• „A floating lesson“ (Jessica Pratts Langspielplatte „Here In The Pitch“)

    Laura Barton zählt zu meinen Favoritinnen, im Genre der Musikbesprechung. Unlängst erst sang sie ihr Loblied auf Beth Gibbons‘ vielschichtiges Album, und schon etwas länger ist es her, da besprach sie das aktuelle Album von Jessica Pratt, das bei City Slang erschienen ist. Ich habe erst heute ihren Text gelesen, denn ich wollte der Musik völlig unvorbereitet begegnen. Es war dunkel, ich zündete ein Kerzenlicht an, und fand mich im Nu in der so verlockenden wie gepenstischen Liederwelt der mir bislang nur vom Namen bekannten Sängerin wieder. Vom ersten spinnwebartigen Sound bis zum letzten Moment, breitet sich ein immenses Retro-Flair aus. Ich fühlte mich auf einer Zeitreise in meine frühen Zwanziger versetzt, in der das Staunen leicht fiel, wenn Astrud Gilberto mit Stan Getz das Mädchen aus Ipanema besang, oder ein gewisser Nick Drake in pastellgetönter Dunkelheit seinen „Pink Moon“ beschwörte, mit dem sanftesten vorstellbaren Gesumme. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der die Hunde jede Nacht bellten und der Mond immer voll war. Schon nach dem ersten Hören war ich verwundert, wie sehr mich Jessica Pratts Spiel mit alten Texturen einfängt, und stellte mir, hier und da, die klassische Frage der luziden Träumer: Träume ich, oder wache ich?“


    1979 veröffentlichte Joan Didion „White Album“, eine Auswahl von Essays, die Kalifornien am Rande der 1970er Jahre einfingen, als der Traum von der Gegenkultur ins Wanken geriet. „Eine verrückte und verführerische Wirbelspannung baute sich in der Gemeinschaft auf“, so beschrieb sie es. „Die Nervosität machte sich breit. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der die Hunde jede Nacht bellten und der Mond immer voll war.“

    Etwas von Didions Beschreibung findet sich in Jessica Pratts viertem Album Here In The Pitch wieder. Die Sängerin schöpft aus der zwielichtigen Geschichte ihrer Heimat Los Angeles, diesem besonderen Westküstengefühl einer amerikanischen Utopie im Aufbruch, um ihre bisher besten Songs zu schreiben. Geschichten über Sünden und Verbrechen und „böse Unschuld“ liegen unter einer musikalischen Palette von Bossanova und orchestralem 60er-Jahre-Pop. Die Melancholie bewegt sich unterhalb des Glanzes. Süße begräbt die Düsternis. Selbst der Titel des Albums deutet auf eine latente Bösartigkeit hin. Das fragliche „Pech“ bezieht sich sowohl auf absolute Dunkelheit als auch auf Bitumen, jene ölige, schwarze Substanz, die sich, nässend und unheilvoll, irgendwo unter der Erde bildet und an Orten wie den La Brea Teergruben in Los Angeles an die Oberfläche tritt.

    Pratt hat davon gesprochen, dass sie bei der Konzeption dieser Songs von „großen Panoramaklängen träumte, die an das Meer und Kalifornien denken lassen“. Ihr Prüfstein war natürlich Pet Sounds, aber sie suchte die ruhigen Momente dieses Albums ebenso wie seinen barocken Schimmer; die Punkte, an denen man die Stille des Studios hören kann; das Gefühl, „dass man die Hand ausstrecken und die Textur des Klangs in der Luft berühren könnte“.

    Die Textur des Klangs ist ein faszinierender Gedanke in Bezug auf Pratt. Ihre Stimme hatte schon immer eine ganz eigene, außergewöhnliche Zusammensetzung: sauer, körnig, süß und schilfig, wie in einer seltsamen Korrespondenz mit der sie umgebenden Luft. Auf frühen Aufnahmen neigte sie sich in Richtung Karen Dalton oder Joanna Newsom, etwas hoch und einsam. Hier ist ihre Stimme tiefer und müder – bei „Empires Never Know“ erinnert sie fast an die späte Marianne Faithfull. Diese Veränderung war ein bewusster Schritt; Pratt suchte nach einer körperlicheren Art des Gesangs für diese Platte. Das Ergebnis ist eine größere Bandbreite und eine tiefere Art von Dunkelheit.

