Richard Dawsons „Endspiele“
„Nach The Ruby Cord, einem 80-Minuten-Album, das in einer halluzinatorischen VR-Zukunft spielt, konzentriert sich Richard Dawson hier auf kleinere Dinge: nämlich auf das alltägliche Trauma von Familien am unteren Ende der Mittelschicht. Dennoch ist sein Songwriting so kraftvoll und bewegend wie eh und je, mit all den düster-komischen Anklängen, für die er bekannt ist. Auch musikalisch ist End Of The Middle zurückgenommen, in seiner Sparsamkeit vom frühen Neil Young inspiriert, mit markanten Free-Jazz-Holzbläsern, die Dawsons romanhafte Erzählungen beleuchten. „Gondola“, ‚Bullies‘ und ‚Removals Van‘ deuten ganze Welten an, bevor ‚More Than Real‘ in tränenreichem Technicolor schließt.“
So die kleine Besprechung von Tom Pinnock in der Februarausgabe von UNCUT. Einige von uns kennen diesen Song-Exzentriker seit Jahren, jetzt legt er einen Songzyklus vor, der in anderer Weise als Wim Wenders‘ „Perfect Days“ von dem japanischen Regisseur Ozu inspiriert ist. Ich wittere hier auch mehr als einen „touch of Beckett“ und erinnere mich, wie wir bei unserm Englischlehrer einst Becketts „Endspiel“ lasen und interpretierten!
Ich habe das Album bereits hören können – ein Songvideo („Polytunnel“) habe ich in meinem „Echo“ auf Enos Songseminar verlinkt. Dass die lyrics kleine Welten kreieren, in einer dem „normalen Alltag“ entnommenen Sprache, die durch ihre Kombination mit überraschenden Wendungen eine besondere Kraft entfaltet, ist ein wirklich gekungener Kunstgriff von „songwriting“. In comment 1 die lyrics des Liedes „Gondola“. Dieses Lied, in dem eine frei flottierendes Klarinette wundersam herumgeistert, endet mit folgender Strophe – und einer etwas anderen Venedig-Impression!
Meine Träume starben wie Delphine in einem Netz.
Ich konnte nie nach Venedig fahren
und wie viele Sommer habe ich noch vor mir?
Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich eine Oma bin.
Jen hat gerade ihre Fahrprüfung bestanden.
Ich werde ein paar tausend Pfund
in ein Auto investieren
und mit ihr in den Urlaub fahren –
„making memories“, bevor es zu spät ist.
Da sind wir nun, unter der Rialto-Brücke,
zusammengekauert in einer Gondel.
Ich möchte HIER noch einen weiteren Song aus „End Of The Middle“ vorstellen. Am besten nicht einfach kurz reinhören, und schnell entscheiden, sondern vielleicht erst mal die lyrics im Vorfeld lesen (das Original, und eine rasche Deepl Übersetzung folgt in Kürze in Comment 2), und dann den Song in Ruhe aufnehmen. Richard Dawson gehört zu den interessantesten „Leftfield“-Songschreibern Englands, ein sympathischer Coldplayfan wird rasch die Flucht ergreifen, und auch mit der Stimme müssen sich (man muss natürlich gar nichts) manche ggf. erstmal anfreunden. Dann aber könnte – ich sage „könnte“ Dauerhaftes entstehen.
Es ist schon toll, was Domino seit Jahr und Tag publiziert (zuletzt das editorische Mammutmeisterstück „G stands for Go-Betweens, Vol. 3“, ein Boxset, der schneller ausverkauft als besprochen wurde), auch Robert Wyatt (in manchem ein Seelenverwandter von Robert Wyatt) hatte da in seiner letzten Schaffensphase eine Hafen gefunden. Und von wem stammte das Album des Jahres 2024 in den Ohren von drei, vier Flowworkern?! Bingo! Und sonst, anno 24: John Cale, Julia Holter, Jon Hopkins, Hayden Thorpe, Bonny Prince Billie (bald eine neue Scheibe) und und und…. Nochmal zurück zu Richard Dawson am 14. Februar erscheinendem Album, das auch eine Brücke schlägt zu Michael Leighs Filmen, zu den alten Erzählungen von Alan Sillitoe – wer erinnert sich noch (auch eine Verfilmung gab es) an „The Lonliness of The Long-Distance Runner“. In den Worten von Richard: . “It zooms in quite close-up to try and explore a typical middle class English family home,” Dawson said in a statement. “We’re listening to the stories of people from three or four generations of perhaps the same family. But really, it’s about how we break certain cycles. I think the family is a useful metaphor to examine how things are passed on generationally.”
9 Kommentare
Michael Engelbrecht
Good Morning Britain, a soft-boiled egg.
Piers is on Lorraine, shooting pains down my left leg.
