„Thinking Music“

Beth Gibbons‘ erstes richtiges Soloalbum ist das lange Warten wert gewesen. Es ist ein kühles, tiefgründiges Set verträumter Folk-Exotica-Beschwörungen, eine seltene Platte, die sich mit den Ängsten und Schmerzen des Erwachsenseins auseinandersetzt und verknotete Emotionen in einer flatterhaften, straffen Instrumentierung und rauchigen, samplebereiten Cinematics seziert. Atemberaubendes Material, produziert von Gibbons in Zusammenarbeit mit James Ford und Lee Harris von Talk Talk.

(So beginnt die zweite Besprechung, die man im Netz finden kann. Bei Boomkat gibt es oft „reviews“, und sie leisten bei diesem Plattenversand sehr gute Arbeit. Gäbe es nicht durch den Zoll massiv erhöhte Preise, und Verzögerungen bei der Lieferung, würde ich viel öfter bei den Briten Musik ordern. Ich kommentiere hier Absatz für Absatz, und ändere nichts an der Deepl-Übersetzung. Interessant, wie der Rezensent Beschreibungen koppelt, die widersprüchlich wirken können: flatterhaft vs. straff, Folk vs. Exotika. Dass die Lieder wie „Beschwörungen“ wirken, kann ich gut nachempfinden.)

Gibbons hat sich bis zum richtigen Moment zurückgehalten, um ihr formvollendetes Debüt zusammenzustellen. Ihr Songwriting kennen wir natürlich schon, nicht nur von der makellosen Portishead-Trilogie, sondern auch vom 2002er-Album „Out of Season“ und dessen Nachfolger „Acoustic Sunlight“, beides Kollaborationen mit Talk Talk-Bassist Paul Webb (alias Rustin Man).

(“Acoustic Sunlight“, davon habe ich noch nie gehört. „Formvollendet“, da stimme ich auf Anhieb zu, ohne lange über den Begriff nachzudenken.)

„Lives Outgrown“ erweitert ihre Technik ein wenig; ihre früheren Kollaborationen bleiben im Schatten, aber dieses Album ist unapologetisch intim und verpackt Geschichten über Liebe, Bedauern und Unruhe in gedämpfte, melancholische Extravaganz. Es ist nicht so vordergründig staubig wie das Portishead-Material oder so sehnig wie ihre Platten mit Webb, sondern eine zerschundene, nachdenkliche Sammlung verletzlicher Reflexionen, die von Musik untermalt wird, die sanften, archaischen Folk, frühen Jazz, Exotica aus den 70ern und düsteren Post-Rock anklingen lässt.

(Wenn ein Album wie dieses schubladenmässig schwer auf den Begriff zu bringen ist, werden gerne Genrenamen mit beiläufig daherkommenden Adjektiven aneinandergereiht, was nicht kritisch gemeint. Dabei entsteht eine angenehme Unschärfe, die unsere Wahrnehmung in bestimmte Richtungen lenkt, ohne die Fantasie einzuengen. Wo ist der „frühe Jazz“ zu hören? Aha, mein geliebtes unscharfes „archaisch“, hier mit „sanft“ gekoppelt. Und dann: „eine zerschundene, nachdenkliche Sammlung verletzlicher Reflexionen, die von Musik untermalt wird…“. „Untermalt“ würde ich hier nicht sagen. Das klingt mehr nach Hintergrundbegleitung. Die Musik um den Gesang herum ist viel mehr als ein „Geschmacksverstärker“, ich erlebe sie hier als „Erweiterung“, „zweite Ebene“, doppelter Boden“.)

Es ist die Art von Material, die Gibbons während ihrer gesamten Karriere angepriesen hat, und zwar so sehr, dass es vertraut erscheint; die Songs haben eine lebendige Qualität, nicht weil sie von anderem Material geklont wurden, sondern weil sie die vollständig realisierten Versionen von Gedanken sind, über die Gibbons seit Jahrzehnten nachgedacht hat.

(Das ist ein interessanter Gedanke. Wir erkennen die Handschrift, aber die Songs wirken auch deshalb so lebendig, weil diese ewig in ihrem Raum schwebenden Gedanken / Empfindungen noch nie so vollständig realisiert wurden. Das „Formvollendete“ wieder mal. Nach den dunklen Andeutungen von Beth Gibbons im offiziellen „presskit“ kommen übrigens einzelne HörerInnen des Albums zu dem Schluss, es könne sich hier um ein Abschiedswerk handeln.)

Die Vorab-Single des Albums „Floating on a Moment“ ist ein logischer Anfang. Gibbons‘ Stimme klingt exponierter als je zuvor; die brodelnde, von Nina Simone beeinflusste Traurigkeit, die Portishead zum Kultstatus verholfen hat, ist immer noch da, wird aber durch Erfahrung, Angst und Kummer verstärkt. Ihre Produktion ist ähnlich ausbalanciert: dicke jazzige Basslinien unterstützen federleichte, scheppernde Drums, während die versilberten Breitwandqualitäten, die ihr früheres Material beflügelten, sich zu subtilen Chorälen, klirrenden Streichern und leisen Xylophonen entwickelt haben – mehr Jean-Claude Vannier als Ennio Morricone.

