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  • Neues zum Nikolaus

    Es gibt Neues zum Nikolausfest und den ab dann langsam hereinschneienden Jahresendlisten der üblichen Verdächtigen. Besonders ein etliche Jahre alter Gedanke von Ingo hat mich zum Umdenken bewogen. Es ist zwar leicht, wenn man so einem Beruf nachgeht wie ich, 20, 25, 30, 33, 50 ziemlich grossartige Musikalben zu listen. Aber ab einer bestimmten Zahl kann man nicht wirklich mehr glaubhaft vermitteln, dass einem Platz 18 besser gefällt als Platz 19. Das nivelliert, das changiert. Aber: zehn, zwölf meiner absolute favourite albums zu listen, das kriege ich hin. Was da alles vom Feld muss – ach, du meine Güte!! Aber so wird es kommen: nur noch meine zehn oder zwölf Favoriten, bei denen ich genau weiss, wieso Nummer 5 vor Nummer 6 liegt (was natürlich allein für mich von Bedeutung ist). Und was den Rest betrifft, da habe ich eine kleine Idee. See you later, allligator!

  • Kronos meets Hardanger

    Ein letzter Besuch in Norwegen für dieses Jahr. Benedicte Maurseth erzählte mir vor einem Jahr, als wir uns zuletzt in Berlin trafen, von einer Anfrage von David „Kronos Quartet“ Harrington, ein 45-minütiges Hardangergeigenwerk fürs Quartett zu schreiben. Er hatte ihr Buch mit Gesprächen mit ihrem Lehrer Knut Hamre gelesen und war davon komplett begeistert. Da sie als Norwegian folk musician das freie Improvisieren (teils auf traditionellen regionalen Melodien, teils aus eigenem Fundus) pflegt, meinte sie direkt, ungeachtet der überaus willkommenen und einmaligen Chance, sie sei doch keine Komponistin, fragte daher bei Kristine Tjøgersen um Rat und letzten Endes Co-Autoren- und Urheberschaft an; sie schreibt nun wiederum die aufgenommenen Improvisationen nieder, collagiert diese neu und arrangiert sie weiter aus, so dass nun letztlich ein Quintett entsteht, mit komplex notierten und frei zu gestaltenden Teilen.

    Für das Auftragswerk „Elja“ wurden eigens Instrumente für Kronos gebaut, von einem Hardangergeigenbauer, der jedem, dem ich in Norwegen von dem Projekt erzähle, direkt bekannt ist. „Yes, Ottar! He also built Frida’s fiddle!“ Mit dem Mietwagen fuhr ich zu Ottar Kåsa aufs Land hinaus, um finale Arbeitsschritte an einem der vier Instrumente zu filmen. Für Kronos baute er neben zwei Hardangergeigen auch eine Hardangerviola und ein -cello, jeweils bislang nicht übliche Instrumente, was ihn entsprechend vor spannende neue Herausforderungen stellte.

     

    Nachmittags fuhren wir dann in die Hauptstadt, wo wir abends die beiden Co-Urheberinnen des Werks und die zu 50% neue Besetzung des Quartetts treffen, die ungemein enthusiastisch ihre neuen Instrumente begrüßen, die sie später zusätzlich zu ihren bisherigen Instrumenten nach Amerika mitnahmen. Nach 45 Jahren gingen vor wenigen Monaten zwei Quartettmitglieder (John Sherba und Hank Dutt) in Rente, und nun sind zwei junge Frauen (Gabriela Díaz und Ayane Kozasa) zum seit 51 Jahren bestehenden Quartett gestoßen. Ich stelle mir vor, dass das eine kaum zu beschreibende Veränderung im Leben und in der Berufslaufbahn von Gründer David Harrington sein muss – nach so vielen Jahren, nahezu so lange, wie ich auf der Welt bin, im Alter von 75 Jahren mit einer neuen, jungen Band noch einmal wie neu zu beginnen. Die Celloposition hatte bei Kronos über die Jahre immer mal wieder gewechselt; der aktuelle Cellist, Paul Wiancko, ist seit vier oder fünf Jahren dabei.

