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Monthly Revelations (November)
„When we had concluded our last day’s work on “Close” and I was opening the door to leave Manfred said, “Almost 50 years!” I shook my head and said, “Hard to believe.” He held his hands out, and replied, “Like a miracle!” I didn’t ask him to explain why it was a miracle.“ (Steve Tibbetts)

After the production of „Northern Song“ in 1981, „guitarerro“ Steve Tibbetts was not the happiest man on the island of Sylt, where he spent about a week near wintertime. After working with Manfred Eicher and his regular mate Marc Anderson on his ECM debut, Steve was not happy at all. What has happened? We „old“ Steve Tibbetts listeners love „Northern Song“, but what was going on in rainy Oslo, once upon a time in the early 1980s? The whole story was told by Rob Caldwell – Deep L and I translated it for our „archive section“. Its orginal title: „Northern Song And The Sounds Of Silence“.Today is a stormy day on Sylt. No chance for long walks in this hard hittin‘ rain. By the way, that old „Tibbetts“ album is still available on cd (good price!) and vinyl (Discogs). One minor quibble about the brand new „Close“, in some ways an artistic culmination of his nearly lifeling collaboration with sublime percussionist Marc Anderson – and my album of 2025 – where is the vinyl edition?! In regards to my reissue of the year, Paul Bley‘s „Open, to love“, all our vinyl wishes are fulfilled with an excellent edition on ECM‘s „Luminessence Series“.
album: Steve Tibbetts: Close
film: I know where I‘m going (1945)
prose: „Popol Vuh“
radio: Die letzte lange Nacht der Klanghorizonte (2021)
talk: Ein Interview mit Annette Peacock (2000)
binge: Krimi, made in Germany
archive: Steve Tibbetts: Northern Song
Es ist ein zweischneidiges Schwert, alten Filmen zu begegnen. Hat man sich einst für sie begeistert, kann man leicht enttäuscht werden. Oder man begegnet ihnen mit all dem angesammelten Filmwissen, ordnet ein, rubriziert, zieht alle „richtigen“ Register – aber wo bleibt das Feuer des Eintauchens in eine andere, fremde Welt? Ich hatte diesen Film von Michael Powell und Eric Pressburger nie zuvor gesehen. Und ich war nahezu begeistert, flüsterte meinem jüngeren Ich zu, so viel mehr hätte es auch nicht dahinschmelzen können. Zwischendurch erinnerte ich mich an „Die 39 Stufen“, jenen „Hitchcock“, der auch, als Illusion oder real, die schottischen Highlands und Küstenwelten ins Spiel brachte. Welche Ironie, welch feiner Witz, welch ein Drama! Beurlauben wir unser kritisches, diskursives Ego, lassen wir den Vorhang sich öffnen, den alten Gong ertönen. Safe Journey! Alles Weitere in unserer Filmkolumne seitlich, auch eine kluge Würdigung dieses Klassikers von Peter Bradshaw – diese sollte man aber erst lesen, wenn der Film über Nacht nachgewirkt hat!
Michael Toland‘s words on „Close“
Though he’s open enough in interviews and press releases, there’s always been an air of mystery around guitarist and composer Steve Tibbetts. That’s because his music comes from a different place from anyone else’s. Familiar elements often pop up in his songs and performances – jazz, rock, psychedelia, experimental, and, most importantly, folk music from around the world. But his records never sound familiar in and of themselves, at least not to anyone not already immersed in his sonic vision. A Tibbetts record always seems to have simply appeared from Somewhere Else.
