschwunden sind, nachdem sie als Inspiration und Auslöser für die Musik gedient hatten. Ezra Pounds Gedicht „In A Station Of The Metro“ ist faszinierend, genauso wie sein Werk und sein turbulentes Leben sind, auch wenn seine Politik später eine schreckliche Wendung zum italienischen Faschismus genommen hat. 

    In A Station Of The Metro 
    Erik Honoré: live sampling, synthesizer, field recordings 
    Sidsel Endresen: voice 
    Arve Henriksen: trumpet 
    Jan Bang: live sampling 
    Kirke Karja: piano samples 
    Text by Ezra Pound, read by Tim Nelson 

    Das Gedicht „In a station of the metro“ ist ein dreizeiliges Meisterwerk, das mir ein perfekter Ausgangspunkt für ein Stück zu sein schien, das eine Vielzahl von scheinbar unverbundenen musikalischen Elementen integriert. Pounds Gedicht fängt die flüchtigen, ephemeren Momente menschlicher Verbundenheit in der belebten städtischen Umgebung einer Pariser Metrostation ein. 

    Auch wenn das Stück keine tatsächlichen Samples aus einer Metrostation enthält, hoffe ich, dass es dennoch die Atmosphäre eines solchen Ortes vermittelt. Die Klanglandschaft ist so aufgebaut, dass sie das mannigfaltige Gefühl der Metro widerspiegelt, diese Mischung aus Chaos und Ordnung, Bewegung und Stille – und das wird nicht zuletzt durch den Einsatz von Sidsel Endresens Stimme und Arve Henriksens Trompete erreicht. 

    Beide, Sidsel und Arve, wurden ursprünglich in ganz anderen Zusammenhängen gesampelt, aber diese Fundstücke wurden nun als zentrale Elemente der Komposition verwendet. So entsteht eine eigne Atmosphäre durch die Verflechtung ganz verschiedener Ebenen, was vielleicht die Art und Weise widerspiegelt, in der Ezra Pounds Gedicht das Alltägliche und das Tiefgründige einander gegenüberstellt.

    (Fortsetzung folgt / To be continued in a silent hour, incl. the English translation)


  • Breaking The Shell

    „Throughout Breaking the Shell, the trio demonstrates a constant fascination with sound and texture, creating a transcendental work of experimental jazz that is as bewildering as it is exhilarating. It’s a must-listen for anyone who seeks fresh vibes in creative music“ (from Jazztrail, and right so)

    „Und ja, ich bin zwar „für Dreharbeiten“ hier, dokumentiere gerade eine Kollaboration von Kit Downes mit Bill Frisell und drei Streichmusiker/innen. Und in gut zwei Wochen zwei Aufnahmen von Sun in New York. Dazwischen kann man das „Urlaub“ nennen… aber ich nenne es eher Reisen zum Fotografieren und Gespräche führen. Und mal schauen, was ich noch filme.“ (Ingo J. Biermann, Notes from Minnesota)

    So weit ihr Gedächtnis auch reicht, es schwingt ein beträchtliches Quantum Unerkundetes bei den Improvisationen mit, die in New York entstanden sind, in der „St. Luke In The Fields“-Kirche.  Über das Üblich-Unvorhersehbare hinaus, das Improvsationen zueigen ist. Wann hat man schon je  Pfeifenorgel, E-Gitarre und Schlagzeug im Zusammenspiel gehört, noch dazu in einer Klangwelt, die sich jeder Idee  von „Groove“ und „Power Trio“ widersetzt!? Für den Pianisten Kit Downes sind Kirchenräume schon fast eine  vertraute  Herausforderung, hat er solch hallfreudige Räumlichkeiten schon des öfteren bespielt, mit psychedelischer  Klanglust und purer Introspektion. Mit Andrew  Cyrille haben Downes und Frisell zudem einen Meister flirrender Perkussion  an ihrer Seite. In dem exzellenten Film „Music For Black Pigeons“ spricht Bill Frisell darüber, dass, aucb nach all den Jahrzehnten, jeder Griff zur Gitarre wie ein neuer Anfang erscheine. Nun kommen bei dieser Geisteshaltung des „steten Anfangens“, die jeden Zen-Schüler auszeichnen würde, auch durchaus routinierte Klänge zustande, aber hier in einer Kirche, die vom Namen eher an eine schottische Wald- und Wiesenkirche erinnert, darf durchaus von „Pionierarbeit der meditativen Sorte“ geprochen werden.