    Pet Sounds war nicht die einzige Inspiration für Here In The Pitch. Das Eröffnungsstück „Life Is“ schreitet wie eine Phil Spector-Nummer oder „The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore“ von den Walker Brothers herein. Es gibt Bläser und Streicher und Mellotron, einen Gastauftritt von Ryley Walker an der Gitarre, während Pratt von Unsicherheit und halbseitiger Frustration singt und die Kreisförmigkeit ihrer eigenen Gedanken verfolgt, wenn sie feststellt, dass „Time is time and time and time again“.

    Oft funktionieren diese Tracks auf diese Weise, indem sie eine Art songwriterischen Taschenspielertrick vollführen: die Musik bewegt sich hell in eine Richtung, während die Texte in die entgegengesetzte Richtung ziehen – klein, eng, imagistisch. Bei „Better Hate“ zum Beispiel plätschert die Musik in eine Richtung, während sich der Text in die andere Richtung bewegt: „Just a sad case, I’m nobody’s fool“, singt sie, als ob sie nach dem Weg nach San Jose fragen würde. „And you’ve won it all, but your smile’ll be gone/When you’re yesterday’s news“.

    Die Texte dieser neun Lieder zeichnen eine Welt, in der das Licht schwach ist und die Sonne untergeht, während der Herbst vor der Tür steht. Die Figuren sind gefangen und misstrauisch. Es gibt Bettler und Diebe, Ausgangssperren und Flüche, Leben „in der Mitte versunken“ und „Träume von Autobahnen“. Pratts Songwriting mag sich auf träumerische Zweideutigkeit stützen, aber die Themen auf Here In The Pitch fühlen sich vertraut an; eine Art modernistischer Springsteen, an den Pazifik gepresst.

    Dies ist ein kurzes Album, das lange auf sich warten ließ, wie alle Platten von Pratt. Aber bei jeder Veröffentlichung hat man nie das Gefühl, dass ein Musiker um Ideen ringt, sondern eher, dass er ein Meister der Destillation ist. „Ich habe nur versucht, das richtige Gefühl zu finden“, sagt sie über die langsame Reise bis zur Veröffentlichung dieses Albums. Es zeugt von ihrem Talent, dass Pratt auf der Suche nach diesem Gefühl so viel von dem, was in der Vergangenheit für sie funktioniert hat, in Frage gestellt und ihren Sound, ihre Band und ihre eigene, viel geliebte Stimme neu konfiguriert hat.

    Am Ende von Here In The Pitch scheint sie sogar neue Gedanken darüber zu haben, was sie überhaupt hierher geführt hat. Das einzige Instrumentalstück des Albums, „Glances“, kommt als sanftes, mit den Fingern gezupftes Motiv daher, wird von Bläsern überschwemmt und zieht sich dann zurück. Dieses wortlose Zwischenspiel reinigt den Gaumen vor dem Albumabschluss „The Last Year“, einem Stück, das sich als unerwartet hoffnungsvoll erweist, auf eine dunkle Art und Weise. „I think it’s gonna be fine, I think we’re gonna be together“, singt Pratt beschwingt. „Und die Geschichte geht ewig weiter“.

    Mit diesen beiden Tracks weicht diese „verrückte und verführerische Wirbelspannung“. Die Nervosität lässt nach, die Hunde sind ruhig, und sogar der Mond wird schwächer. Wir sind aus dem Spielfeld heraus, scheinen sie zu sagen, lasst uns dem Licht entgegen gehen. (l.b.)