Close, his first album in seven years (which is about right for him), stays that course. Tibbetts’ thirteenth studio album (his fourteenth if you count 2022’s artist-curated anthology Hellbound Train), features something that some fans had despaired of hearing again on one of his records: electric guitar. But Close isn’t a return to the soundwaves enveloping past classics like Yr and The Fall of Us All. Tibbetts uses his amplified axes as textural elements, painting backgrounds full of grey clouds and twilight illumination over which he explores thoughtfully meandering melodies. Drummer JT Bates and longtime percussion partner Marc Anderson provide tribal rumblings that keep a sense of momentum, if not strict time, and keep the foundation pitching like an undulating ocean. Multi-chapter epics like “Remember” and “We Begin” present duets of ragged beauty and empathic dissonance, each song a deceptively tranquil dance between introspective and extroversion.
While most of Close exists in a meditative space, it’s not new age wallpaper – there’s always plenty going on under the surface of a Tibbetts piece to keep your ears on edge. And don’t count out a return to the raging firestorms of songs like “Dzogchen Punks” or “Ur” – “Somewhere Part 3” and “Everywhere, Part 4” feature menacing electric riffs in the background that threaten to overwhelm the acoustic melodies, which suggests some aggression itching to burst loose. In the meantime, Close takes us on the kind of enigmatic but enticing journey we’ve come to expect from Tibbetts: strange and beautiful.
(„Close“ ist heute erschienen, eine Woche später als angekündigt. Obwohl ich meine „Beprechung“ des Albums eher als Gedankensammlung sehe, ergänzen sich die drei Texte zu Steve Tibbetts‘ neuem Werk von Tyran Grillo, Michael Toland und mir sehr gut; s. Monthly Revelations – November)
Opus

(English here!)
Der Konzertfilm mit Ryuichi Sakamoto, produziert im Studio, weil Live-Bühnenauftritte seiner zweiten Krebserkrankung wegen nicht mehr möglich waren. Sein Sohn Neo Sora führt Regie, Bill Kirstein ist für die Kamera verantwortlich. Ich hätte den Film gern im Kino gesehen, aber er lief in Pittsburgh nicht. Nun also die DVD.
Opus ist ein Film in schwarzweiß in gedämpftem Licht, ohne Worte (mit einer Ausnahme), und auch sonst in jeder Hinsicht äußerst zurückgenommen. Sakamoto spielt allein am Grand Piano in einem ihm vertrauten Studio, umgeben von ihm vertrauten Mitarbeitern, umkreist und beobachtet von einer sensibel geführten Kamera. Wir hören 103 Minuten Solopiano, 20 Werke aus den Jahren zwischen 1972 und 2018, in einem Stück („20180219“ vom Album 12) ist das Klavier präpariert. Man könnte befürchten, dass eine Stunde und 40 Minuten Klaviermusik langweilig sind, aber das sind sie keine Sekunde lang — wenn man wirklich zuhört. Diese Bereitschaft muss man als Hörer allerdings mitbringen.
Ein spezielles Kompliment gebührt dem Toningenieur Zak und seinem umfangreichen Team, denn es gibt keine lauten Töne in dem Film, Sakamoto spielt zeitweise extrem leise, so dass sogar die Kameraschienen mit schweren Gewichten am Boden fixiert wurden, damit Kamerafahrten keinerlei Geräusch verursachen konnten. Wer die Möglichkeit hat, Dolby 5.1 zu nutzen, sollte das tun. Der Klavierklang ist kristallklar, und es sind wirklich keine Nebengeräusche zu hören außer jenen, die beabsichtigt sind: dem Klang der Pedale, die Dämpfer, gelegentlich Sakamotos Atem.
Sehenswert, weil tatsächlich informativ, ist der 15-minütige Bonus Meet the Filmmakers mit Neo Sora (rechts im Bild) und Bill Kirstein.

Das letzte Stück („Opus – Ending“) spielt das Piano, ein Yamaha Disklavier, allein. Sakamoto hat das Instrument verlassen, geisterhaft sieht man die Tasten sich bewegen. Einen besseren Schlusspunkt hätte man nicht finden können.
Knapp ein halbes Jahr später, im März 2023, hat sich Ryuichi Sakamoto für immer verabschiedet.