    Ich habe David natürlich auch dazu befragt, und es ist im übrigen interessant zu sehen, wie die jungen Mitglieder ihm nun in einiger Hinsicht neue Energien geben und ihm helfen, mit der Zeit zu gehen. Man merkt ihm seine vielen Lebens- und Berufsjahre durchaus an. Und doch tritt dies in den Hintergrund, wenn er auf der Bühne zum werweißwievielten Mal Purple Haze spielt, als wäre er noch immer Anfang 20. Die aktuelle Besetzung gab in Oslo ihr erst erstes viertes gemeinsames Konzert, aber sowohl auf der Bühne als auch bei den drei Probentagen, bei denen ich die Vier erlebte, machten sie, zu meinem Erstaunen, bereits den Eindruck eines gut zusammenarbeitenden, sich bestens verstehenden Ensembles. Anfang Dezember werden sie in San Francisco zwei neue Alben einspielen. In einem Jahr dann voraussichtlich das neue Werk, das sie nun in Oslo zu proben begannen — es ist aber noch nicht fertig komponiert. 

    Auch wenn Kronos höchste Auftrittsgagen bekommt und nach wie vor internationale Kompositionsaufträge vergibt, scheint es leider keine Möglichkeit zu geben, Finanzen für eine filmische Dokumentation ihres Tuns zu finden. Da ich, als Benedicte mir vor rund einem Jahr von der Anfrage erzählte, sofort sagte, ich würde das gerne begleiten [kurzfristig meinte David Harrington wohl zu ihr,  dass eine Freundin von ihm, Sally Potter(!), unter Umständen Interesse daran habe, das hat sich dann wohl aber schnell erledigt], bin ich nun auf eigenen Geldbeutel für die Tage dazugekommen und habe begonnen, das alles zu filmen und zu fotografieren.

    Leider weiß ich nicht, wie klug die Entscheidung war, mich da reinzuhängen, denn ich befürchte, wie ich mich kenne, dass ich am Ende einen kompletten Dokumentarfilm über das Ganze machen werde, ohne dass ich irgendwoher Geld zurückbekomme. Ich muss mir das jetzt noch einmal durch den Kopf gehen lassen und überlegen, ob es eine gute Möglichkeit der Quer- oder Nachfinanzierung gibt, da ich doch oftmals mehr Zeit und Geld in solche Projekte reinstecke als andere Leute, die sowas nur machen, wenn sie dafür finanziell normal entlohnt werden … aber einen Dokumentarfilm über das Kronos Quartet zu machen, so lange der legendäre David Harrington noch aktiv ist, ist dann doch auch eine einmalige Chance, scheint mir, zumal es bislang tatsächlich auch keinen gibt. Als nächstes treffen sich alle Anfang Januar für ein Woche hoch in den kanadischen Bergen, um das Ganze gemeinsam auszuarbeiten. Ende März findet dann die offizielle Welturaufführung in der Carnegie Hall statt – und Ende September voraussichtlich die europäische Premiere und Studioaufnahme in Oslo.

  • Ein neues Album, und ein Film über Nik Bärtsch und Ronin

    Ingredients for Desaster

    „Fast wie ein Wissenschaftler“. Das sagt jemand zu Beginn von Ingredients for Disaster, Julian Phillips‘ neuem 67-minütigen Dokumentarfilm über die Musik des Schweizer Komponisten, Pianisten und Bandleaders Nik Bärtsch. Fast wie ein Wissenschaftler. Nun, ja. Als Bärtsch nach einer Vorführung in London diese Woche sprach, fielen Worte wie „Architektonik“ und „Topographie“. Und Phillips wählt zur Veranschaulichung der polymetrischen Strukturen der Musik ausgeklügelte Computergrafiken, die das Innere der Stücke beleuchten, in denen die vier Spieler meist gleichzeitig in verschiedenen Taktarten arbeiten.

    Auf der anderen Seite, überhaupt nicht wie ein Wissenschaftler. Jedenfalls nicht in der Wirkung. Bärtschs Bands zuzuhören, sei es der „Zen-Funk“ von Ronin oder die „rituelle Groove-Musik“ von Mobile, kann eine zutiefst emotionale Erfahrung sein, vor allem, wenn er eines seiner gebrüllten Kommandos gibt und die ganze Band wie ein plötzlicher Adrenalinstoß den Gang wechselt.