Holly & Phil’ll pay my energy bills,
dead wasp on the windowsill,
the last drops of Blossom Hill,
hailstones on the bus up to Lidl.
The booze-aisle is dark and wide,
A cork upon it’s ceaseless tide,
Let the darkness roll inside.
And I went to work for Dad
in the jewellery shop. I wish I had
gone onto higher education –
but Tom was always the clever one.
Cash In The Attic, A Place In The Sun,
a very long-overdue phonecall from my son William,
Deal Or No Deal Or No Deal Or No Deal Or No Deal –
box number 17 is opened to reveal a wound that’s never healed.
TV drifting out of sight,
A cup filled to the brim of night,
Let the darkness roll inside.
I don’t want any more regrets,
my dreams died like dolphins in a net.
I never got to go to Venice
and how many summers have I left?
I still can’t believe I’m a grandma.
Jen just passed her driving test.
I’m going to put a couple of thousand pounds
towards a car
and take her on holiday –
‚make memories‘ before it’s all too late.
There we are beneath the Rialto Bridge,
huddled in a gondola.
(Gondola)
Michael Engelbrecht
Boxing Day sales
The streets are heaving and it’s starting to hail
golfballs of ice upon the Boxing Day Sales.
We spot each other through a mannequin’s reflection,
sheltering under the eaves of French Connection.
Over a scone, is Ellie still tap-dancing?
Has Jenny kept up with her synchronised swimming?
And are things any better between you and Tom?
I’m so tired of hearing these awful Christmas songs.
Time to change the record –
A howl of blizzard hurls the cafe door ajar.
You owe it to yourself.
A drawing tablet with a 30″ screen,
a hulking Stainless-Steel espresso machine,
green amber earrings, noise-cancelling headphones,
cranes paused mid-flight on a quilted kimono –
You can’t afford to not own this.
Go on, you owe it to yourself.
Die Straßen sind überfüllt und es hagelt
Golfbälle aus Eis auf den Boxing Day Sales.
Wir sehen uns durch das Spiegelbild einer Schaufensterpuppe,
die unter dem Dachvorsprung von French Connection Schutz sucht.
Bei einem Scone: Tanzt Ellie immer noch Stepptanz?
Hat Jenny mit ihrem Synchronschwimmen weitergemacht?
Und läuft es zwischen dir und Tom besser?
Ich bin es so leid, diese schrecklichen Weihnachtslieder zu hören.
Es wird Zeit, die Platte zu wechseln.
Ein heulender Schneesturm schleudert die Tür des Cafés einen Spalt breit auf.
Das bist du dir selbst schuldig.
Ein Zeichentablett mit einem 30-Zoll-Bildschirm,
eine klobige Espressomaschine aus Edelstahl,
grüne bernsteinfarbene Ohrringe, Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung,
Kraniche, die mitten im Flug auf einem gesteppten Kimono pausieren –
Sie können es sich nicht leisten, das nicht zu besitzen.
Mach schon, das bist du dir selbst schuldig.
Lukas
Lieber Micha,
dass Rich (wie er sich tatsächlich in zwischen lieber rufen lassen möchte) auch in Deutschland eine kleine aber äußerst feine Schar an Fans gesammelt hat, lässt an das Gute im Menschen glauben. Wer schließlich kommt damit durch, über „Polytunnels“ zu singen? Geschweige denn anzunehmen, jedem könne klar sein, was diese überhaupt sind?
Michael E
Folientunnel, man lernt nie aus, und das feine Songvideo zu „Polytunnel“ beseitigt letzte Zweifel!
Olaf Westfeld
Ein Künstler, der mir eigentlich gut gefallen müsste. Dann höre ich die Musik – und es macht nicht klick. Manchmal wundere ich mich später, wieso mir das nicht früher gefallen hat. Vielleicht geht mir das mit dem sympathischen Herrn Dawson ja auch noch irgendwann so.
flowworker
Der beste Eintieg für Newbies und Returner ist Boxing Day Sales, der imo mit der Zeit so anrührend wird eines der in dem Song verschmähten Weihnachtslieder…. und Dick im Schaufenster mit Gitarre ganz unbeweglich, das hat Charme! Die Musiker bei diesem Song und ihre Instrumente:
Richard Dawson – guitar, voice
Andrew Cheetham – drums
Faye MacCalman – clarinet bolts of lightning
Norbert Ennen
Die Platten, bei denen es später klick macht, sind nach meiner Erfahrung die besten,
flowworker
In other words: the „silent grower“ is waiting for your attention.
Olaf Westfeld
Ja, die Alben wo es nicht sofort zündend sind oft langlebiger, auch meine Erfahrung.
Aufmerksamkeit hat Herr Dawson schon bekommen – vielleicht wird es ja was mit dem neuen Album und mir.