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  • Fünfmal grosse Kriminalliteratur 2025

    • Andreas Pflüger: Kälter (Suhrkamp)
    • Liz Moore: Der Gott des Waldes (C.H. Beck)
    • James Lee Burke: Im Süden (Heyne)
    • Federico Axat: Eine vorbildliche Tochter (btb)
    • Zoran Drvenkar: Asa (Suhrkamp)

    Jeder einzelne dieser Romane hat bei mir einen Leserausch erzeugt. Tiefgang inklusive. Nick Cave liebt James Lee Burke. Kann ich verstehen. Man muss verdammt gut schreiben können, um eine Figur wie Luzy Morgenroth mit Leben zu füllen. Andreas Pflüger schafft das. Ich habe es schon bedauert, Luzy nicht 1989 auf Amrum begegnet zu sein. Ich war da nämlich. Liz Moore hat alle begeistert, denen ich das Buch empfohlen habe. Über James Lee Burke habe ich schon so viel erzählt, diesmal ein „standalone“ aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg, Burkes Ahnenreihe führt direkt in jene Zeit des Grauens.

  • Vom Abseilen eines Engels in Haidhausen

    Meine Hörgeschichte mit Björn Meyer begann lang vor „Provenance“. Schliesslich beteiligte sich seine elektrische Bassgitarre am den Deep-Listening-Trips von Nik Bärtschs „Ronin“. Irgendwann stieg er aus dem Züricher Zen-Funk aus, um eigene Wege zu gehen. Ich überquerte gerade die alte Heimat des Produzenten Manfred Eicher, den Bodensee, als er mich aus München anrief und mir von seiner Produktion von „Provenance“ erzählte. Das hatte was, wie mir der Wind auf dem Deck um die Ohren blies, und Manfred von diesem Werk schwärmte, das bislang nur er selbst und der Toningenieur gehört hatten. Es war ein Spätsommertag des Jahres 2016.

    Ein Jahr später. Kurz vor einem lang vergangenen Nikolausfest, als wir noch gute Freunde waren, anno 2017, spielten Gregor und ich unser Lieblingsspiel: wir listeten unsere liebsten Alben eines Jahrgangs wie eine Hitparade. Damals hatte jeder seine Top 30 zusammengestellt, mit etlichen Überschneidungen. 


    Interessant war auch, als ich vor Jahr und Tag über jene Bestenliste 2017 stolperte, dass mir weit mehr als die Hälfte der Alben nicht mehr so viel bedeutete. Zu welchen würde ich wirklich liebend gern zurückkehren?

    Nun, im November 2025, sieht die Liste wieder anders aus. Mit ganz vorne gelandet ist in meiner „Top Eight of Twenty-Seventeen“ einmal mehr Björn Meyers Soloalbum „Provenance“.  Solomusik für E-Bass und elektrische Bassgitarre. Music to return to ever since!

    Und, wie es ausschaut, erscheint Ende Januar 2026 ein neues Soloalbum des einstigen E-Bassisten von Nik Bärtschs Ronin. Und es kann gut sein, dass ich es in Thomas Loewners JazzFacts Magazin Anfang Februar 2026 vorstellen werde. Im Februar, das nur nebenbei, wird auch ein neues Studioalbum von Bill Callahan erscheinen, „My Days of 58“, auf Drag City natürlich.

    A propos singer / songwriter: der einzige Grund, warum Neil Youngs Hitchhiker nicht mehr dabei ist, liegt darin, dass das Album zwar 2017 erstmals erschien, aber das Resultat einer  Nacht des Jahres 1976 auf seiner kalifornischen Farm war. Also historischer Stoff – ein unfassbar wunderbares Soloalbum mit einer überragenden Aufnahme- und Vinylqualität. David Briggs sat at the controls.