    Feinste Schwingungen sind Programm. Keine vertraute Rhythmik, kein sakrales Liedgut, kein Feuerwerk der Instrumente, die ja, alle für sich genommen, laut und wild auftrumpfen könnten.  „In-Den-Klängen-Aufgehen“, neudeutsch „deep listening“,  genau das ist empfohlen. Akribisch auch die Vorbereitung der Produktion: der Produzent Sun Chung hatte 30 Kirchen und Kapellen auf ihre Tauglichkeit getestet. Bill Frisell und Kit Downes erinnern sich an die Produktion, und ich habe ihre Aussagen Ingos bewegten Bildern entnommen.

    Als wir zu spielen begannen, war alles so einfach“, erinnert sich Bill Frisell. „Und das überraschte mich schon. Diese riesige Orgel nimmt Raum ein, aber zur gleichen Zeit gibt sie mir an der Gitarre und Andrew jede Menge Platz, uns um sie herum oder in sie hinein zu bewegen. Zuerst dachte ich, sie könnte überwältigen, und alles zudecken. Aber so war es nicht. Die Art, wie die Sounds da im Raum wandern, nun, das ist schon das Gegenstück von einem normalen Tonstudio.“

    Und Kit Downes ergänzte: „Bei der Aufnahme musste man sich durch bestimmte  Puzzlestücke navigieren, aber genau das war Teil der Freude bei  diesem Prozess, den perfekten Ort zu finden, an dem etwa das Schlagzeug präsent ist  „voll da“ ist,  und nicht in der Weite des Raums verloren geht. Und ich kann mit der Orgel  ein rhythmisches Empfinden beisteuern, ohne dass es zu wabernd klingt. Es gilt also, mit all diesen Parametern ein wenig zu spielen.“

    „Breaking The Shell“ ist eines dieser Alben, die nicht auf Anhieb fesseln. Dem Unerhörten gilt es Zeit zu geben. Dann finden sich die überraschendsten Entdeckungen, wie die von zwei Hörern, die mich nach der letzten Ausgabe der JazzFacts unabhängig voneinander auf gewisse Momente hinwiesen, in denen der „spirit“ der Doors spürbar gewesen sei. Ein „Ray Manzarek memory vibe“ – und das hörte ich dann auch.*

    HIER Ingos Kurzfilm zum Album, und hier „Sjung Herte Sjung“, das auf einem alten Folksong basierende Stück des Trios, das ich in den JazzFacts spielte. „Breaking The Shell“ ist als LP, CD, und DL verfügbar, und gehört in meine Liste der 10 besten Jazzalben des Jahres.

  • Fasten mit Anna und Chet und Co.

    1 – Visualize yourself in the studio with the band. In meiner, über drei Tage andauernden, kleinen „Höhlenmeditation mit Traumtagebuch“, eine freundliche Umschreibung für eine „Kurzfastenkur“, hörte ich gestern, am ersten Tag, Chet Baker, eine tolle Aufnahme aus dem Hause „Jazz Detective“. Martin Wieland und das Tonstudio Bauer (ECM-Meriten!) hätten den Sound des Trompeters und Sängers Ende der Siebziger Jahre nicht transparenter einfangen können. Dieses Doppelalbum namens „Blue Room“ stelle ich gleich neben die damaligen traumhaften Aufnahmen von Chet Baker für das dänische Label Steeplechase. „Blue Room is one of those recordings that sounds great when you turn up the volume on your amp, close your eyes, and visualize yourself in the studio with the band.“ Sagt Mark Smotroff.