(Ob es eine von Nina Simone beeinflusste Traurigkeit gibt, die Portishead zum Kult verholfen hat, bezweifel ich. Vielleicht ist da ein besondere Grundtraurigkeit in ihrem Gesang gemeint , ein spezielles „Soundfeld von Melancholie“, sofort erkennbar. Wem wurde je attestiert, die traurigste Stimme der Welt zu haben. Zu diesem raren Kreis wurde mal Robert Wyatt gezählt, und zwar nicht selten, auch Beth Gibbons. Und, by the eay, auf dem Album ist „Floating On A Moment“ übrigens das zweite Stück, und ich bin kein Pfennigfuchser. Das Album beginnt mit dem Song / der Beschwörung „Tell me who You Are Today“ (ein noch logischerer, psycho-logisch noch passenderer Anfang des Albums ist das). Und passend zu dem Titel und der Lyrikweberei dieses Songs: schau dir das Cover an: vier Portraits ihres Gesichts, mit geöffneten, geschlossenen Augen. Zunehmende Unschärfe. Ist überhaupt eins scharf, und wirkt das schärfste nicht seltsam maskenhaft?! Dunkler Hintergrund. Insichgekehrtheit. In weiteren Fotos (auf der Pressemappe) fällt auf, wie unscharf ihr Gesicht hier und da wirkt, gegenüber der extrem scharf eingefangenen Natur ringsum. Warum?)

Die Liebe verändert die Dinge“, versichert sie in „Lost Changes“, das zunächst einen raffinierten Alt-Country-Schimmer aufnimmt, bevor epische Orchesterstreicher das überwältigende Melodrama unterstreichen. Im Hintergrund ist mehr los, als man auf den ersten Blick sieht – langsame, hart geschwungene Drums werden durch clevere Avantgarde-Elemente wie quietschende Metallplatten und instabile Oszillator-Drones ergänzt. Oberflächlich betrachtet handelt es sich um Popmusik, aber wenn man den Mutterboden aufreißt, kommen Gibbons‘ tiefere Einflüsse und Inspirationen zum Vorschein wie eine Masse verschlungener Wurzeln.

(Den Absatz kann man gerne zweimal, dreimal lesen. Und da deckt sich etwas mit meinem Hören. Diese zuweilen explodierenden kurzen Passagen des Melodramatischen. So einen Satz mit aufreissendem Mutterboden muss einem erstmal in den Sinn kommen! Welche tieferen Inspirationen meint der Rezensent wohl?)

Reaching Out“ ist sogar noch zerknitterter; Gibbons‘ obere Stimmlage erinnert zunächst an Thom Yorke, aber sie verdoppelt das Tempo und weint schmerzhaft über Northern-Soul-Bass-’n‘-Drum-Drums und blecherne Fanfaren. „I need your love, to silence all my shame“, echot sie, während im Hintergrund geisterhafte Spuren keuchen, wimmern und sich drehen.

(Hier wird es schonungslos intim. Rollenspiel ist das nicht. In einem Werk, in dem das Ich als zweifelhafte Grösse erscheint, kommen, zahlreich, zerknittert, aus Träumen geborgen, die Schatten ins Spiel, als dunkler Reigen.)

Während das frühe Portishead-Material auf den Sample-Bombast von Public Enemy in ihrer Blütezeit zurückgeht, ist „Lives Outgrown“ eher dem unheimlichen Minimalismus von RZA geschuldet, mit seinen schwingenden Streichern und kryptischen, schrägen Sprüchen. Schauen Sie sich nur „Reaching Out“ an, ein gespenstischer Folk-Nieselregen, der mit knochentrockenen fernöstlichen Schlagzeugklängen, Gesangsschleifen und wirbelnden Streicherphrasen unterbrochen wird. Auf „Beyond the Sun“ und „Rewind“ streift Gibbons Nordafrika und Ostasien, wobei sie ihren zerbrechlichen Gesang in ein lokales Gewirr aus Rohrblattklängen, blechernen Saitenzupfern und kantigen Streichern mischt.

(Jetzt gehts aber rund: Nordafrika, Asien. Keiner aber wird hier „weltmusikalische“ Versöhnungen wittern… und doch ist es das Mysterium dieses Albums, dass es, bei allen Abgründen, Trost bereithält, und ganz sicher nicht, weil an den passenden Knöpfen gedreht wurde.)

Auf dem pastoralen Schlussstück des Albums, „Whispering Love“, ist sie zu Hause: „Blätter unseres Lebensbaums, wo die Sommersonne immer durch die Bäume der Weisheit scheint“, gurrt sie, während Vögel singen und akustische Gitarren neben beruhigenden Flöten vibrieren. Es ist ein moosiger Abschluss eines Albums, das drei Jahrzehnte musikalischer Wanderschaft zusammenfasst und einige der ernüchternden Weisheiten, die sie gelernt hat, auf höchst einprägsame Weise vermittelt.

(Wohl nahezu jeder, der den Auftrag gehabt hätte, wäre mit diesem Lied, dieser Anrufung, als Abschluss dahergekommen, der ideale „closer“. Als ich das Album zum ersten Mal gehört habe, von Anfang bis Ende, war ich mir sicher, dass „Lives Outgrown“ fortan an meiner Seite ist, company for life.)

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