    1. Father John Misty: Pure Comedy (masterpiece with microsdosing lsd)
    2. Ryuichi Sakamoto: async (my number two of all Sakamotos)
    3. The Mountain Goats: Goths (a class of its own – cool AND heartfelt)
    4. Anouar Brahem: Blue Maqam (no words needed)
    5. Björn Meyer: Provenance (deep, ascetic, melodic)
    6. Darren Hayman: Thankful Villages, Vol. 2 (great picture book, too)
    7. Crescent: Resin Pockets (completely under the radar – i love them)
    8. Gas: Narkopop (trance work)

    Und nun eine wahre Geschichte. Eine meiner „klassischen Radiostories“. Aber es gibt immer noch ein paar, die sie nicht kennen. Und ein weiterer Kreis schliesst sich hier.

    In der Nacht von Freitag auf Samstag, am 19. August 2017, tobte ein heftiges Unwetter über dem Münchner Raum. Bäume fielen auf Straßen, Bäume und Äste auf Gehwege, es gab vollgelaufene Keller, Pkws steckten in überschwemmten Straßenunterführungen – das sind nur einige der Einsatzstichworte für die Kräfte der Feuerwehr.

    Niemand nahm körperlich Schaden. Im ganzen Stadtgebiet waren die Einsatzkräfte von Berufsfeuerwehr und Freiwilliger Feuerwehr unterwegs. Durch die Integrierte Leitstelle München wurden zusätzlich zu den Einsätzen im Stadtgebiet noch etwa 80 Einsätze für den Landkreis München disponiert. Das Unwetter beschädigte zudem eine Engelsfigur in Haidhausen. Die Feuerwehr sicherte die Figur auf dem 45-Meter hohen Kirchturm und seilte sie ab.

    In seinem Auto musste auch der Produzent Manfred Eicher ausharren, die Wassermassen zwangen ihn dazu, mehr als eine Stunde auf den Rettungsdienst zu warten. Immerhin funktionierte das Autoradio noch, und so schaltete er gegen 1.15 Uhr den Deutschlandfunk ein. Und so misslich seine Lage war, er musste wohl innerlich schmunzeln, als er rasch eine vertraute Radiostimme erkannte, und nur wenige Minuten vergingen, bis er, in den „Klanghorizonten“, der kleinen Premiere eines Musikstückes aus Björn Meyers Album „Provenance“ lauschte.

  • Through This Fire Across From Peter Balkan (full cassette playback)

    John Darnielle’s penchant for a concept album has already produced the likes of Beat the Champ (about wrestling), Bleed Out (action movies) and Goths (alternative music in his teens). Now, the 23rd Mountain Goats album tackles – but of course – the story of a small crew shipwrecked on a desert island in which the surviving members, including titular captain Peter Balkan, are plagued by “diminishing resources and apocalyptic visions”.

    „At this moment in time it is my No. 12 of my favourite albums in 2025.. And it‘s a grower.“ (m.e.)


    Nachdem ihm der Titel im Traum eingefallen war, hat Darnielle sich ganz schön ins Zeug gelegt, um all das zum Leben zu erwecken. Die Instrumentierung umfasst Klavier, Holzblasinstrumente, Streicher, Blechblasinstrumente und Harfe, und die Band bedient sich einer Palette von Genres, darunter Elektronik, symphonische Balladen, Prog und Powerpop. Das Ergebnis ähnelt ein wenig dem Soundtrack zu einem imaginären Musical, da die Songs einen narrativen Bogen spannen – ein Eindruck, der durch die Mitwirkung von Lin-Manuel Miranda als Backgroundsänger noch verstärkt wird.

    Die Crew sticht fröhlich in See in dem schönen „Fishing Boat“ („frei wie die Brandung“) und stößt in „Cold at Night“ („am dritten Tag sagtest du, du fühlst dich krank“) auf Probleme. Darnielle ruft trotzig „Niemand hier wird allein sterben“ in dem hämmernden „Dawn of Revelation“ und schreibt in „Broken to Begin With“ gewissermaßen ihr Epitaph.

    Dennoch ist dies kein düsteres Album. Es ist aufwendig produziert, voller Galgenhumor und – wie so viele von Darnielles besten Werken – offenbart es unter der Oberfläche tiefere Bedeutungsebenen über Menschlichkeit, Zusammengehörigkeit und die kostbaren Freuden des Lebens.