  • Die Stunde der wahren Empfindung

    Nur zwei Flowworker sind richtig grosse Fussballfans, und wir haben es beide geschafft: Lajlas rote Teufel werden der zweiten Liga erhalten bleiben und den Betzbenberg eben nicht in eine kollektive Trauerveranstaltung verwandeln. Und der BVB erreicht unter der Führung des wunderbaren Edin Tercic zum dritten Mal ein Finale der „Champignon-Liga“, nach Ottmar Hitzfeld 1997 und Jürgen Klopp 2013. Dass wir in Wembley verlieren können, ist eingepreist, aber die Fallhöhe wäre lang nicht so hoch sein wie im letzten Mai, als der BVB die Meisterschaft gegen Mainz einen gebrauchten Tag erwischte. Das war ganz bitter, aber die Fans standen hinter dem Team, spendeten Trost zu Tausenden, obwohl das eigene Herz gebrochen war. Und nun also ein kleines Fussballmärchen, nach einer Saison voller mittelgrosser Enttäuschungen: und wir würden es Marco Reus so sehr gönnen, am Ende seines halben Lebens für den BVB endlich die „Krönung“ zu erfahren. Wer das Spiel gestern gesehen hatte, konnte sich mitreissen lassen vom aufopferungsvollen Fight der Jungs und dem coolen taktischen Konzept. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass womöglich weder Hummels noch Schlotterbeck zur EM fahren werden, trotz zweier Weltklasseleistungen gegen Paris. Aber das sind Marginalien. „It was a night when  Borussia Dortmund penned one of the finest chapters in their history, a seemingly unremarkable team – low on stellar names – doing something utterly astonishing.“ (The Guardian) Am 1. Juni fahre ich nach Dortmund, und, selbst wenn es kein grosses Fussballmärchen würde, werden wir hinterher durchs Kreuzviertel ziehen, der Major wird die alte BBC-Kassette aus dem Archiv holen, und die tolle Radiostimme von Joe Strummer moderiert Nina Simone, John Cale, und Joao Bosco. In dem Trubel, egal, ob überschäumend oder ein wenig sentimental, werden wohl auch Gesichter aus alter Zeit auftauchen, und wir werden uns ein paar Stories zu erzählen haben. (Und hier natürlich der beste BVB Podcast, mit Sascha Staat und Kevin Pinnow.)

  • Ein unerschöpfliches, unwiderstehliches Triplealbum

    Flowworkers do have their sweet darlings, musicwise. As you can see at the latests posts in sequence, Lee Perry is following Einstürzende Neubauten is following Pet Shop Boys is following ECM magic from old days. Might be as interesting as predictable what may come next. In regards to archival reissues, the first Gateway album from Abercrombie / Holland / DeJohnette will be reissued on ECM‘s Luminessence vinyl series on May 30 including new photos from that old session, and an essay by Wilco guitar maestro Nels Cline.


    Es gibt, ihr alle kennt ihn, den „heiligen Gral“ in der Musikkritik. Der „heilige Gral“ taucht gerne auf, wenn es um vemeintliche Schlüsselwerke oder lang verschollene Alben geht. Ein durchaus seriöser Musikjournalist sprach beispielsweise einmal vom „heiligen Gral“ von Anthony Braxton, als es um die limitierte Neuauflage seiner Werke auf Arista Records ging, und ich konnte seine Begeisterung nachvollziehen, denn ich besass all diese Platten einmal, eine Serie von zwei Quartetten, einem Duo, und einer Big Band-Scheibe. Grandios. Hört doch nur das Album „New York, Fall 1976“, mit Braxton, Wheeler, Holland und Altschul, und ihr werdet aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Ich sah die Band später zweimal live, in Dortmund und Moers, und mir traten Tränen in die Augen, einmal, und eine Gänsehaut kehrte wieder und wieder. Vom „heiligen Gral“ ist auch immer mal wieder die Rede, und das seit Jahrzehnten, wenn es um Lee Perry geht, einem grossen Zauberer der jamaikanischen Musik. Ein Mann, der sich nur „Reggae Teacher“ nennt, schreibt über „Open The Gate“: „Diese Sammlung wurde 1989 in einer limitierten Auflage von Trojan Records veröffentlicht, zur großen Zufriedenheit der Reggae-Sammler, die zu diesem Zeitpunkt bereits mit himmelhohen Preisen für Perrys Veröffentlichungen konfrontiert waren, von denen viele in sehr limitierten 7″- und 12″-Pressungen aus Jamaika erschienen. Diese seltenen Veröffentlichungen sind die Quelle für diese einzigartige Zusammenstellung, die dem Geist dieses genialen „Verrückten“ entsprungen ist, durchdrungen von Ganja, Rum und exorbitanten Ideen. Es handelt sich um erweiterte Versionen mit einer Länge von 6 bis fast 12 Minuten! Music On Vinyl aus den Niederlanden bringt diese exquisite Auswahl 34 Jahre später wieder auf den Markt gebracht wurde.“ Ich habe mir vor ein paar Tagen No. 1704 zugelegt, und heute einen Lee Perry-Tag eingelegt. „Open The Gate“: Mr. Perry‘s „holy grail“? Don‘t know, but irresistible from start to end. Playground adventures!

