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  • Überraschungen

    Anfang des Jahres hätte ich nicht gedacht, dass ich viel Zeit mit den Emotionen und Gedanken dieser drei Menschen verbringen werde: ein Musiker, ein Autor und ein Welterklärer.

    Die Musik von John Fahey (1939 – 2001) kenne ich aus der Ferne schon lange. Ich erinnere mich an einen Spaziergang vor über 20 Jahren durch Friedrichshain, bei dem ich eine von einem Freund gebrannte CD in einem Discman hörte (es war etwas umständlich, man musste das Gerät die ganze Zeit in der Hand tragen). Ich war angetan, habe dann irgendwie nie den Faden aufgenommen. Bis ich diesen Sommer zwei Alben in einem Schallplattenladen stehen sah. Die begeistern mich so sehr, dass ich seitdem noch zwei weitere kaufe – und andere Gitarristen für mich entdecke, wie den meditativen Robbie Basho, oder mir bekannte noch mehr höre, wie die feine Folkgitarre von Bert Jansch. 

    Auch von Richard Powers hatte ich vor über zwanzig Jahren mal sehr gerne ein Buch gelesen, auch bei ihm habe ich dann nie weitergelesen, um dann in diesem Jahr gleich in vier Büchern zu versinken. Über zwei habe ich hier schon geschrieben; die anderen beiden fand ich „nur“ sehr gut, nicht ganz so herausragend. Aber Orfeo hat schon großartige Passagen (alleine die Erzählung, wie Olivier Messiaen Quator pour la fin du tempskomponiert, lohnt das Lesen) und Erstaunen eignet sich vielleicht wegen der relativen Kürze am Ehesten als Einstieg. Ich lese auf jeden Fall weiter.

    Und dann bin ich im Sommer über die Lage der Nation Podcasts auf den Soziologen Aladin El-Mafaalani gestoßen, habe seitdem zahlreiche Podcasts mit ihm gehört (drei bei jung & naiv) und gerade auch ein Buch von ihm geschenkt bekommen (Misstrauensgemeinschaften, noch nicht gelesen). Diese politisch-soziologischen Analysen sind empfehlenswert; zum Beispiel die Gedanken zu der Rolle von Kindern in alternden Gesellschaften finde ich sehr erhellend. 

  • Bernhard Scherbers 10 Lieblingsalben 2025

    Das Jahr geht zu Ende. Einiges ist liegenblieben, manches hat mich auf den letzten Drücker erreicht, und viele Alben werde ich erst demnächst zu hören bekommen.  Hier nun meine aktuelle Liste:

    1  Hiromi’s Sonicwonder  –  Out There             

    Nix wie raus und Spaß haben. Hiromi erneut mit Hadrien Feraud (E-Bass), Gene Coye   (Drums) sowie  Adam O’Farrill (Trompete) und verspielt wie selten zuvor. Häufig auch am Keyboard.  Mein (Sommer-)Album des Jahres. Und mit  „Pendulum“ eine Ballade in zwei Versionen. Einmal mit der wunderbaren Michelle Willis und einmal solo.

    2  Brandee Younger  –  Gadabout Season

    Alice Coltranes Harfe ist wieder zurück und bei Brandee Younger in den richtigen Händen. Auch hier ist der Albumtitel aufschlussreich.  In ihrem Wohnzimmer kommen und gehen die Gäste. Hervorheben muss ich hier das exzellente  Drumming.  Die zweite Künstlerin neben Hiromi, für deren Talent  ich keine angemessenen Worte finde.

    3  Astrobal  –  L´Uomo E La Natura

    3, 2, 1 – Ignition.. Emmanuel  Mario mit kosmischem Pop der 1970er Jahre in neuem Gewand. Bevor wir in den Kosmos starten, erstmal ein wenig Tropicalia. Wir erleben den Sonnenaufgang in Brasilien, wohin wir am späten Abend zurückkehren.  Zwischendrin in  weiter Ferne ein Gewitter. Ansonsten schweben wir durchs All und werden bei „The End of Capitalism“ aufgefordert, uns dies vorzustellen.

    4  The Besnard Lakes   –  The Besnard Lakes Are The Ghost Nation

    The Besnard Lakes so entspannt und eingängig, dass es mich bereits beim zweiten Durchgang packt. Jeder Titel  ein vorzeitig ausgepacktes Weihnachtsgeschenk. Neben Gitarrenlastigem hören wir auch Songs, die von Dulcimer, Bouzouki, Vibraphon und Keyboard getragen werden . Jace Lasek und Olga Goreas. Meine Lieblingsstimmen, wenn es um Rockmusik geht.