Eines schönen Sylter Morgens mit Margaret‘s Hope und Annette Peacock im Teekontor

Vor zwei Tagen bekam ich eine Mail des kanadischen Musikjournalisten Greg Buium, es ging um seine in Arbeit befindliche Paul Bley-Biografie. Irgendwann entdeckte er mein altes Interview mit Annette Peacock, aus dem er gern und ausgiebig zitieren wolle. Nur zu! Ich hatte diese alte Jazzthetik ewig nicht mehr vor Augen gehabt, und bat ihn um ein paar Screenshots. War selber überrascht über die inhaltliche Fülle.Ich erinnere mich, wie ich diese einst unheimlich schöne Annette P. (A true heartbreaker!) in ihrem Münchner Hotel traf und auf eine kluge, reflektierte Frau traf, die alter Schönheit keineswegs hinzerhertrauerte und sehr uneizel und feinfühlig einzelne Stationen ihrer Geschichte in Erinnerung rief. Und so sass ich am Vormittag im Teekontor und montierte das Interview zusammen, das jetzt unter den „Monthly Revelations“ (TALK) meine Gespräche mit Beatie Wolfe für den Monat November ablöst – in der Randkolumne leicht zu finden! Leicht unscharf, und es verströmt den Charme der Zettelsammlung für eine Schnitzeljagd. Aber es lohnt sich – wie jede spannende Schnitzeljagd in alten Zeiten!
Ich hatte immer den Regen draussen im Blick, wie aus feinen Vorhängen gewoben. Der Tee besorgte ein dezentes „high“. Greg Buium hat übrigens die neuen „liner notes“ zu der Vinyl-Neuauflage von Paul Bleys „Open, to love“. Und in dieser „Luminessence“-Reihe erschien Ende 2024, erstmals auf Vinyl, Annette Peacocks fantastisches Album „An Acrobat‘s Heart“! Jan Bang liebt es, ich liebe es, und ich hoffe, dass mein Interview manche Leser dazu animiert, diesen Liederzyklus kennenzulernen, oder ihn neu zu entdecken! (m.e.)
Wer war der fünfte Beatle?
Der Schweizer Autor Nicola Bardola bietet nicht nur einen, sondern gleich deren 55, und auch sie sind noch keineswegs alle, die man nennen könnte, sondern nur die besten:

Eine Karriere wie die der Fab Four passiert nicht aus dem Nichts. Zu allererst gehört mal Talent dazu, aber das allein nützt noch nichts. Man muss mit seinem Talent auch im richtigen Moment am richtigen Ort mit dem richtigen Material die richtigen Leute treffen. Und dann muss noch ein Schuss Glück dazukommen, dann kann es klappen.
Wenn es geklappt hat und man schaut später auf den Erfolg zurück, dann wird man sehen: Dies alles hat sich materialisiert in einer Vielzahl von Personen, die irgendwie zusammengewirkt haben. Wer waren sie? Was war ihr Beitrag? Was wurde aus ihnen? Man muss schon ein wirklicher Fan sein, um sich auf eine solche Recherchereise zu begeben. Nicola Bardola ist ein Langzeitkenner der Beatles, der sich schon seit langer Zeit mit der Band und ihrem Umfeld befasst hat (wie man beispielsweise hier sehen kann). Das Resultat liegt jetzt in Buchform vor.
Aber auch als Leser muss man eine gewisse „Nerdigkeit“ mitbringen, um wirklich goutieren zu können, welche Arbeit Bardola geleistet hat. Ist man aber ein solcher Edelfan, dann eröffnet sich mit seinem Buch ein Schatzkästlein, wie ich es nur selten gesehen habe — und ich kenne viele Musikbücher.