    2 – Ein Paar voller Gegensätze. Vor dieser Zeit des kontrollierten Rückzugs hielt ich nach sechs Alben Ausschau, auf die ich totale Lust verspürte, zwei für jeden Tag. Und nach einer Ersatzplatte, falls ich einmal völlig falsch liegen sollte. Jedes bewusste Fasten sollte mit gezieltem Überfluss einhergehen, aus Gründen der Balance. Wunderbare Musik kreiert so einen „overflow“. Für den ersten Tag bildete „HYbr:ID III“ von Alva Noto den Abschluss, ich schrieb gestern darüber. Alle sechs Werke sollten aus recht verschiedenen Welten stammen (was ich nicht durchweg einhalten konnte), für heute ist allerdings ein ganz spezielles und kontrastreiches Paar vorgesehen – für den späten Abend (und Scotch & Candlelight) liegt „Bleed“ von den Necks parat. Endlich ist die Cd angekommen. Den Download hörte ich schon vor Wochen auf kleinen Lautsprechern, ich erinnere mich an ein Gespür für „decay & breath“, ein Spiel mit „dissolving patterns“: eine Klangstudie, die eher wie geträumt daherkommt, als mit Muskeln in Szene gesetzt.



    3 – Easy listening with twists and turns. Grosse Freude bereitete mir am Vormittag ein echtes Highlight dieses Jahres aus dem Hause „International Anthem Records“, „Mighty Vertebrate“, von der Bassistin Anna Butterss (s. Cover). Eine Prise Lalo Schifrin hier, ein Hauch von Labradford da – kann das gutgehen? Meinen Toast kriegt Anna: ein Hoch auf den heiteren Tiefgang des Post-Rock-Jazz aus Chicago und Umgebung! Das Album brachte mich wahlweise zum Schmunzeln und Schweben – der Groove steht im Mittelpunkt dieser durchweg heiter-tiefsinnigen Musik, und die Methoden, dorthin zu gelangen, sind alles andere als didaktisch. Dermassen entspannt-fesselnd, dass ich das ganze Teil zweimal hintereinander hörte und immer noch nicht genug bekam von diesem „easy deep listening with twists“!

    4 – Die Ersatzplatte. Und für das Finale morgen habe ich aus meinem Archiv zwei Alben hervorgekramt, an denen die Zeit nicht spurlos vorüber gegangen ist: „Distant Hills“ von Oregon (Rosato und Brian sind nicht die einzigen aus unseren Kreisen, die diese Scheibe lieben!) – und „Under The Sun“ vom Human Arts Ensemble. Mit Lester Bowie und einem besonderen, west-östlichen Klangrausch. Bei diesen zwei „Klassikern“ werde ich nicht falsch liegen, und darum wird die „Ersatzplatte“ nicht zum Einsatz kommen, die ich ein Vierteljahrhundert nicht mehr gehört habe: „Lift“ von Volker Kriegel. Aus dem Hause MPS. Ich glaube, jeder , der bis hierhin gelesen hat, wird unter diesen sechs / sieben Alben die eine oder andere neue / alte Lieblingsplatte ausfindig machen.

  • Alva Noto: HYbr:ID III

    Meine kleine Hörgeschichte mit Alva Noto alias Carsten Nicolai begann, als ich seine erste Zusammenarbeit mit Ryuichi Sakamoto hörte. Über viele Jahre hat er eine unverwechselbare Klangsprache geschaffen, die so reichhaltig ist, dass ich bei jedem Album, das mir begegnete, eine Art Vorfreude verspürte. Enttäuscht wurde ich nie. Und, wiederkehrend, die Frage: wie kann eine Musik, wie mit dem Skalpell gefertigt, so tief rühren? Nun also HYbr:ID III. Inspiriert von der uralten Tradition des japanischen Noh-Theaters, mit seiner Kunst kleiner Gesten. Es braucht keine fernöstliche Quellenforschung, um diese Musik auf sich wirken zu lassen, die sich, einmal mehr, kleinsten Motiven verschreibt, und daraus maximale Wirkung schöpft. Jedem vertraut, der einmal an diesen Sounds teilgenommen hat, sie als Rätsel begreift, Verlockung, stillen Tanz. Du kannst dazu, mit Augenzwinkern, deine kleine Teezeremonie beisteuern. Beiliegend, alle Graphiken für jede einzelne Komposition, raumgreifend. Eine Art Bilderbuch.