    So beginnt ein kleiner Text von Richard Williams, nebenan zu lesen in The Blue Moment, über zwei Dinge, auf die wir uns freuen können, so wir dem Zen-Funk von Nik Bärtsch zugewandt sind. Ab 29. November ist die Doku auf amazon prime und/oder apple plus zu sehen – und das neue Album ist auch greifbar nah, das ausnahmsweise mal nicht auf ECM erschien (wirklich nur vorübergehend, wie Nik mir vor Wochen mailte). Es war witziig, dass in Matala an einem Tag die audio files der neuen Ronin- und Underworld-Alben ankamen. Das schönste doppelte „Tanzvergnügen“ des Jahres, wobei ich zum Glück auch ziemlich gut im Sitzen und Liegen und Schwimmen tanzen kann. HIER eine Erinnerung an sein Pianosoloalbum „Entendre“, in Form eines alten DLF-Beitrages. Und HIER Rosatos Geschichte seiner einstigen Entdeckung von Ronin und Co.

  • Der alte Harry

    Harry Bosch ist in die Jahre gekommen, und es ist gut, dass er in Renée Ballard eine jüngere, gleichermasssen rigorose Ermittlerin an seiner Seite hat. „Wüstenstern“ ist ein melancholisches Spätwerk mit und um Harry Bosch herum, aber das hindert Michael Connelly nicht daran, in zwei komplexen wie finsteren Kriminalfällen für enormen Drive zu sorgen, der die zeitweilige „Action“ mitunter zweite Geige sein lässt gegenüber der akribischen Ermittungsarbeit. Darin war er immer schon ein Meister seines Fachs, und hier zieht er einmal mehr all seine Register. Wer die „Bosch“-Serien auf Prime kennt, sieht natürlich stets Titus Welliver vor seiner Nase, so überzeugend, wie er Bosch auf die Leinwand bringt, aber das ist kein Nachteil. Und natürlich lege er daheim immer noch alte Jazzplatten auf. Art Pepper zählt zu seinen Lieblingen. Allein Coltrane, sein Hund und treuer Begleiter, scheint das Zeitliche gesegnet zu haben.

  • SART

    Es gibt ein paar Tricks, nie die Verbindung zum inneren Kind zu verlieren. Oder zum „teenager under fire“. Ein paar dieser Kniffe funktionieren nur, wenn man sie schon als Kind einsetzt. Du springst auf kleine Mauern, und es macht dir so viel Freude, neben dem Bürgersteig zu balancieren, dass deine innere Stimme dir deutlich zuflüstert: das machst du auch, wenn du gross bist! Es ist bekannt, dass manche Prägung in Sachen Musik zwischen 12 und 18 stattfindet, und man ist natürlich ein Glükskeks, wenn diese Zeit auf die Jahre 1967 bis 1973 zutrifft. So wurde bei mir damals ein Feuer entfacht, das hiess Kinks und Beatles, eines, das hiess Soft Machine („Third“), und eines, das hiess „SART“, das zweite Album von Jan Garbarek, produced by Manfred Eicher, und die Zauberer Terje Rypdal, Bobo Stenson, Jon Christensen und Arild Andersen waren mit von der Partie. Ausser einem radikalen Umgang mit Raum, hat es wenig mit den späteren Ingredienzien des nordischen Jazz zu tun. Ein elektrisches, ekstatisches Album, dessen Stillstände mich genauso begeisterten wie die Ausbrüche. Ich war wie vom Donner gerührt, als ich das Album das erste Mal hörte, und ich rede nicht von fernen Erinnerungen, wenn ich die Platte über die Jahre wieder und wieder auflegte. Fire Music! „Speaking of fire….“ (m.e.)

  • Lagerfeuergeschichten


    Manchmal das Glück“ – unter diesem Titel erschien vor einigen Wochen das literarische Debüt von Ulrike Sabine Maier im PMLakeman Verlag: 17 Kurzgeschichten, die im Zeitraum von 2007 bis 2024 in Anthologien und Literaturzeitschriften erschienen sind und von denen einige Preise erhalten haben, eine davon den Putlizer Preis des Autorenverbandes 42er. Die Sprache ist in allen Geschichten poetisch, bildreich und ausdrucksstark. Die Themen kommen aus dem sozialen Umfeld, der Familie und der eigenen Geschichte der Figuren. Diese schleppen die prägendsten Momente mit sich, sie werden die Gespenster nicht los, verschüttete Erinnerungen, und immer wieder dachte ich an ein Zitat aus dem wunderbaren Film „Magnolia“: „Wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns.“ Und doch kommt der Humor nicht zu kurz. „Was ich in der Hand hielt, war eine Waffe ohne Patronentrommel, die wir auf einem Flohmarkt aufgetrieben hatten. Wider allen Erwartungen funktionierte die Beschaffung des Geldes ohne Verzögerung. Die Frau hinter der Glasscheibe übergab mir mit leerem Blick die Geldscheine, als hätte sie genau das erwartet. Von ihrem Leben. Einen munitionsfreien Überfall. Und nichts anderes.“ Ich stelle mir einen langen Leseabend aus diesem Buch vor, auf einem verwilderten Grundstück, im Herbst, während Holz für ein Lagerfeuer zusammengetragen wird, bis es weithin leuchtet. Es gibt nur wenige Geschichten aus dem Band, die noch bei Dämmerung gelesen werden können. Für andere Stories muss das Feuer brennen. Während wir wiederum anderen Geschichten lauschen, starren wir reglos in die Glut. Und dann gibt es Geschichten, die nur erzählt werden können, wenn es vollkommen dunkel geworden ist. Oder, wie es bei Ulrike Sabine Maier heißt: „Manche Geschichten bedürfen der Dunkelheit, um erzählt zu werden. Manche Geschichten bedürfen der richtigen Zeiten, um angeschaut zu werden. Manche Geschichten haben Wunden gerissen, die nicht bei Licht angeschaut werden können. (…) Das sind die Zeiten der Erzähler, der Dichter, um zu versöhnen, was offen lag.“