    Dave Simpson, The Guardian

  • breaking news


    Es kann sich nur um Stunden, Tage, Wochen handeln, dann wird, mit der uneingeschränkten Empfehlung von Olaf und mir, Bernhard Scherber den Kreis der Flussarbeiter erweitern. Da nun Herr Westfeld mit an Bord war, und bei Konzerten der Necks (Foto) sowieso viele mit unseren „Wellenlängen“ rumlaufen, war das ratzfatz eine ganz klare Sache: vier Augen sehen mehr als zwei, und allein schon ein Mitschnitt unseres small talks im Musikbunker hätte den Stoff geliefert für ein Dutzend Kurzgeschichten. Und Sympathie ist mehr als ein „weicher Faktor“!

  • Percussion Paradise

    “ist das Cover von Niagara von Charles Wilp gestaltet worden, kurz nach seinem berühmten Werbespot für Afri-Cola? (Oder war es für LSD?)“ (youtube comment)

    „The use of electronics and processing throughout the record adds a subtle shimmer. Echo, delay and saturation are used not to distance the listener but to deepen the atmosphere. These effects serve as a kind of golden thread, binding the natural and synthetic, the ancient and the modern, the individual and the collective. Like in Kintsugi, what might have remained separate is made whole, its joins not hidden but celebrated.“ (bandcamp on Simon Popp: Trio)

    Damals, als wir jung und schön waren, und manche noch gar nicht auf der Welt, gab es eine drums only-Platte, die mich jedesmal in wirbelnde Strudel und Rhythmusgewitter hineinzig und über zweimal zwanzig Minuten nicht mehr losliess. Es war das Projekt des Drummers Klaus Weiss, der auch zu Klaus Doldingers Zirkeln zählte. Unter seiner Regie und dem Namen Niagara enstanden drei Alben, und das erste Opus höre ich heute noch gerne: wundervoll melodische Trommelmusik voller raffinierter Brüche, und trancetechnisch unwiderstehlich.

    Was für ein Cover! Aber wieviele reine Perkussionsalben haben uns über die Zeiten in ihren Bann gezogen: bei „Niagara“ blieb es bei diesem ersten grossen Streich, bei dem übrigens ein gewisser Udo Lindenberg mittrommelte – die beiden Nachfolger waren fusion der langweiligsten Art. Gerade die Neue Zeitgenössische Klassik bietet reine Perkussionsensembles in grosser Zahl, aber gerade bei diesem Genre der allgegenwärtigen Trommelei bleibt die grosse Frage: wie tief geht solche Musik auf Dauer, ohne zu ermüden?

    Pierre Favres „Singing Drums“ etwa sind grosse Klasse! Die Gefahr sich schnell abnutzender Effekte ist natürlich gross – der Mensch braucht kein showdrumming. Nun hat sich das Simon Popp Trio aufgemacht, ein reines Perkussionsalbum zu fabrizieren: drei Schlagwerker, jeder Track so kurz wie eine Single. Der erste Eindruck ist: famose Musik. Minimalistisch, nie geschwätzig, ruhig inszeniert. „Trio“ heisst es schlicht. Die Sache mit der Langzeitwirkung wird sich noch weisen müssen. Aber eines haben Simon und seine Gefährten schon mal realisiert: eine wunderbare Luftigkeit! HIER eine stimmlich wie sprachlich gewitzte Besprechung des Vorgängeralbums „Bliss“ von Kristin Amme!

  • “Aftermath“ & „Rubber Soul“ – ein Hoch auf Norman Maslov

    Norman M. ist nahezu der einige „Talking Head“, dessen Videos ich mir sehr gerne und regelmässig ansehe. Ich prüfe kurz, ob mich das Thema interssiert, and then I let it flow. Letzte Woche entdeckte ich durch ihn eine alte Scheibe von Tim Buckley, „Greetings From L.A.“ aus dem Jahre 1972. Olaf und ich hörten neulich in meiner Höhle eine Schallplattenseite von Tims „Happy Sad“ und wir waren unisono verzaubert. Norman hat eine ruhige sehr angenehme Art zu erzählen, verbindet klug Musikhistorie und Privates, ohne jede Art von Aufgesetztsein.