  • Ein unheimliches, schönes Doppelalbum


    Jon Dale: „Blixa, there are ‘smaller’ themes there, too, like birds, feathers, wings, the raven, flight; “flighty dreams wisping about”.
    Blixa Bargeld: „Yes, the birds are there.“
    (excerpt from the new Uncut interview)

    Mit Augenzwinkern bringen Blixa Bargeld und seine Weggefährten die Beatles ins Spiel, und manche von ihnen nennen das neue Werk „Yellow“, so wie wir einst „White“ sagten, wenn wir vom „weissen Album“ der Liverpooler Garagenband sprachen. Ausgangspunkt dieses bezaubernden, hypnotischen, einfallsreichen Doppelalbums sind die „Rampen“, wie die Band ihre freien Improvisationen auf Live-Konzerten nennen. Sie haben keinen George Martin, aber, unter sich, genügend ausgefuchste Klangarchitekten für die Post-Produktion. Das Einstürzende bleibt so sehr Merkmal all dieser post-krautigen Kunstlieder, wie der Neubau, will sagen, der geträumte Horizont, der sich hier in all die vermeldeten Verstörungen und Niedergänge unseres Planeten schmuggelt. Blixa kennt seinen Bloch und das Quantum Utopie, das auf dem „gelben Album“ ergreifend und elegisch serviert wird, und nicht selten mit gutem dunklem Humor. „Alien Pop Music“ ist der werte Untertitel, aber, keine Sorge, hier wartet kein Elfenbeinturm auf angestrengtes Sightseeing. Es gibt einen ganz instinktiven, unmittelbaren Zugang zu dieser tollen Musik, mit ihren luftigen wie erhabenen Pulsen, ihren Mantras, Sinnsprüchen, Sprachhexereien, Momenterfindungen, Brüchen und Beschwörungen. Ganz ohne Augenzwinkern wird man „Rampen“ in hundert Jahren neben „Tago Mago“ von Can platzieren, wenn von den aufregendsten Doppelalben aus alter Zeit made in Germany die Sage geht, von Improvisationskunst und ritueller Rockmusik.