  • kurze randnotizen, haltbar einen tag, vielleicht viel länger, und einmalig wie wir alle

    SONG FOR CHE. das ist mal wieder ein ecm-cover nach meinem geschmack und erinnert mich an die atmosphären einiger neuerer skandniavischer landschaftsfotos von ingo. zwei dinge (eigentlich viel mehr), zum einen erscheinen heute ein paar vielversprechende musikalben von father john misty (wirklich heisser scheiss!), michael kiwanuka und jeff parkers ETA IVtet, die einige plätze unserer jahresendlisten durcheinanderwirbeln könnten (die traumhafte neue arbeit taking turns von jakob bro kommt erst in einer woche raus, übrigens im verbund mit einem tollen solobassalbum, seinem ersten, von altmeister arild andersen, das mit einer unwiderstehlichen verschmelzung der zwei klassiker „song for che“ und „lonely woman“ ausklingt) – jedenfalls bei denen, die dieses spiel gerne spielen.

    WENN DER TEE IM KREIS RUMGEHT. und dann möchte ich, das ist das zweite ding, auf eine platte hinweisen, die genau das geschafft hat, nämlich meine top six aufzumischen, und das sage ich hundert pro ohne jene flüchtige anfangseuphorie, die wir alle kennen, und die sich dann auch wieder rasch legt – ich stiess auf das album durch ein foto und eine frage von henning, und dann waren jan bang und henning ratzfatz dabei, ihre begeisterung zu teilen und mit eigenen live-erfahrungen anzureichern. nun können die beiden gerne viel erzählen, wenn der tag lang ist, und der tee im kreis rumgeht, deshalb muss so ein feuer lange nicht überspringen, aber dann fand icn bei discogs dieses opus als doppelalbum vor, auf vinyl, zu einem erschwinglichen preis (ich möchte mit diesen satzbauten die spannung etwas steigern, das kann schon nerven kosten) also, wo war ich, ähem, das teil kam dann gestern abends bei schnee und eis an, und, wie am vortag, bei meiner entdeckung einer 50 jahre alten „krautgitarrenscheibe mit echoplex“ namens „samtvogel“, legte ich die erste hälfte des doppelalbums im dunkeln auf, und dachte, allerdings im rundum geflashten sinne: was ist denn hier los!?

    PRODUCED BY SHABAKA HUTCHINGS. erst danach entdeckte ich das kleingedruckte, dass das teil nämlich auf native rebel recordings rausgekommen ist, schon im märz, wie auch das wunderdyabhingiwerk von ank anum, und noch dazu wurde es von einem gewissen shabaka hutchings produziert, und wer da alles dabei ist, leute wie leafcutter john, tom herbert, floating points…. aber namen sind hall und brauch, und allein der impact zählt, und das teil hat mich auf anhieb umgehauen, ergriffen, und allein mit verweis auf meinen status als „redaktör“ dieser veranstaltung – 😂 – mache ich von meinem schweigerecht gebrauch – 😅- und verweigere die auskunft, ob ich auf meiner petrolcouch eine klassische yogilevitation erlebt habe. like the sky i‘ve beeen too quiet von ganavya ist wahrlich ein hammerteil, und neben arroj aftab eine weitere hochspannende stimme aus indien, die sehr eigene dinge macht, mit fabelhaft sich drumherum ausbreitenden landschaften, weit weg von der urindischen tradition, dafür nicht minder (lieblingswort jetzt), archaisch. m.e.