55 Personen aus dem (meist) näheren Umfeld der Beatles werden in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt. Pete Best kennt man, Stu Sutcliff ebenfalls, auch Astrid Kirchherr darf nicht fehlen — bekannte und weniger bekannte Namen tauchen in relativ kurzgefassten Kapiteln auf. St.-Pauli-Größen wie Indra-Chef Bruno Koschmider oder Star-Club-Manager Horst Fascher werden portraitiert, Brian Epstein, Bert Kaempfert, George Martin, Geoff Emerick, Klaus Voormann, Eric Clapton, Marianne Faithfull, Patti Boyd, Allen Klein, Billy Preston, Yoko Ono, der Maharishi haben ihren Platz. Dazu kommen Eltern, Familien, Geschwister, Mitarbeiter — ich will und kann sie hier nicht alle aufzählen, kann aber versichern, dass sie ausnahmslos aus gutem Grund in diesem Buch aufgeführt werden. Sie waren Teil des Beziehungsnetzes, das die Beatles-Karriere möglich gemacht hat.
In gewisser Weise ist interessant, wer in dem Buch nicht genannt wird — Linda Eastman beispielsweise, oder der Star-Club-Boss Manfred Weissleder, ebenso der Decca-A&R-Manager Dick Rowe, der die Beatles ablehnte. Dafür taucht irgendwo beiläufig der Name des Musikproduzenten Joe Meek auf, obwohl dieser mit den Beatles auch nur indirekt zu tun hatte, da er sie aufgrund der ihm vorgelegten Demos ebenfalls ablehnte (was eigentlich eh nichts Besonderes war; die Beatles waren so ziemlich schon überall abgeblitzt). In diesem Kontext ist sehr lesenswert, wie der Kontakt der Beatles zu George Martin zustandekam — das war komplizierter, als man im allgemeinen zu wissen glaubt.
Die schiere Materialmenge machte es wohl erforderlich, dass der Schreibstil gelegentlich ein wenig komprimiert geraten ist. Das führt gelegentlich zu ein wenig holzschnittartigen Beschreibungen. Das schadet aber nichts, denn das Buch eröffnet eher ein Gesamtbild als wirklich tiefgehende Einzelanalysen; es lädt ohnehin eher zum Blättern ein als zum Durchlesen von A bis Z. Dabei helfen sehr die Querverweise auf jene Namen, die ebenfalls mit einem eigenen Eintrag im Buch behandelt werden.
Ich bin auch sehr sicher, dass dieses Buch sich als wichtige Quelle für viele in Zukunft noch zu schreibende Magisterarbeiten und Dissertationen über die Beatles etablieren wird. In diesem Zusammenhang vermisst man allerdings schmerzlich einen Namensindex, mit dem sich das ganze Werk für solche Zwecke leichter erschließen ließe. (Aber ich kann es verstehen — es ist eine Heidenarbeit, ein solches Register zu erstellen.)
Aber das ist noch nicht alles! Im Anschluss an die 55 ausführlich portraitierten Personen folgen dann noch weitere 66 aus dem erweiterten Umfeld, die mit kurzen (meist halbseitigen) Einträgen vorgestellt werden. Und weil das immer noch nicht reicht, kommen noch weitere 77, diese allerdings nur noch als Namensliste. Eine Bibliographie bildet den Abschluss des Buchs, sie allein umfasst zehn Seiten.
Kurz & gut: Wer sich für die Beatles über ihre Platten hinaus interessiert, greife unbesorgt zu.
Nicola Bardola:
Die 55 besten Fünften Beatles
Verlag Andreas Reiffer, Meine 2025
354 Seiten, 20€
ISBN 978-3-910335-55-4Die letzte lange Nacht der Klanghorizonte (Dezember 2021)
thanks to Lorenz Edelmann for archival research
and technical supportThis is only the appetizer with the first hour.
Click on „Stunde 1“ – and listen!
The whole radio night
besides in our column of
MONTHLY REVELATIONS (RADIO)!