    Ich bin gespannt, was er zu den beiden Alben der Beatles und Stones erzählt, und poste sein Video, ohne es zuvor angesehen zu haben, I trust this guy! Je älter man wird, desto mehr bleibt man bei den Platte, oder kehrt zu ihnen zurück, die nicht aufhören, uns an andere Orte zu transportieren. Als Teenager war „Aftemath“ eine meiner ersten Platte. Der Musikkriiker in mir war schon damals schon hellwach:) – ich liebte etliche Songs, einige fand ich leider etwas mau. Mit 10, 111 oder so, Rubber Soul ist grossartig, „bis auf wenige Songs“ – hören wir, was Mazzy dazu erzählt! Ich hoffe er sieht das anders, dann sind wir im Gespräch:)… (m.e.)

  • Die besten Filme des Jahres, die ich nicht gesehen habe (ranked)

    „Musik hat eine seltsam emotionale Kraft“, schreibt Bettina Dunkel, und fährt fort: „Ein Song kann glücklich und traurig zugleich machen, kann in vergangene Zeiten zurückführen und ein Hörerlebnis zaubern, das niemand sonst auf dieser Welt empfindet – weil es von persönlichen Erinnerungen und Gefühlen geprägt ist. Kein Wunder also, dass manche Menschen alles dafür geben würden, ihre lang aufgelöste Lieblingsband noch einmal live zu hören. So wie Charles, die Hauptfigur der bittersüßen Tragikomödie „The Ballad of Wallis Island“.“

    Es ist leicht, die Liste meiner Lieblingskinofilme des Jahres zu benennen, als da wären „One Battle After Another“ (endlich gesehen, Olaf, auf supergrosser Leinwand!), „“Köln 75“ (eine fein Hommage an eine alte Zeit (die Mitt1970er), und ein paar besondere Typen, und ein tolles Album), „A House Full Of Dynamite“, Christian Petzolds neuen Film. Und, nicht zu vergessen, „The Brutalist“. Der Favorit von allen: das Dylan-Epos „A Complete Unknown“. All diese Filme haben mich mitgerissen, an den Stuhl gefesselt, berührt und / oder tief beeindruckt. Aber wie ist es mit den Filmen, die mir entgangen sind? Ich sah Trailer, huschte über oder verschlang Besprechungen… und here it comes, the strange list of the best movies of 2025 I didn‘t see. (Ich denke, „I‘m still here“ ist der Film hier, auf den sich alle Flussarbeiter einigen könnten, eine Reise in ein von der Junta leidvoll beherrschtes Brasilien! Wo kann ich ihn nur sehen?! Bei dem Plakat könnte man an eine Latino-Version der Waltons denken, aber Freunde des Südens, der Film wird unser Herz brechen.

    1. The Ballad of Wallis Island 
    2. I‘m Still Here 
    3. Steve
    4. When The Light Breaks
    5. Tornado
    6. The Seed Of The Sacred Fig
    7. In die Sonne schauen

    Richard Williams über THE BALLAD OF WALLIS ISLAND (amazon prime, bluray): „Anscheinend hat der Film unter der Regie von James Griffiths etwas mehr als eineinhalb Millionen Dollar gekostet. Es sollte viel mehr Filme dieser Art geben: bescheiden in Umfang und Ausmaß, formal ungewagt, aber intelligent, witzig und gut gemacht, ohne sich an eine bestimmte Nische zu richten.“

  • Buddenbrooks & Co.

    (English version here!)

    Sagt einem Thomas Mann heute noch etwas? Soll man diese alten Kamellen wirklich noch lesen? 