  • Wilco in Dortmund am 25. Juni 2025

    Wer Lust hat, besorge sich umgehend bei Eventim oder sonstwo die Tickets für Wilco. Dortmund ist meine Heimatstadt, und ich freue mich, wenn ein paar unserer Leser und Flowworker/innen nach Ostwestfalen kommen, am besten einen oder zwei Tage vorher… ich gebe den Animateur im Westfalenpark, bei Strobels, in der Hafenkneipe, in der Bolmke, und sonstwo. Anfang Juni führen die Flaming Lips in Köln ihr grossartiges „Yoshimi“-Album auf: zwei meiner Lieblingsbands in einem Monat erleben zu können – fabelhaft! Wer Dortmunder Stadtluft schnuppern möchte, sei daran erinnert, dass in genau zwei Monaten, am 4.12.24, zwei Tage vor unseren berüchtigten „Nikolauslisten“, Jakob Bro im Domicil spielt, mit Arve Henriksen und Jorge Rossy. Auch da werde ich vor Ort sein. Wahrscheinlich Jakob interviewen zu seinen Brüsseler Konzerten 2024, aus denen ein weiteres Bro-Opus entstehej wird. Wie sieht‘s aus, Norbert, Lorenz. Toni, Anonymus, Michael Z., und Co.?! Bislang war mein Dortmunder Rockkonzert forever and a day, das Doppeltrio von King Crimson in dem Neunzigern (ein heisser Sommertag im Park).

  • A(n) (not so) imaginary radio hour for Steve T.

    Unionen: Unionen (WeJazz) * 
    Steve Tibbetts: Life Of
    Underworld: Strawberry Hotel
    Arild Andersen: Landloper (ECM)

    Laura Cannell: The Rituals of Hildegard Reimagined 
    Hayden Thorpe: Ness 
    Rachel Musson: Lludw A Llwch, Daear A Nef

    Danish String Quartet: Keel Road (ECM)
    Tindersticks: Soft Tissue
    Steve Tibbetts: Life Of
    Downes / Frisell / Cyrille: Breaking The Shell (Red Hook) 

    * Unionen  is: Per „Texas“ Johansson; tenor saxophone, clarinet, contrabass clarinet, cor anglais & flute  / Ståle Størlokken; grand piano, fender rhodes & synths / Petter Eldh; double bass, electric bass & mpc / Gard Nilssen; drums & percussion

  • Deeper, deeper! (A short short story and talking with Stuart Baker in 2006)


    In the woods. The outskirts of the Northern Bavarian Wood. New house with a fireplace. When Joanne asked me, „what is this roots stuff all about“, I looked for the Joker, cause, what, except smartass stuff, could i say? So I chose silence, not the sacred one, the one with staring out of the window: rain, leaves, trees, a gutter, and getting a hard on. The Joker (her name a well-kept secret, her hair golden brown) blew me away, (as did Joanne), she lit a candle: „makes you think“, she said, laughing, and put THINKING on. This was a very long time ago, and two cigarettes before and after kisses leaving wounds. Fuck softer, I kindly asked Joanne, and she delivered, with an edge, of course. The Joker meanwhile blew some dust from shelves, put on a second single, the beginning like an echo of the rain from the window, half-opened. DEEPER & DEEPER, the joker said and sighed, kissing softer, harder, her, me. Forever. So the wind won‘t blow it all away.

    Tropicalia - A Brazilian Revolution in Sound

    Das waren noch Zeiten, als,  gerade mal zwanzig Minuten von meiner Haustür entfernt, Soul Jazz Records einen kleinen Ableger hatte in Dortmund. Alle paar Wochen ging ich da vorbei, und kam mit neuem Stoff aus dem Hauptquartier des Labels von Stuart Baker nach Hause: die Roots Reggae-Fundgrube von Sir Coxsone Dodd schien unerschöpflich, aber es gesellten sich auch brilliante Kompilationen aus Brasilien, der New Yorker-Noise-Szene und anderen historischen Quellen hinzu. Let’s keep rolling: wilder Jazz aus den 60er Jahren, herrlich ungezähmt, aber auch kubanische Ritualtrommeln und  harsche Elektronik aus New Wave-Zeiten. Vielleicht macht dieses kleine Interview (das im Sommer 2006 als „Corsogespräch“ über den Äther ging) Lust auf den einen und anderen Griff ins Archiv. Hier der neueste Streich: mal kein Themenalbum, einfach nur eine heisse Playlist!