  • opening gates


    In den letzten zwei Tagen legte ich mir ein paar neue (alte) Platten zu, einen all time favourite aus dem Hause ECM („Magico“ von Gismonti / Haden / Garbarek, via Discogs, ein „original“ near mint, nach den Jahren mit der LP besass ich ewiglang die CD, jetzt back to the roots, eine absolut audiophile Scheibe, five stars), ein weiteres magisches Triplealbum aus Jamaika (das mir vor zwanzig Jahren abhanden kam und von Music on Vinyl unlängst neu aufgelegt wurde – ein Schnapperl bei a-Musik in Köln namens „Open The Gates“, von Lee Perry and Friends), sowie ein Doppelalbum von Red Hook Records (gar nicht billig), ein kompletter Blindkauf (nie gehört, aber, mit Blick auf die Besetzung, und Jason Morans himmlisches Klavierspiel auf Charles Lloyds neuem Doppelalbum hundertpro kein Reinfall). BlankFor.ms: electronics, tape loops, processing  / Jason Moran: piano / Marcus Gilmore: drums  / Recorded: 26-27 May 2022  / The Bridge Studio, Brooklyn NY  / Engineer: Amon Drum  / Mixing: Rick Kwan / Mastering: Taylor Deupree / All photos: Arianna Tae Cimarosti /Cover Art: Laura Charlton  / Design: Matthew Appleton  / Video: Ingo J. Biermann  / Produced by Sun Chung. Ich bin gespannt. Und die anderen zwei im Bunde: „Magico“ ist eines dieser Alben, das ich immer hören kann, und immer fesselt. Und wenn es nur eines geben darf, ist es mein ECM-Lieblingscove! „Open The Gates“ ist ein Werk aus Perrys „salad days“ im Black Ark Studio, und es hört einfach nicht auf, in seine Schichten, Winkel und Horizonte zu locken. Wie kam ich nur so lange ohne dieses Opus aus?! Ein Stückweit verwandelt man sich beim Hören selber, was kein esoterischer Quatsch ist, sondern leicht nachprüfbare Bewusstseinserweiterung. Ich rede hier von feinen, kleinen Erhellungen, die mintunter grössere Effekte haben als pompöses Erkenntnistamtam! Just put it on, and play it loud! Das gilt natürlich auch für „Magico“ – wer sagt, dass man ECM-Platten leisen hören sollte?!

  • “every dog has his day, and some even have two“


    In memory of Paul Auster. Ab und zu kommen mir kleine Lese- und Filmempfehlungen zu, von guten Bekannten, die wissen, dass zuweilen ein Liam Neeson-Actionfilm mehr Charme hat als ein zerebraler Problemfilm mit hölzernen Dialogen und dem Gewicht der Welt hinter jeder Gardine. Abends zum Abhängen. Die Kumpels wissen auch, dass kluge Hunde jedem Film förderlich sind. Also, „Honest Thief“ war richtig was fürs Herz, und spannend. Und ein cooler Hund kam auch darin vor, oder, besser, ein empathischer Hund. Am besten sind coole und empathische Hunde. Liam spielt darin den „In & Out“-Banditen, eine gar nicht so schlechte Liebesgeschichte ist auch noch dabei. Nicht so ein Quatsch mit Bindungsängsten. Vielleicht kennt ihr „The Art of Racing In The Rain“. Ein Hunderoman von Garth Stein (s.o.), mit Tiefgang und hohem Flauschfaktor. Die Hauptrolle wird von einem philosophischen Hund besetzt, der manche meiner damals im Proseminar hockenden Kommilitonen ziemlich alt aussehen lassen würde – jedenfalls ein ganz feiner Schmöker. Schon anspruchsvoll, wenn man nicht zu anspruchsvoll ist. Manche Menschen, die sich als sehr anspruchsvoll begreifen, haben einen an der Waffel. Paul Auster hat auch mal einen sehr feinen Hunderoman geschrieben, der kam in der seriösen Literaturkritik nicht so gut an wie bei mir. Paul Auster ist nun auch nicht mehr unter uns, mein liebster Auster-Roman war „Mond über Manhattan“. Ds bin ich wahrlich zwischen den Buchdeckeln verschwunden. Aber ich schweife ab. Es ist mal wieder Zeit für Laurie Andersons bewegenden Hundefilm. Und, keine Frage, der allerbeste Hund, der mir zuletzt begegnet ist, heisst „Wiley“ und begleitet John Sugar durch die Strassen von Los Angeles. In der vierten Folge, das kleine Gespräch von Colin Farrell und Amy Ryan im Auto, über das Traurige im Leben, und was es vielleicht sonst noch gibt – what a nice little dialogue! Ich weiss gar nicht mehr: hat Wiley hinten gesessen und den beiden zugehört? Sorry. Ich bin auch nur ein Mensch, und wie mir mein Sancho damals das Rauchen abgewöhnte, ist immer noch ein ganz herrlich auf den Hund gekommener Klassiker der Kurzzeitpsychotherapie.