    Die Weimarer Zeit und besonders ihre Kabarettszene interessiert mich seit je, damals wie heute. Neben Altmeister Tucholsky war Klaus Mann einer der wichtigen Impulsgeber. Seinen Roman „Mephisto“, 1936 im Exil geschrieben, musste ich schon der Verfilmung von 1981 wegen lesen (Regie: István Szabó; Oscar für „Best Foreign-Language Film“; Brandauer spielte darin wie immer Brandauer). In den Cafés rund um die Uni war der Film ein Dauerthema, den wir immer wieder diskutiert haben — da der Roman ja als „Schlüsselroman“ galt, erzeugte er jede Menge „Wer-ist-wer?“-Spekulationen, und man stieß auf Namen, die kaum noch jemand unterzubringen wusste. Ich, als an Kabarettgeschichte Interessierter, kannte etliche der Namen. Über die historischen Unebenheiten des Romans sahen wir damals großzügig hinweg; ein lesenswertes Buch über einen Karrieristen, der sich selbst in die Falle geht, ist „Mephisto“ allemal.

    Und da ich dann schon bei Klaus Mann war, mussten „Treffpunkt im Unendlichen“ und „Der Wendepunkt“ folgen; letzteres Buch ist unverzichtbare Lektüre, wenn man sich für die politische und gesellschaftliche Situation der Ära interessiert — es ist erschreckend aktuell, aber weniger klatschsüchtig als Florian Illies (dem es in seinen Büchern wohl mehr auf den Unterhaltungsfaktor ankommt). 

    Mit Klaus war ich dann schon mal im Kraftfeld der Mann-Familie. Man kommt schwer heraus, wenn man mal drin ist. Denn auch „Der Untertan“ von Heinrich Mann erwies sich als fesselnde Entdeckung — und das, obwohl wir den auch schon Jahre vorher im Deutschunterricht besprochen hatten. Aber da kam es wie meist in solchen Fällen: Literaturexegesen im Schulunterricht sind eine ziemlich sichere Methode, einem auch die besten Werke zu vermiesen. Die Wiederentdeckung jedoch belehrte mich eines Besseren: „Der Untertan“ ist eine großartige Geschichte. (Es gibt auch eine meisterliche Verfilmung von 1951 in der Regie von Wolfgang Staudte.)

    Und so bin ich dann letzten Endes auch auf den Herrn Papa selbst gestoßen — keine Ahnung, in der wievielten Auflage dieses Werk von 1901 inzwischen erschienen ist, aber dies hier ist die Taschenbuchausgabe, die ich noch immer im Regal habe:

    Auch diesen Roman muss ich als Student zu lesen begonnen haben. Da bin ich mir ziemlich sicher, denn ich kann mich daran erinnern, dass es mir auf die Nerven ging, wie Thomas Mann jeden Kerzenhalter und jeden Kniff in jedem Sofakissen bis hinein in winzigste Details beschreibt. Ob ich die 759 Seiten damals bis zu Ende durchgelesen habe? Ganz ehrlich, ich weiß es nicht mehr.

    Nun wollte aber der Zufall, dass ich vor einiger Zeit anlässlich Thomas Manns 150. Geburtstag in der ARD-Mediathek auf den Dreiteiler Die Manns — Ein Jahrhundertroman (2001, Trailer) von Heinrich Breloer und Horst Königstein stieß. Wie diese beiden das auch in anderen Produktionen schon gemacht hatten, kombinieren sie in dieser (wie man heute sagen würde) „Miniserie“ nachgespielte, manchmal auch fiktionale, Szenen mit Originaldokumenten aus dem Leben der erweiterten Mann-Familie. Da kommen sie alle vor, Thomas, Klaus, Heinrich, Erika, Golo, Katia, Monika, Elisabeth, Frido, die Pringsheims, Gustaf Gründgens (alias Mephisto), kurz: der ganze Clan, das Ganze in exzellenter Besetzung, und ein spannendes Stück Zeitgeschichte sowieso.

    Dies wiederum brachte mich zu „Deutsche Hörer!“, der von Mely Kiyak herausgegebenen vollständigen Sammlung der Radioansprachen, die Thomas Mann ab 1941 von Los Angeles aus via BBC nach Deutschland schickte.

    Unbedingt lesenswert. Man staunt, mit welcher Wucht, mit welcher Präzision und gleichzeitig mit welcher Hellsichtigkeit Thomas Mann die Naziherrschaft zersägt. Da bleibt kein Stein auf dem anderen. (Heißer Tipp nur: das Ganze nicht in einem Rutsch durchlesen, sondern eine Ansprache pro Tag.)