    Woran arbeiten sie gerade in ihrem Büro in Soho? 

      „Wir arbeiten an einem Buch mit dem Titel „New York Noise“ – ein Buch über die New Yorker Musik- und Kunstszene der 80er Jahre, mit Bildern von vielen Protagonisten  und mit Texten, etwa  von David Byrne oder  Cindy Sherman.  Und da nähert sich die Deadline, heute muss der komplette Text in die Post gehen!  Zudem beende ich gerade die Begleitexte für unsere zweite  „Tropicalia-Compilation“, die brasilianische Musik in den Siebzigern!  

    In früheren Jahren zogen sie ja länger durch die USA,   im mit der Musik im Blickfeld. Wieso waren sie so scharf auf Raritäten, unabhängig von ihrem komerziellen Wert?

     „Ich war eigentlich besonders an schwarzer amerikanischer Tanzmusik interessiert. Ich weiss gar nicht so genau, woher diese Faszination rührte. Auf jeden Fall war es ein guter Weg, die USA zu erfahren, und nebenher eine Art musikalische Erziehung zu erhalten.“ 

    Sie sagten einmal: man kann dieselbe Faszination für eine Jazzplatte aus den 50er Jahren empfinden wie für ein modernes Tanzalbum. Man muss es nur in der richtigen Weise präsentieren. Können Sie diesen Gedanken etwas ausführen?

     „Es ist meine eigene Erfahrung, dass ich die Musik einer anderen Kultur und einer anderen Zeit genauso genießen kann, wie Musik aus dem heutigen England. Hermann Hesse kann für einen 16-jährigen englischen Jugendlichen  genauso spannend  sein wie ein brandneuer  Roman. Es geht halt   um die Weise, wie man eine Umgebung präsentiert, die sich außerhalb deiner eigenen,  gewohnten   Kultur befindet. Und das ist die Freude daran, eine Plattenfirma wie Soul Jazz Records zu haben.“ 

    Soul Jazz Records ist berühmt geworden für all die immer  noch sprudelnden Veröffentlichungen aus dem legendären Archiv des Studio One  von Sir Coxsone Dodd. Können Sie etwas erzählen von ihrer Beziehung zu Coxsone, und zu ihren Kämpfen gegen die „englische Reggaepolizei“?

     „(lacht) Ja, das ist wahr. Unsere Beziehung  begann vor etwa 10 Jahren – wir sagten ihm, dass wir gerne mit ihm zusammenarbeiten würden,  und  sandten Coxsone eine Sammlung unserer Arbeiten. Er mochte es, daß wir kein reines Reggae-Label waren, sondern alle möglichen Genres von Musik im Programm führten. Nicht zuletzt  Jazz und Soul – diese Musik liebte er sehr!  Er gab erst mal sein Ja fürein Projekt. Ich traf ihn in New York, und  das führte mit der Zeit zu einer Freundschaft – und zu Reisen nach Jamaika. Er gab uns auch grünes Licht für einen Film!  Von da an haben sich die Dinge stetig  weiterentwickelt. Und was die etwas sarkastische Bemerkung von der  „Reggae Polizei“ betrifft –  nun, die Wege, die Soul Jazz Records ging , waren in den frühen Jahren ziemlich gewöhnungsbedürftig für viele Leute. Uns ging es ja darum, Verbindungen aufzuzeigen zwischen Reggae, Soul- und Funkmusik! Und was jetzt ziemlich offensichtlich erscheint, löste vor gut zehn Jahren noch ziemlich viel Befremden aus.  Und viele Leute, die mit ihrer Liebe zum Reggae aufgewachsen waren, hatten da eigene Empfindsamkeiten entwickelt.  Und die richteten sich gegen unsere Vorgehensweisen. Da gab es einige Reibereien, und das war auch ein Generationenproblem!“  ‚

    „Die Reggaemusik hat ja oft ein sehr verklärtes Sonnenschein-Image. Aber die Wahrheit war eine andere: Berühmte Sänger wurden ermordet; Armut machte sich breit, Wohlstand war kaum zu erlangen, wenn man  keinen „dicken Vertrag“ von großen Labels aus England bekam. Wieso, denken Sie, strahlen diese alten Reggaeklänge heute noch für viel eine eigen Magie aus?  Es ging ja um eine Musik, die oft mit alten defekten Maschinen erzeugt wurde….“ 