Michael Engelbrecht: Listening to „Life Of“ you can easily feel something brooding, some darkness, a certain twilight zone. Is the origin for these sensations unknown – or somehow graspable? Echoes from all those „stranger things“ you experienced in Asia?
Steve Tibbetts: There is sometimes a sort of credulous enthusiasm to believe in „stranger things“, as you say, especially in Asia. Nonetheless there does seem to be a certain permeability to the fabric of reality in some places in the world. A friend of mine called it „thinness.“ You can look for that in music and art as well. You listen and there is a quiet collapse of duality, self and other. This might sound terribly exotic or over-thought, but if you watch your mind when you listen to music you might witness a kind of melting.
„FIRST HOUR“ (ends with a jukebox)
Rickie Lee Jones: Show Biz Kids (It‘s Like This, 1991)
Angelo Badalamenti: Twin Peaks Theme (Music from Twin Peaks, 1990)
Jon Balke: Kantor (Warp, 2016)
Radiohead: Dollars and Cents (In Rainbows, 2007)
Anna Gourari / Giya Kancheli: Piano Piece No. 15 (Elusive Affinity, 2019)
Mark Hollis: A Life (1895-1915) (Mark Hollis, 1997)
Budd / Eno: Not Yet Remembered (The Plataux of Mirror, 1981)
Robert Wyatt: Maryan (Shleep, 1997)
Chris Watson: The Sounds of Lindisfarne (In St. Cuthbert‘s Time, 2013)
T. Rex: Cosmic Dancer (from Electric Warrior, 1971)About Wim
Es gab wohl nie eine Zeit in meinem Leben als Filmmensch, in der Wim Wenders nicht da war. Natürlich war er immer schon viele Jahrzehnte älter (und länger da) als ich – und doch ist er irgendwie derselbe geblieben. Wim und sein Kino waren einfach immer da. Schon als ich noch Gymnasiast war, besuchte ich im Stuttgarter Kino eine Wenders-Retrospektive; dort hatte ich auch das seltene Glück, seinen kaum einmal gezeigten Debütfilm Summer in the City sehen zu können. Meist saß ich in der dritten Reihe in der Mitte, und ich erinnere mich, dass vor mir oftmals eine junge Frau saß, die diese Filme ebenfalls alleine anschaute. Leider bin ich nie mit ihr ins Gespräch gekommen, frage mich, welchen Weg ihre Lebenslaufsbahn wohl seither eingeschlagen haben mag und welche Rolle diese Filme auf ihrem Weg spielen.

Über die Jahrzehnte hinweg gab es in meinem Leben stetig Berührungspunkte mit Wenders’ Schaffen – egal, ob ich Filme entsetzlich fand (Palermo Shooting) oder großartig (The Salt of the Earth, Paris, Texasu.v.a.m.), ob ich sie verpasst habe (Submergence, Les beaux jours d’Aranjuez) oder ob ich ratlos davorstand (Der BAP-Film, Der Papst-Film), sein spezifischer Blick auf die Welt, die Kunst und das Kino sprach immer zu mir. Und war häufiger eine Inspiration als nicht. Als ich studierte, war er zu Gast, bei der Berlinale erlebte ich ihn bei der Präsentation der restaurierten Fassung seines überwältigend radikalen, größenwahnsinnigen, fünf Stunden langen Bis ans Ende der Welt, in Cannes erlebte ich ihn bei der Jubiläumsaufführung seines Palmengewinnerfilms Paris, Texas (war 1984 wirklich das letzte Mal, dass ein deutscher Film die Goldene Palme bekam?), ich besuchte auch ein Regieseminar bei der von mir hochgeschätzten Claire Denis, die bei zwei seiner mutigsten Filme und größten Erfolge (Paris, Texasund Der Himmel über Berlin) als Regieassistentin mitarbeitete und nie müde wurde, in lebendigsten Worten größer Wertschätzung von Wim zu erzählen … und bei meiner Diplomvergabe der Filmhochschule hielt ausgerechnet Wim die Rede für die Absolventen und übergab uns die Diplome.