    Thomas Mann also doch. Aber noch hatte ich die unendlich vielen, nervenden Kniffe in den Sofakissen nicht vergessen. Waren die nicht immer noch im Weg?

    Es kommt darauf an, wie man die Geschichte liest. Diesmal habe ich „Buddenbrooks“ wirklich von der ersten bis zur letzten Seite gelesen, und nach anfänglicher Widerborstigkeit der Story bin ich zunehmend in ihr versunken. Der Untertitel „Verfall einer Familie“ zeigt, was zu erwarten steht: Es geht um eine zunächst wohlhabende Lübecker Kaufmannsfamilie und ihren sich über vier Generationen hinziehenden Untergang, beginnend 1835, bis die Geschichte 1877 in Pleite, Krankheit und Tod endet. Thomas Mann schrieb vier Jahre an dem Buch. Er kannte das Milieu, über das er spricht. Natürlich ist es keine Dokumentation, aber etliche der Personen haben reale Vorbilder; in Teilaspekten der Figur Hanno taucht Thomas Mann sogar selbst auf.

    Die mir vorliegende Fassung folgt in Rechtschreibung und Grammatik den Regeln des Jahres 1901, und auch, wenn dies anfangs ein wenig irritiert, erweist es sich letztlich doch als richtig. 

    Auch ohne den Untertitel ahnt man recht bald, dass hier keine Erfolgsgeschichte erzählt wird. An der Oberfläche erfährt man eine Menge über die Lebensverhältnisse der Menschen jener Jahre, man lernt ihre Gewohnheiten, ihre Schicksale, ihr Handeln, ihre (meist kleinen) Erfolge kennen, ebenso auch ihr Versagen im Rahmen der Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung standen. Thomas Mann beschreibt sie ebenso liebevoll wie meisterlich; nach einer Weile meint man sogar ihre Stimmen zu hören. 

    Liest man die Marotten, mit denen Thomas Mann seine Akteure ausstattet, hat man manchmal schon fast den Eindruck, ein modernes Drehbuch zu lesen: Er beherrschte schon damals die Tricks, seine Personen leitmotivisch wiedererkennbar zu machen, sei es durch Dialekte („Ick heww da nu ’naug von!“), bestimmte Redewendungen (“ … sei glöcklich, du gutes Kend“, zu welcher stets auch ein „knallender Kuss auf die Stirn“ appliziert wird. So wird jede Figur mit individuellen Gewohnheiten oder Eigenarten ihres Auftretens ausgestattet, etwa Antonie (Tony), die bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten immer wieder ihr Beharren darauf zur Schau stellt, „kein dummes Ding mehr“ zu sein und zu wissen, was sie „vom Leben zu halten“ habe. Die geradezu satirische Schilderung einer Lübecker Ratsversammlung könnte aus dem heutigen Bundestag stammen. Und doch fehlt jede Häme; Mann macht sich über keinen seiner Charaktere lustig, immer lässt er ihnen einen letzten Rest Würde.  

    Thomas Mann bedient die volle Bandbreite zwischen hochkomischen und todtraurigen Ereignissen, Erfolgen und Fehlschlägen; sein Gespür für das richtige Timing ist bewundernswert. Die meisten der geschilderten Ereignisse kann man herannahen sehen, ihre unvermeidlichen Konsequenzen folgen dann glashart, und der Autor geht mit seinen Charakteren alles andere als schonend um. Allerdings auch nicht mit dem Leser — insbesondere seine Schilderungen von Krankheits- oder Todesfällen gehen nicht selten bis an den Rand des Erträglichen.

    Das heißt nicht, dass es keine Schwerpunkte gibt. Thomas Mann hat auch Lieblinge, denen er größere Aufmerksamkeit widmet als anderen — Tony sei als Beispiel genannt, ebenso das verhinderte musikalische Wunderkind Hanno Buddenbrook, an dessen Beispiel Mann in einer Art Exkurs das elende Schulsystem der damaligen Zeit schildert. (Tatsächlich spricht Thomas Mann in diesen Abschnitten offenkundig über seine eigene Schulzeit, die purer Horror gewesen sein muss. Diese fallen ein wenig aus dem Rahmen der Handlung, und doch kann man diese Episoden nicht weglassen, ohne dass der Geschichte ein wichtiger Farbton fehlen würde.) 