     „Ich denke nicht, dass Reggae einfach nur eine Emotion verkörpert. Es hängt von der jeweiligen Zeit ab: „Ska“ war sehr turbulent und aufregend, spiegelt die  Unabhängigkeit und die eigenen Wurzeln; in den 70ern wurde der Reggae nicht melancholischer, aber teilweise dunkler.  Wieder spiegelte die Musik die Zeit, aber, wie bei aller Musik, die ich mag, kam hier stets   etwas Rohe und Raues zum Vorschein, etwas Ungeschliffenes. Diese  Reggae ist sehr roh, und das kommt bei den alten Aufnahmen sehr klar zum Ausdruck.“


    Postscriptum: for beginners, this: The Soul Jazz label easily proves how smart they are with excellent Studio One Groups, an almost overwhelming set of killer cuts from bands and singing groups affiliated with Cocsone‘s „University of Reggae.“ His label saw the Jamaican sound go from ska to rocksteady to roots reggae. One disc isn’t enough to tell the whole story, but this collection functions as a enchanting mixtape – a wonderful mix of tracks you might know, tracks you should know, and a couple of wonderful rarities that should have never fallen through the cracks. The sweet harmonies, spiritual roots music, and soul-influenced ballads are all intoxicating. Whether you’re being introduced or getting reacquainted, the vinyl / cd simply named Studio One Groups puts a spell on you overflowing with kindness. 

  • „Ness“



    Es gibt solche Räume der  Natur, zuhauf,  in denen sich die dunkle Historie und die Pracht der natürlichen Welt überlagern, verdrängen. Um einen solchen Raum in Suffolk / Norfolk / East Anglia geht es in der „prose poetry“ von Robert Macfarlane. Keine 100 Seiten lang ist dieses Büchlein, und noch hat sich kein Verlag herzulande an die deutsche Übersetzung getraut. Umso bewundernswerter, dass sich der Musiker und Komponist Hayden Thorpe dieser Arbeit genähert hat, in der sich alte und neue Zeiten spiegeln, Todesgefahr, Bombenbau, kalter Krieg. Die Zeiten haben sich nicht geändert, dort aber ist mittlerweile alles, soweit möglich, „renaturiert“. Einmal mehr, nach W. G. Sebalds „Die Ringe des Saturn“, eine fesselnde Wanderung durch Küstengebiete im Südosten Englands: Geschichtsstunde, Meditation, Songrreigen in einem. Was drohen da alles für Fallen (frömmelnde Erhabenheit, ein Himmel voller Geigen, und mehr) – nur scheint mir Hayden Thorpe in keine einzige getappt zu sein. „Ness“ (LP, CD, DL) ist ein Klassealbum.

    (P.S. „Meine“ Ausgabe der Klanghorizonte im März (Deutschlandfunk, 25.3., 21.05 Uhr) wird – neue „Spielregel“ – nur Alben vorstellen, die zwischen dem August 2024 und April 2025 rauskommen. Also keine „reissues“ (ausser, evtl., einem alten, zeitlosen Stück Musik, das ich im Rahmen von Joe Boyds neuem Buch „And The Rhythm Will Remain“ spiele (aus Kapitel 4, „Latcho Drom“)) – und wenn der Veröffentlichungsrahmen schon so weit gespannt ist, komme ich im März gerne auf solche „in between“-Alben zurück wie Laura Cannells „medieval trips“ oder Haydens „Hauntology“. Die leider nur wenig „airplay“ bekommen. Egal wie weit entfernt die Quellen: alles wird in einen „ocean of sound“ münden, und einer Portion „storytelling“.)