  • All We Imagine As Light (Kinostart: 19. Dezember)

    Wahrscheinlich ist das nicht nur in meiner kleinen Welt einer der berührendsten Filme des Jahres 2024, den niemand von uns bislang gesehen hat. Sicher war ich mir darin, nicht allein durch das Lesen der nachfolgenden Besprechung von Stephen Trousée, sondern bereits durch die Betonung der Rolle der Filmmusik, die von einer meiner Favoritinnen aus der Ethiopiques-Reihe gespielt wird: eher selten, dass ich der Musik von Nonnen andächtig lausche. HIER eine feine Besprechung ihres Vermächtnisses „Souvenirs“ bei Pitchfork. Rein intuitiv glaube ich, dass All We Imagine As Light sich schwebend leicht Henning Boltes alles anderes als bloss „hingekritzelter“ Filmliste zugesellen könnte. (m.e.) 

    Die außergewöhnliche Musik von Emahoy Tsegué-Maryam Guèbrou entstand aus einem akuten Heimweh heraus. 

    Aufgewachsen in einer wohlhabenden Familie im Addis Abeba der 1920er Jahre, wurde sie zunächst von den italienischen Faschisten und dann von den revolutionären Unruhen in den 1970er und 80er Jahren aus Äthiopien vertrieben. Die zweite Hälfte ihres langen Lebens verbrachte sie im Exil, als Nonne in einem Jerusalemer Kloster.

    Werbetreibende haben das schon lange erkannt, und jeder, von Walmart bis Amazon, nutzt ihre unheimliche Fähigkeit, die mystischen Akkorde der Erinnerung zu spielen. 

    Aber ihre Musik hat noch nie ein so sympathisches Zuhause gefunden wie auf dem Soundtrack zu Payal Kapadias glorreichem Debütfilm. 

    Kapadia machte sich einen Namen als Regisseurin von verträumten Dokumentarfilmen, die in sehr realen Kämpfen wurzeln (sie gewann 2021 in Cannes für A Night Of Knowing Nothing, einen Film über Anti-Modi-Studentenproteste, der wie ein Liebesbrief der jungen Agnès Varda an Chris Marker wirkte).

    Ihr neuer Film beginnt im Dokumentarstil – die Kamera streift durch die wimmelnden Straßen von Mumbai, während die Bürger im Voice-over über die Reize und Herausforderungen der verführerischen, aber flüchtigen Freiheiten der Stadt sprechen. In aller Ruhe konzentriert sich der Film auf die Beziehung zwischen drei Frauen, die in einem innerstädtischen Krankenhaus arbeiten.

    Anu ist eine junge malaiische Krankenschwester, die sich bei der Arbeit langweilt und die Stunden bis zu ihrer nächsten Verabredung mit ihrem muslimischen Freund mit einer SMS verbringt. Prabha ist ihre ernste, wehmütige Mitbewohnerin und Kollegin in den Dreißigern. 

    Sie ist verheiratet, aber ihr Mann arbeitet in Deutschland und hat seit mehr als einem Jahr weder geschrieben noch angerufen. Parvaty ist eine angeschlagene Krankenhausköchin, verwitwet und steht kurz vor der Zwangsräumung ihres Hauses durch Bauunternehmer.

    Der Film folgt den beiden durch die Monsunzeit bis zum Ganesh Chaturthi-Fest und zeigt eine Stadt und ihre Bewohner, in der es von schillerndem, vielfältigem und einsamem Leben nur so wimmelt. Anu ist frustriert bei ihren Versuchen, ein Stelldichein mit ihrem Freund zu arrangieren. 


    Prabha wird von einem verliebten, dichtenden Arzt umworben, sitzt aber bis spät in die Nacht in ihrer Küche und umarmt den Reiskocher, das letzte Andenken an ihren entfremdeten Ehemann. Und Parvaty findet keine Hilfe in ihrem Kampf gegen die Bauunternehmer und ist gezwungen, ihre Sachen zu packen und in ihre Heimat in der Nähe von Ratnagiri, einem kleinen Dorf an der Küste von Mumbai, zurückzukehren.

    Anu und Prabha helfen ihr beim Umzug, und weit weg von den verregneten Straßen Mumbais, in der Sonne, der Brandung und den wilden Wäldern, hat jede der Frauen ihre eigene persönliche Offenbarung. 