    Aber dies alles ist eigentlich noch nicht das Entscheidende; es ist nicht das, was diesen Roman und seinen Autor so herausragend macht. Thomas Mann geht es in seinem Schreiben nicht primär darum, wie man heute sagen würde, „Content“ zu liefern. Das tut er mit seinem breiten Bildungsspektrum sowieso, ganz nebenbei.

    Das Geheimnis liegt in Thomas Manns Schreibstil und der Art, wie er einem Architekten gleich einen Bauplan verfolgt. Ich habe während des Lesens zunehmend an den Aufbau einer Mahler- oder Bruckner-Sinfonie denken müssen. Da könnte man leicht versucht sein, zu sagen: Das hättste auch einfacher haben können, zum Beispiel als Klaviersonate oder als Streichquartett. Aber es geht eben nicht nur darum, ein paar Melodien passend zusammenzustellen, sondern eine Sinfonie arbeitet Leitmotive, Melodien, Stimmen, Variationen, Klangfarben, Tempi und Dynamikabstufungen aus bis in die letzte Verzweigung. Erst aus diesem Zusammenspiel ergibt sich das Gesamtbild. Nichts darf fehlen, auch wenn man den Sinn vielleicht nicht sofort erkennt. 

    Eine Sinfonie in dieser Weise zu hören erfordert geistige Mitarbeit, aber die zahlt sich aus. Auf das Tempo und den langen Atem der „Buddenbrooks“ muss man sich einlassen wollen. Die Zeit muss man sich nehmen. Diese Geschichte ist ein sinfonisches Gesamtkunstwerk; jeder Satz hat hier seine Bedeutung und seinen Sinn, aber er erschließt sich erst in der Gesamtschau. „Buddenbrooks“ ist ein klingender Kosmos.

    Man ist das heute vielleicht nicht mehr gewohnt. Ein Grund mehr, in diese Geschichte einzutauchen. Man kommt als veränderter Leser wieder heraus.

  • First Moonbeams of Adulthood

    Neues von Claypipe Music, London. Mit einem Groove, der an Cymande erinnert, und einem E-Gitarren-Motiv, das der goldenen Ära von ECM würdig ist, schimmert „First Moonbeams of Adulthood“ mit vielschichtigen Trompeten, einem Streicherteppich und dem Auftrieb des Sopransaxophons. Subtile Veränderungen in der Textur, gebrochene Melodien und geflüsterte Vocals führen das Stück durch eine Atmosphäre, die sowohl aufregend als auch zart wirkt. Es bietet einen leuchtenden ersten Einblick in Andrew Wasylyks mit Spannung erwartetes neues Album, das im Frühjahr 2026 erscheinen soll.

    The track

    Musik von Andrew Wasylyk wurde in den Klanghorizontem in diesem Jahr gleich zweimal vorgestellt. Die Sphären dieser neuer Komposition liessen mich seltsamerweise von einem perfekten Soundtrack zur Verfilmung von Sherlock Holmes Kurzgeschichten träumen. Als Kind oder gerade in jugendlichen Jahren angekommen, verschlang icb in Grossen Ferien die kleinen Taschenbücher aus dem Heyne-Verlag, in denen über etliche Bände Sir Arthur Conan Doyles‘ Kriminalgeschichten versammelt waren, auf dem Cover immer auch Sherlocks Pfeife, in deren Rauchblasen die Titel der short stories aufleuchteten. Das obige Stück passt wunderbar zu solche Stimmungen, in denen das Unheimliche auf das Scharfsinnige stiess. Träumen und Mitfiebern, Mitdenken waren gleichermassen gegenwärtig. Etwas von diesem, aus Gegensätzen entstehendem Charme, öffnet sich auch in Andrews Musik! (m.e.)

    Radio Hour with Andrew Wasylyk, Paul Bley a.o.: H E A R !