  • the november parallel reading of LATCHO DROM (summary)

    participants so far: M.E., B.W., O.W. (deadline for players, October 15)


    the thematic field: chapter 4 of Joe Boyd‘s book
    (from Ravi Shankar to Sinti/Roma, flamenco, and beyond, starring John McLaughlin, Leonard Cohen and Federico Lorca, Pandith Pran Nath, Silverio Franconetti, Jon Hassell, The Beatles, Bob Dylan, John Coltrane, ECM, and many more)


    click: LATCHO DRUM

    on each november weekend (see parallel reading lines at the end), every player has to answer four questions … at the end, one of us (not including me, the winner of the lottery) will get a package of five excellent albums (cds / vinyl, your choice) related to the far reaching horizons of chapter 4. one of these albums will be part of my next Klanghorizonte evening, in late March 2025)

    questions:

    1. What did really take you by surprise! (Describe one, two, or three „wow“-factors!)
    2. How do you experience to listen to an album you can choose freely from the pages you‘ve been reading?
    3. What is an interesting connection you haven‘t been conscious about before?
    4. How do you respond to Joe Boyd‘s writing (content / style, whatever)?

    reading intervals:

    subchapter 1-12 (pages 283-307 – until nov. 2/3
    subchapter 13-21 (pages 307-330) – until nov. 9/10
    subchapter 22-32 (pages 331-357) – until nov. 16/17
    subchapter 33-45 (pages 357-382) – until nov 23/24

  • King Crimson: Sheltering Skies (Fakten und Erinnerungen)


    27. Juli 1982 an der Cote d‘Azur. King Crimson touren mit dem neu formierten Quartett (Fripp, Belew, Bruford, Levin) durch Europa, meist zusammen mit Roxy Music, und machen Station in Fréjus. Wenn Platten besprochen werden, besteht ein wiederkehrendes Lieblingsmotiv der Musikkritk in dem Ausdruck „dead quiet vinyl“. Nun, diese 200 Gramm-Pressung kommt dem nahe – die komplette Aufnahme ist von roher Direktheit, hyperrealistisch fast, und wer die studiotechnischen Brillianz und Balance der drei Platten des Quartetts kennt, nimmt hier erst mal Adrian Belews Härte 10 auf der elektrischen Gitarre zur Kenntnis, in den ersten dissonanzfreudigen Minuten dieses Doppelalbums. Das klingt und ist knallhart, kein Schmeichler zum Auftakt, und kein Röhrenverstärker würde für mildernde Umstände sorgen. Aber die Ohren adaptieren die Wucht. Das Quartett belegt mit diesem Aufritt einmal mehr, dass King Crimson wohl die einzige Gruppe aus der Ära des Progressiven Rock war, die sich vom Punkvirus äusserst kreativ inspirieren liess. Der Fripp-Faktor! Obwohl seine neuen Kompositionen einmal mehr ausgeklügelt, detailversessen und anspruchsvoll waren, wird hier rein gar nichts notengetreu abgeliefert. Oder makellos reproduziert. Alles kann jederzeit Feuer fangen. Und fängt Feuer. Deswegen macht hier auch eine andere Lieblingsformel der Musikkritik Sinn: play it loud!

    Listening to this late summer evening music
    at the Cote d’Azur on July 27, 1982
    brings back memories.
    The same band, King Crimson,
    a week (or so) later. Nürnberg.

    We were lying on the grass,
    we were bloody everything,
    our faces east, our feet dancing,
    Robert, Tony, Adrian, Bill playing Heartbeat“ – 
    at  that moment, night included,
    eternity (in decay mode),
    the gloom of the moon on your nakedness,
    later, in that odd old hotel,
    windows to the heavens, 
    i can still feel  your heartbeat (in the song),
    and though everything was loss later,
    pictures running on empty,
    in circles through my mind, it doesn‘t matter.

    • Erste Veröffentlichung eines King Crimson-Konzerts aus den 1980er Jahren auf Vinyl  / Erste eigenständige CD-Veröffentlichung des kompletten Konzerts  / Das komplette Konzert aus Fréjus, Frankreich, aufgenommen von den Original Mehrspurbändern von Robert Fripp & Brad Davis.  / Die Aufnahme von ‚The Sheltering Sky‘ aus Cap d’Agde ist ebenfalls enthalten  / Vinyl geschnitten von Jason Mitchell bei Loud Mastering  / Gepresst auf 200-Gramm-Vinyl und präsentiert in einem Gatefold-Sleeve / CD gemastert von Alex R. Mundy bei DGM  / my little essay on Robert Fripp‘s boxset „Exposures“ can be read HERE, and end with that poem above, simply titled „September 1982“