Auch hier in seiner Rede sagte er wieder ausschließlich Dinge über das Filmemachen, die mir aus dem Herzen sprachen, wie das kaum jemand sonst vermag. Ich hatte zu jenem Zeitpunkt bereits in einigen eigenen Filmen vieles umzusetzen versucht, wovon er da sprach. Zu Wenders’ Achtzigstem lud ihn die DIE ZEIT letztens zu ihrem „unendlichen Podcast“ein, und ich hatte das sieben Stunden lange Gespräch noch lange nicht zu Ende gehört, da hatte ich bereits den Wunsch, das Ganze noch ein weiteres Mal durchzuhören; ebenso das Ende 2024 veröffentlichte vierstündige Gespräch im Podcast von Mathias „Matze“ Hielscher. So geht es mir immer, wenn ich ihn irgendwo sprechen höre, selbst wenn er manchmal nicht zum Schluss kommen will. Er ist kein versierter, meisterhaft effizienter, punktgenauer Erzähler, auch in seinen Filmen nicht. Er selbst sagt gerne, dass er beim Erzählen nicht wisse, wie seine Geschichten ausgehen — sonst würde man ja „schummeln“. Und ich kann selbst nicht erklären, warum ich auch vieles, was ich schon öfter gehört habe und längst weiß, ihn noch immer gerne sagen höre. Und auch die Bilder, die er geschaffen hat – in Kinofilmen oder als Fotografien, kann man nicht oft genug sehen. In vielen Situationen war Wim Inspiration, Einfluss, Orientierung, selbst wenn ich daran nicht explizit denke.
Aktuell sind in den öffentlich-rechtlichen Mediatheken zwei Dokumentarfilme über Wenders — der zweistündige „Desperado“, der zu seinem 75. entstand, ist in der NDR/ARD-Mediathek zu sehen und bietet eine Vielzahl enorm bekannter Gesprächspartner/innen und eindrucksvolle, auch aufwendige Szenen, in denen Wim sein eigenes Werk wiederbesucht. Und bei ARTE/ZDF gibt es den aktuellen Dokumentarfilm „Der ewig Suchende“ zu sehen, der sich vielleicht wie ein Update, eine kürzere Fortsetzung ausnimmt und hier und dort noch etwas ergänzt, auch um weitere renommierte Gesprächspartner. Man kann das alles anschauen und anhören und wird immer wieder noch Interessantes hören und sehen. Und bis Mitte Januar kann man in Bonn in der Bundeskunsthalle obendrein eine umfangreiche Ausstellung – W.I.M. – Die Kunst des Sehens – auch mit vielen Fotografien und einer immersiven Filminstallation besuchen; der Ausflug nach Bonn steht noch auf meinem Plan.
Wenders ist nicht wegzudenken aus der deutschen Kino- und Kulturgeschichte, und ich kann mir kaum vorstellen, wie das sein wird, wenn er irgendwann mal nicht mehr da sein wird. Sein Werk wächst mit der Zeit mehr, als dass es obsolet würde.
ijb
Ich habe es nur hundert Meter zu Abeling
Das ist der Bäcker um die Ecke in Westerland. Heute morgen ein unerwartetes Naturschauspiel: leicher Nieselregen aus einer dünnen mattgrauen Wolkendecke begleitete mich, während am Horizont, Richtung Festland, eine golden leuchtende Front aufzog, vielleicht die letzte Sonnenglut der kommenden Regenzeit.