    22. Juli 2015. Vor Langeoog. „People Take Pictures Of Each Other“. Der letzte Song von Seite Zwei, feine Vinylpressung, 2015 neu in Mono aufgelegt. Mono kann so gut klingen. Die Reise beginnt. Zuhause bleibt alles, was mediale Kommunikation ermöglicht. Nur das Handy für Notfälle (verirrt im Watt) – vier Tage, fünf Nächte, ein Buch. Das Auto bleibt auf dem Festland. Sancho und ich. Das Wetter bewegt sich konstant um 20 Grad herum, der Leuchtturm ist nicht so entlegen, wie ich es am liebsten habe, ich kenne ihn seit meinem achten Lebensjahr. Die Insel ist mir vertraut, überall Dejavues mit jüngeren Ausgaben meines Ichs, und all jenen, die lange fort sind, fast aus dem Sinn. Hier ist die Buchhandlung, in der ich Peter Rühmkorffs Gedichtband „Haltbar bis Ende 1999“ kaufte, dort ist das Cafe, deren Tortengrösse sich wohl seit den ersten Wallungen der Wirtschaftswunderzeit nicht verkleinert hat. Rumtorte, riesig, reine Nostalgie. Die Sandorntorte im Leiss. Pflaumenkuchenorgien. „Banana Split“ war in der alten Bundesrepublik mal so exotisch wie ein afrikanischer Klangtraum von Les Baxter in einem lang versunkenen Amerika. Der erste Stau auf der Fahrt in den Norden. Morgen der erste Sprung in die Wellen. Im Auto laufen The Kinks. Sancho liebt das Autofahren. Er träumt, wie ich herausfand, meistens in Farbe. Ein psychedelischer Hund. Ich würde mich jetzt gerne mit Ray Davies unterhalten. Ich bin träumendes Mitglied der „Village Green Preservation Society“. Es gibt einen kleinen Dschungel auf der Insel, mit Teestube. Die Dämmerung der Kindheit darf nicht verloren gehen.

  • Die gute alte Zeit der Doppelalben

    Mit dem Erscheinen der CD ging die Ära der klassischen Doppelalben zuende. Da waren dann andere Zeitformate möglich. Denke ich an die frühen Jahre, als Doppelalben noch Doppelalben waren, zurück, fallen mir meine persönlichen Favoriten ziemlich schnell ein: No. 1 – The Beatles: The Beatles (das „weisse Album“). No. 2 – The Allman Brothers Band Live At Fillmore East. No. 3 – Keith Jarrett: Staircase (am wenigsten bekannt in dieser Runde, aber mein heissgeliebtes Solopianostudiodoppelalbum). No. 4 wäre wohl Miles Davis‘ Bitches Brew (oder vielleicht doch Aghartha). Jedem mit Schallplatten Grossgewordenen fallen eigene favourites ein. Tommy? Miles Of Aisles? Tusk? Blonde On Blonde? Tales from Topographic Oceans? Get Up With It? Gestern hörte ich zum ersten Mal überhaupt ein Doppelalbum, das eigentlich keines ist, es passt locker auf eine CD. Und es stammt aus der Hochzeit dieses Tonträgers. Aber, zum 25-Jährigen, ist es nun eben als „Doppelalbum“ draussen, ein tolle Pressung von Optimum, Deutschland, ein fantastisch klingendes Remaster (vielleicht klang das Original auch schon toll, keine Ahnung), und vor allen Dingen habe ich auf Anhieb einen Narren gefressen an dieser späten Entdeckung! Wie anders ihre Stimme doch damals klang, so viel höher, und doch so ergreifend (auf andere Art) wie auf Beth Gibbons’ bald erscheinendem Soloalbum! Nun denn. Obwohl ich „Dummy“ von Portishead liebte, ging, wohl wegen meiner Skepsis, wenn das Symphonische zur Bearbeitung des eigenen Werkeverzeichnisses herangezogen wird, das Live-Opus „Roseland NYC Live“ (eine Aufzeichnung vom 24. Juli 1997) komplett an mir vorüber. Welch ein Irrtum. Sagenhafte Musik, von vorne bis hinten, ich habe mir sogar gleich die preiswerte DVD des Konzerts bestellt. Für Beth G., die so lange in diesen Songs gelebt hat gehört dieses Opus wohl zu ihren „lives outgrown“, für mich als neu gewonnenen Lauscher dieser facettenreich-alten Klangsprache, gewiss nicht. Wäre dieses Doppelalbum ein echtes Doppelalbum aus alter Zeit, es wäre mir ratzfatz eingefallen, und hätte seinen Platz in meinen Top Ten gefunden!