    5  Adrian Younge  –  Something About April III

    Der zeitreisende Musiker und Produzent macht Halt in Brasilien und verschmilzt MPB mit Soul.  Weiblicher Chorgesang , eine wie immer 100 % analoge Produktion und jede Menge „Herzwärmer“.

    6  The Necks  –  Disquiet

    7  Beatie Wolfe & Brian Eno  –  Luminal

    8  Ebo Taylor, Adrian Younge & Ali Shaheed Muhammad  –  Jazz Is Dead 22

    Nochmal Adrian Younge. Diesmal mit Highlife und psychedelischem Afrobeat.

    9  Chip Wickham  –  The Eternal Now

    Roger Wickham überrascht mit Anleihen bei Souljazz und integriert Streicher in seine Klangwelt. Immer wieder schön die Querflöte.

    10  Anika  –  Abyss

    Definitiv kein Hörvergnügen. Roh und direkt in die Magengrube.  Annika Henderson benennt das Toxische in Beziehungen, der Gesellschaft, den Medien, der Politik. Mal direkt und mal subtiler. Eine Stimme, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht.

  • Ella Edelmann erlebte Radiohead in Berlin

    Es war ein ganz wunderbares Erlebnis, wobei „Wunder“ und „bar“ beide gleichermaßen Teil dieses besonderen Abends waren. Irgendwie verwunderlich in seiner Eigenart und gleichzeitig bar jeden Zuviels, genau richtig in seiner Schlichtheit – sofern sich das von einem Arena-Konzert sagen lässt.

    Interessant fand ich die Art Gaze-Leinwände, hinter denen die Band anfangs eingeschlossen war, und die – obwohl teiltransparent – später auch als Videoleinwände dienten. Das erste Lied („2+2=5“) spielten sie noch komplett hinter dieser Art Netz. Ich empfand das erst als sonderbare Distanz zwischen Performenden und Publikum, als die Wände dann aber später angehoben wurden, kam mir doch der Gedanke, dass es eigentlich ganz passend ist, das Erscheinen auf der Bühne durch dieses Zwischenelement nochmal um einen Schritt zu erweitern und sich so auch sichtbar dem Publikum zu öffnen.

    Die Leinwände waren das ganze Konzert über sehr geschmackvoll eingesetzt. Oft finde ich es ein bisschen schade, wenn die Leinwände einfach in groß das zeigen, was man von seinem hinteren Platz sonst eben nicht erkennt, zumal ich mich dann oft dabei erwische, wie ich nur noch die Leinwand anstarre.

    Das war diesmal anders. Die leinwandübertragenen Sequenzen waren immer wieder verfremdet, teilweise auch gedoppelt oder schnell nacheinander wiederholt. Das hat das Element der Konzertleinwand, finde ich, hier viel interessanter gemacht.

    Musikalisch hat es mir sehr gut gefallen. Anfangs hatte ich das Gefühl, den Gesang etwas leise zu hören – das hat sich aber schnell gegeben.

    Die Band hat toll gespielt und die Songs teilweise auch in Versionen präsentiert, die ich nicht direkt so erwartet hätte. Manchmal war rhythmisch etwas anders oder es wurden synthetische Intermezzos eingefügt und/oder ausgedehnt.

    Besonders begeistert und eingenommen hat mich auch die Bühnenpräsenz Thom Yorkes. Er hat sich tatsächlich viel bewegt und getanzt, wie auch in den Kritiken, die ich vorher gelesen hatte, beschrieben. Ich fand das ungemein passend. Es hatte eine Leichtigkeit und ich hatte das Gefühl, er performt all diese Songs sehr bewusst, ohne aber irgendetwas bestimmtes darstellen zu wollen. Seine Art die Bühne zu bespielen, hatte meines Empfindens nach eine große Authentizität. Gleichzeitig fand ich die Art, wie er bei den vielen düsteren Texten damit auch Leichtigkeit und Freude vermittelt hat, sehr taktvoll.

    Für mich persönlich war es besonders schön die vielen Songs aus „In Rainbows“ zu hören. Jetzt nach diesem Live Erlebnis finde ich mich nochmals darin bestätigt, dass es wohl mein Lieblingsalbum von Radiohead bleibt.