Aber das ist „rain as usual“ auf dieser Insel im Norden: gestern gab es in dem, manchen flowflows bestens bekannten Samoa / Seepferdchen noch einmal ein grosses Sonnnenstelldichein. Und wenn ein Drachen am Hinmel fliegt, steht bei dem Kind in mir die Zeit ohnehin still. Rein kulinarisch bertrachtet, waren der Erbseneintopf und der Blaubeerpfannekuchen weitere Nostalgica (neben dem Drachen, dem einst Sarah Kirsch ein feines Gedicht widmete), ein Fest für die Sinne.Ich habe Herrn Dr. Brömmel besucht, der tatsächlich promoviert ist, aber im realen Leben einen anderen Namen trägt, und ihm die neue Platte von Roger Eno mitgebracht: „Der Mann aus Suffolk blüht bei der Deutschen Grammofon Gesellschaft regelrecht auf, und fabriziert Klasselalbum nach Klassealbum“, sagte ich zu ihm, als er seinen alten, mit feiner Ortofon-Nadel bestückten, Dual-Dreher anwarf.
Und so kam in den letzten vierundzwanzig Stunden alles zusammen, was Menschen wie mich beglückt, und mit leicht dezenter Wehmut ausstattet, die ihre schönsten, eine Dreiviertel Ewigkeit entfernten, Schulferien mit Nordseereisen verbinden: der Drachen unter strahlendem Blau, das dunkle Seemannsgarn von Roger Eno, die sanfte Ermüdung von langen „beach walks“, und, im kleinen „art hues“, eine Runde allerfeinsten Jazz!

Damals lauschte ich Michael Nauras Moderationen, und liess mich von Ralph Towners „Solstice“ einfangen (das Transistorradio abends vor dem Meeressaum ans Ohr gedrückt) – und immer wieder die tollen Konzerte der NDR-Workshops“, zur frühen Nachmittagszeit, statt in die Nischen der Nacht verdrängt zu sein! Heute spielen, während ich den Kaffee aufbrühe, zwei ältere Herren im Duo. Nehmen sie einmal nach formvollendeten Eröffnungen ihre ruhige wilde Fahrt auf, wird alle technische Brilianz von purem „Feeling“ absorbiert. „Memories of Home“ – ein Fall für Karsten Mützelfeldt!Belletristik für die Insel

In einen Roman eintauchen, das ist immer ein spannendes Randthema gewesen beim „Urlauben“ auf einer nord- oder ostfriesischen Insel. Es ist nicht anders, in den kommenden Tagen. Mit dabei: drei Romane zum Anlesen, Thomas Pynchons „Schattennummer“, Andreas Pflügers „Kälter“ (beginnt hier oben auf der Nachbarinsel, derzeit ein kultureller hotspot, man denke an Akins Film „Amrum“), sowie Michael Connellys „Der Inselcop von L.A“ – der erste Fall von Detective Stilwell. (Im Original der bessere Titel: „Nightshade“. Bosch ist im Ruhestand, deswegen will man den neuen Protagonisten hervorheben.) Ich lese jeden Roman ca. vierzig Seiten lang, und entscheide mich dann für den grössten Flowfaktor! Heute aber ist der einzige angekündigte Sonnentag, das heisst: eine „Mörderwanderung“ steht an! No reading til bedtime!
(Nachtrag, 21. Oktober) – And the winner is: Allen drei Büchern gebe ich nach 50 Seiten eine uneingeschränkte Leseempfehlung. Aber meine Nummer 1 ist Andreas Pflügers „Kälter“! Ideale Insellektüre. Auf Amrum ist echt was los. 1980. Luzy Morgenroth arbeitet schon zehn Jahre dort, hat sich 15 Kilo angefuttert. Mit der Ruhe ist es bald dahin. So einen Raumbvogel habt ihr noch nie gesehen, heisst es auf einmal, und man fragt sich: was ist denn hier los!? Pflüger ist ein hochvirtuoser Autor, der Spannungskurven neu definiert. Und den „human factor“ nie ausser Acht lässt. Wenn es Katzen und Hunde regnet, gehe ich ins Teekontor mit Pflügers wildem Schmöker. Suhrkamp hat einen neuen Dürrenmatt. Weltklasse.