  • Die Jazzfakten vom 4. April (revisited)

    Es gibt keine Zeitbeschränkung bei diesem Link. Ich hatte bei der Produktion gute fünf Minuten zu kürzen, was mir selten passiert. Hier waren jedoch schmerzhafte Schnitte nötig: „Killing your sweetest darlings“ heisst hier der besinnliche Spruch dazu . Ein Oton von Fred Hersch fiel raus, und im Zentrum hatte der Tontechniker Martin Hoffmann den Ausschnitt von Alice Coltranes Darbietung von „Africa“ so weit zu kürzen, das man direkt im „finale furioso“ landet, und nicht jene Passage miterlebt, in dem sich das Ende aus einem herrlichen Groove der beteiligen Bassisten herausschälte. Ein anderes Stück Jazzgeschichte zapft Fred Hersch an, wenn er auf seinem Album „Softly as in a morning sunrise“ spielt und, im Gespräch, Sonny Rollins‘ Version aus dem Village Vanguard als Referenz angibt. Dieser Klassiker wird in Kürze neu aufgelegt, et voila, erst die JazzFacts, dann eine Zeitreise mit Mr. Rollins ins Jahr 1957…


    Kahil El‘ Zabar‘s Ethnic Heritage Ensemble: Open Me, … 
    Fred Hersch: Silent, Listening  
    Beitrag 1 von Michael Rüsenberg („Destination Unknown“) 
    A. Kalma
    J. Chiu, M.S. Honer: The Closest Thing To Silence  
    Live At Carnegie Hall (1971) – Impulse (A. Coltrane)
    Shabaka: Perceive Its Beauty, Acknowledge Its Grace 
    Beitrag 2 von Karl Lippegaus  (Jason Weiss: Listenings)
    Fred Hersch: Silent, Listening  
    Charles Lloyd: The Sky Will Be There Tomorrow

  • “A painted horizon“

    „There‘s a real sense of being repeatedly slammed up against mortality by biology, especially on the salt-scoured „Oceans“. Gibbons sings of ovulation, and exhaustion, in an unusual porous, chalky register, the song ending with her sinking to the (rock) bottom of the sea, „not afraid any more“. If that all sounds bleak, it is. Yet „Lives Outgrown“ is also very beautiful not least when  Gibbons quietly sings „it‘s not that i don‘t wanto to return“, on Floating On A Moment‘s contemplation of death.“ (Victoria Segal, Mojo, June)

    From the start, all of her works have been collaborative. In the very early days when strolling through small venues and pubs, she often relied on a repertoire of classics, made famous by Nina Simone and Janis Joplin. Later on, in the Portishead years (that perfect trio with Barrow & Utley), the silences in between, and, after the fractured blow away zone of „Third“, out of another nowhere, „Out Of Season“, the album with Paul Webb aka Rustin Man. At last singing Gorecki – all teamwork: the intricacies of her voice, the surrounding sounds, the immaculate productions.  Landscapes she‘s been moving through. The urban darkness. The dystopia, the hometown. The hinterland. Between  „Dummy“ and „Out Of Season“ a archaic sort of melancholia took center stage, strangely uplifting, elevating. All the way through she led a reluctant life, never hurrying for fame. And now, after a career spanning three decades and more, her first proper solo album, and it comes a long as a sort of farewell.