    Es hat mich sehr berührt, zu spüren, dass diese Lieder mehr oder weniger einem ganzen Stadion viel bedeuten und ich fand es schön, in diesem Moment ein Teil davon zu sein.

    Auch schön war, dass in meinem Hostel nahezu ausschließlich KonzertgängerInnen unterschiedlichsten Alters untergekommen waren. Mein Zimmer teilte ich mir mit einer Gruppe junger FranzösInnen, die extra aus Lyon für das Konzert angereist waren. Im Aufzug hatte ich mich am Abend noch mit einer Gruppe älterer Herren (Sie dürfen niemals erfahren, dass ich sie so genannt habe, da sie sich schon an meinem Siezen gestört haben – sagen wir also „für mich älter“) unterhalten, die ganz stolz auf ihre Merch-Errungenschaften waren.

    Es ist einfach immer wieder schön zu sehen, welche verbindende Kraft Musik hat. Das habe ich gestern wirklich nochmals in aller Deutlichkeit erlebt.

  • that italian swamp vibe

    Carnic folk meets avant-garde minimalism – Silverio Massimo pushes his radical sound even further on „Surtùm“.


    A fine example for an album where you don‘t understand a word, and it doesn‘t matter. I can understand the comparisions of reviewers when they mention certain aspects of the late works of David Sylvian, certain moments of Sigur Ros or Swans, but that doesn‘t take away a spoonful of secrets from these fractured ballads.

    Playlist for an imaginary Christmas radio hour in mind:
    Natural Information Society: Perseverance Flow (instr.)
    Emma Swift: The Resurrection Game
    Silverio Massimo: Surtùm
    Jan Garbarek / Anouar Brahem / Shaukat Hussain: Madar (instr.)
    The Mountain Goats: Through This Fire Across From Peter Balkan
    Steve Gunn: Daylight Daylight
    Steve Tibbetts: Close (instr.)


  • Gespenstergeschichte

    Vielleicht ist es vier Wochen her, als ich mich mit Zurli traf und wir endlich unseren kleinen Spaziergang durch die alte Siedlung unserer Kindheit unternahmen. Er war ganz schön angeschlagen, und ich war auch nicht bester Stimmung. Der Himmel war tiefes Grau, ab und zu zog ein dichter Vorhang voller Regentropfen über uns hinweg. Der Weissdornweg. Das Seltsame war, dass die ganze Siedlung wie ausgestorben dalag. Also, weil alle Menschen fort waren, blieben die Dinge allein, um Erinnerungen auszuösen. Das war die grosse Garagenfront, wo wir Fussball spielten, und das Knallen des Balls gegen metallische Tore einen solchen Krach verursachte, das ein Rechtsanwalt an der Grotenbachstrasse immer wieder laut rumtobte. Aber wir waren Kinder, unangreifbar. Natürlich wurde einiges in der alten Siedlung, die um 1960 hochgezogen wurde, renoviert, die Fassaden glitzerten runderneuert. Aber die als Tore dienenden alten Teppichstangen waren verschwunden. Zurli konnte sich nicht an die buschikose Beate erinnern, die genauso gut mit dem Ball umgehen konnte wie wir, und in die heimlich verliebt war. Wir tauschten unsere Erinnerungen aus wie Bilder einer Wundertüte, wohl wissend, dass diese fernen Dinge der Volksschuljahre immer nur kurz aufblitzen würden, um dann wohl für immer zu verschwinden. Die Melancholie war greifbar. Einmal begegnete uns dann doch ein Mensch, der aussah wie ein Oberschullehrer und sich seltsam zielstrebig und fussläufig duch die Siedlung bewegte. Er schien hier ein Leben zu haben, wir hingegen hatten den Wind, den Nieselregen und all die kurz aufflackernden Momente aus der Tiefe des letzten Jahrhunderts, Momente, die einmal den Anschein hatten, für immer und immer zu sein, bruchfest, verlässlich, widerständig. Sie waren alles andere als das. Ich liege auf der Couch, der Himmel hat das gleiche Weissdornweggrau, und ich gehe gleich in meine Höhle und höre „The Resurrection Game“ von Emma Swift. Ein wunderbares Album.