    Es fühlt sich an wie ein Traum, und ihr verwunschenes Arden am Meer könnte einen an Satyajit Rays Klassiker Days And Nights In The Forest von 1969 denken lassen . 


    Aber Kapadia hat eine ganz eigene Welt geschaffen, mit Figuren, die so reichhaltig und glaubwürdig sind wie die Frauen von George Eliot oder Sally Rooney. Durch all ihre hoffnungsvollen Wanderungen schlängeln sich die Klavierlinien von Emahoy Tsegué-Maryam, endlich zu Hause.

  • „maverick guitar explorations, restauriert zum fünfzigsten“

    „Günter Schickert ist nur den eingefleischtesten Krautrock-Sammlern ein Begriff. Diese Unbekanntheit ist ein Bärendienst, denn der in Berlin geborene Gitarrist hat sich mit Samtvogel einen Platz in der offiziellen Liste verdient. Samtvogel wurde 1974 in Eigenregie veröffentlicht und ein paar Jahre später von Brain für eine breitere Veröffentlichung aufgegriffen und macht Schickert zu einem Meister der Echo-Gitarre. Die drei Tracks bewegen sich irgendwo zwischen dem exzentrischen Jammen von Faust und dem quecksilbrigen Gitarren-Layering von Ash Ra’s Manuel Göttsching (wobei anzumerken ist, dass Schickert zuerst da war, denn Samtvogel erschien ein Jahr vor Göttschings LP Inventions For Electric Guitar von 1975 ). „Apricot Brandy“ ist ein gnomischer Kinderreim-Blues, den Schickert mit plätscherndem Echo umhüllt, und macht den Anfang im Songbereich. Doch beim seitenlangen „Wald“ hat Schickert die Songform völlig verlassen und webt mit seiner Echo-Box und der E-Gitarre ein Gitter aus schimmernden Klängen, so komplex und schön wie ein mattes Spinnennetz.“ (übersetzt von deepl)

    Als ich Louis Pattisons Kurzbesprechung der Neuauflage (Vinyl, Cd) des mir unbekannten Günter Schickert-Debuts „Samtvogel“ las (1974), rief ich bei bureau b an und liess mir die Platte kommen. Ich schaute nicht nach, ob Jan dazu was in seinem Krautrockbuch geschrieben hatte, ich legte das Album im Dunkeln auf und kam von Anfang bis Ende nicht aus dem Staunen raus. Den Vergleich mit exzentriischem Faust-Jamming würde ich so nicht unterschreiben. Ich wusste rein gar nichts über dieses Album, kannte den Namen nir von weiter Ferne, machte mir ein paar Gedanken Richtung Minimalismus und Steve Reichs „It’s Gonna Rain“ und „sehr eigener Sound“, und ob er wohl „No Pusyfooting“ von Fripp & Eno mochte, und wünschte mir im Nachgang „liner notes“ von Asmus Tietchens. Tatsächlich fand ich seine blitzgescheite Lobrede auf das Album hinterher auf der Innenhülle des Albums. Ich schmunzelte. Tolles Album! Landete sofort beim meinen reissues 2024“ (s. Blog Diary 15. November), in bester Nachbarschaft. Und so gut kann ich mich an meine klanglichen Vorlieben 1974 erinnern: hätte ich die Platte damals gehört in Winfrid Trenklers „Schwingungen“ mit Bo Hanssons Intro-Musik, ich hätte eines der 500 ersten Exemplare (in Eigenregie fabriziert) sofort gekauft.. (m.e.). Besser spät als nie. Danke, Günter! Über „Samtvogel“ wird noch zu reden sein. Tolle Pressung. Toll klingendes Remaster! Far-out, gewiss, aber wunderbar hypnotisch! Bei aller Reduktion besitzt das Album ein immens reiches Innenleben, das es weit über ein rein historisches Interesse hinaus zu einem zeitlosen Klangabenteuer macht. Große Worte, zugegeben, aber gelassen ausgesprochen.

  • The Necks. Bleed.

    Klänge eines leicht verstaubten Klaviers. Tasten werden angeschlagen. Töne klingen allmählich aus, variieren sich im Raum, verlieren ihre Energie. Klänge kommen, gehen, hinterlassen Spuren. Hallräume öffnen sich. Schweres Atmen, kein Körper. Alles scheint sanft, doch nicht entspannt. Woher kommt die Musik, wo endet sie. Klangkompostierung.