    It took her (and her fabulous companions, former Talk Talk drummer Lee Harris, producer and multi-instrumentalist James Ford, and a well-chosen crew, Raven Bush on cello and violin amongst them) ten years from first sketches to final mixes. Beth’s singing now reaching out so far and deep – not heard that vocal range before. Hypermelodic and far, far out at the same time. Restrainment and passion all over the place (clash of polarities). From a distance, vibes of „The Wicker Man“ and ancient incantations . „Lives Outgrown“ is a unique achievement of kindred spirits, the darkest campfire chamber music we may have heard in quite a while. The listener will soon realize that James Ford’s sophisticated, lush arrangements do not simply embellish the songs artistically, but rather add a second, third layer to them, the famous double bottom, counterpoints, subversive vibrations.


    The old stuff laid bare: grief, growing old, losses (and what change is gonna come after sleepless nights for too long). The beyond of the everyday. „On the path / With my restless curiosity / Beyond life / Before me …“ The most „progressive“ instruments: a mellotron, an oscillator, and an electric guitar. Floating lines (on the verge of breaking apart). Passages close to catching fire (and catching fire). The glow, the gloom. Under that nearly controlled delivery of Gibbons‘ singing a high wire tension, most of the time. No involvement of cozy nostalgia, of things coming to rest – in spite of the last song, an invocation of nature and peace of mind, like a dream, at least traces of acceptance. What a terrific work. The most honest review: a painted horizon.

  • Magisches Quartett

    “Deine Jazzfakten haben uns viel Geld gekostet. Wir haben alle Platten bestellt, bis auf Ariel Kalma, die hatten wir schon. Und was du hier so über „Lives Outgrown“ schreibst, hat nun dazu geführt, acht Cds und zwei Schallplattenversionen zu bestellen. Wir machen es wie du, das wird unsere Geschenk für ganz bestimmte Freunde. Natürlich kennen wir die Portisheads…. Da können wir schon einschätzen, wer sich auf die Stimme einlassen kann. Du schriebst uns, du hättest ein Interview angefragt, mit Beth, mit dem Talk Talk-Trommler, mit James Ford. Das wird aber schwierig. (….) Solltest du nach England reisen, und Beth treffen, kämen wir gern mit, und ich wäre die stille Fotografin. Braucht man für England ein Visum? Ich könnte bei „Brigitte“ nachfragen, die hätten bestimmt Interesse. (…) “ (S.L.)

    Liebe S, das wäre was! Leider wird Beth definitiv kein Interview geben, auch „Brigitte“ hätte keine Chance. In solchen Verwertungskategorien denkt sie, wie du vermuten kannst, überhaupt nicht. Und je mehr ich in die Musik eindringe, desto klarer wird mir, dass es hier mehr Gründe als bei früheren Alben gibt, keine Interviews zu geben. Die beiden anderen sind angefragt, aber Lukas, der als PR-Mann von Domino so hervorragend bei Julia vorgefühlt hat, ist auch hier aktiv, wies aber noch gestern daraufhin, dass der kleine Zirkel um Beth, Lee Harris vor allem, extrem zögerlich ist, was Öffentlichkeitsarbeit angeht. Und dann werden es höchstens Phoner werden, oder ein Zoom.

    Es ist witzig, dass ihr euch jetzt, nach einem halben Jahr in der Bretagne, wieder meldet, ich hatte euch zuletzt, auch schon wieder länger her, den lange abgelaufenenen Link zu Michael Franks Milestones-Sendung geschickt, und ihr seid soooo begeistert gewesen von Julee Tippetts‘ „Sunset Glow“ von 1975. Nun sind 2023 und 2024 (bald!) zwei britische Milestones hinzugekommen, P.J. Harveys „I Inside The Old Year Dying“ und Beth Gibbons „Lives Outgrown“. Vor ein paar Tagen gab es dann die Lieferung – als Doppelalbum – von Julie Tippetts‘s 1999er Solo „Shadow Puppeteer“, das mir damals entgangen ist, sonst wäre es wieder und wieder in den Klanghorizonten gespielt worden. Betörend. Bis bald, M.