  • Literatur entdecken, die berührt

    Vor ein paar Tagen erschien auf der Lyrik-Onlineplattform signaturen-magazin.de ein Interview, das Elke Barker mit mir geführt hat: über Hintergründe der von mir herausgegebenen Anthologie „20 Jahre Literaturwerkstatt in Darmstadt“, die Arbeitsweise im Seminar, Herausforderungen und schöne Momente, was mir das Seminar persönlich bedeutet und einiges mehr. Hier ist der Link.

  • Stephan Kunze‘s (ambient) album of the year

    Jefre Cantu-Ledesma – Gift Songs (Mexican Summer)

    Even if I’ve loved it from the start, this record has grown so much on me since its release in May 2025. There’s an undeniable magic about this unassuming work that made me keep coming back to it. Whenever I needed a sonic equivalent to a soothing weighted blanket, I could rarely resist the call of that infectious 20-minute piece on the A-side, “The Milky Sea”.

    Shortly before the album release, I interviewed Jefre Cantu-Ledesma for the Buddhist magazine Tricycle. He’s an experienced experimental musician who’s originally from Texas but has been living on the Westcoast for a long time and has now been based in Upstate New York for a while, working by day as a Zen Buddhist priest and hospice chaplain. This gentle acoustic ambient record is an offering and an expression of his compassionate worldview – an fascinating kaleidoscope of timbres, tones and textures, based on decades of mindful improvisation practice.

    (Written by the man behind Zen Sounds)

  • Norbert Ennens Top 10 ohne Reihenfolge

    Natural Information Society & Bitchin Bajas – Totality
    Caroline – Caroline 2
    Ambarchi, Berthling, Werliin – Ghosted II
    Alan Sparhawk With Trampled By Turtles
    Ben Lamar Gay – Yowzers
    Enji – Sonor
    Daisy Rickman – Howl
    The Necks – Disquiet
    Gwenifer Raymond – Last Night I Heard The Dog Star Bark
    Joannne Robertson – Blurrr

    response from flowflowHQ:

    Moin, Norbert! The world of 2025 is full of wonderful music we simply don‘t know. From your list I did hear exactly 5 of 10, and on a little afternoon walk I listened for the first time to that pastoral song meditations by Daisy Rickman. Afterwards I found a package from Italy at my door, exactly 90 minutes ago. I listened to it and thought, well, a perfect pair, Daisy and Massimo. So i highly recommend this album to you. Probably too late for the Christmas tree. Massimo Silverio‘s Surtùm is a discovery for me as is the lady from Cornwall. Coincidence or convergence? Thank you, and good evening. (m.e.)

  • „Convergences“

    Between the years I have much time to read and listen and watch. Yesterday I opened the winter season of my small „Electric Cave“, with six people watching that movie „Medium Cool“ by Haskell Wexler that I regard as a masterpiece of political cinema from the late 1960’s. It comes along with a deepness and emotional nakedness that I put on par with Walter Salles’ recent Brazilian movie „I’m Still Here“ set in the darkest times of dictatorship in 1970.

    Before that, I had the opportunity to listen to an album of uninhibited magic. Afterwards I read about this album of former Can Man Irmin Schmidt. i was impressed by his latest solo piano work that has been running under the public radar like so much wonderful music is. The old hard core fans shortly pay attention, but then miss the ancient vibes and look at such works as a footstep or a reminder to go for the old records again. Reading this announcement, it seems to be another solo work with our terrible state of the world in mind – and a quantum of utopia. Finding solace. Resistance.


    It would probably fit well with that „uninhibited magic“ (I mentioned in the first sentence) of Björn Meyer‘s second solo work for ECM, „Convergence“ to be released one day after my Steve Tibbetts portrait at the Deutschlandfunk, on Jan 23, 2026. Darker than his debut „Provenance“, and miles away from any self-indulegnt virtuosity running on empty, it is another burner from the electric bass player who once was part of Nik Börtsch‘s Ronin and its „zen funk“. I love the cover of „Provenance“, and I love the cover of „Convergence“. A visual signifier par excellence. (The cd can already be ordered at jpc.)

    Convergence comes from the prefix con-, meaning together, and the verb verge, which means to turn toward. We can use convergence to describe things that are in the process of coming together, like the slow convergence of your opinions with those of your mother, or for things that have already come together, like the convergence of two roads, or for the place where two things already overlap, like the convergence of your aunt’s crazy wardrobe with avant-garde fashion.