• Richard Dawsons „Endspiele“

    Nach The Ruby Cord, einem 80-Minuten-Album, das in einer halluzinatorischen VR-Zukunft spielt, konzentriert sich Richard Dawson hier auf kleinere Dinge: nämlich auf das alltägliche Trauma von Familien am unteren Ende der Mittelschicht. Dennoch ist sein Songwriting so kraftvoll und bewegend wie eh und je, mit all den düster-komischen Anklängen, für die er bekannt ist. Auch musikalisch ist End Of The Middle zurückgenommen, in seiner Sparsamkeit vom frühen Neil Young inspiriert, mit markanten Free-Jazz-Holzbläsern, die Dawsons romanhafte Erzählungen beleuchten. „Gondola“, ‚Bullies‘ und ‚Removals Van‘ deuten ganze Welten an, bevor ‚More Than Real‘ in tränenreichem Technicolor schließt.

    So die kleine Besprechung von Tom Pinnock in der Februarausgabe von UNCUT. Einige von uns kennen diesen Song-Exzentriker seit Jahren, jetzt legt er einen Songzyklus vor, der in anderer Weise als Wim Wenders‘ „Perfect Days“ von dem japanischen Regisseur Ozu inspiriert ist. Ich wittere hier auch mehr als einen „touch of Beckett“ und erinnere mich, wie wir bei unserm Englischlehrer einst Becketts „Endspiel“ lasen und interpretierten!

    Ich habe das Album bereits hören können – ein Songvideo („Polytunnel“) habe ich in meinem „Echo“ auf Enos Songseminar verlinkt. Dass die lyrics kleine Welten kreieren, in einer dem „normalen Alltag“ entnommenen Sprache, die durch ihre Kombination mit überraschenden Wendungen eine besondere Kraft entfaltet, ist ein wirklich gekungener Kunstgriff von „songwriting“. In comment 1 die lyrics des Liedes „Gondola“. Dieses Lied, in dem eine frei flottierendes Klarinette wundersam herumgeistert, endet mit folgender Strophe – und einer etwas anderen Venedig-Impression!

    Meine Träume starben wie Delphine in einem Netz.
    Ich konnte nie nach Venedig fahren
    und wie viele Sommer habe ich noch vor mir?
    Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich eine Oma bin.
    Jen hat gerade ihre Fahrprüfung bestanden.
    Ich werde ein paar tausend Pfund
    in ein Auto investieren
    und mit ihr in den Urlaub fahren –
    „making memories“, bevor es zu spät ist.
    Da sind wir nun, unter der Rialto-Brücke,
    zusammengekauert in einer Gondel.

    Ich möchte HIER noch einen weiteren Song aus „End Of The Middle“ vorstellen. Am besten nicht einfach kurz reinhören, und schnell entscheiden, sondern vielleicht erst mal die lyrics im Vorfeld lesen (das Original, und eine rasche Deepl Übersetzung folgt in Kürze in Comment 2), und dann den Song in Ruhe aufnehmen. Richard Dawson gehört zu den interessantesten „Leftfield“-Songschreibern Englands, ein sympathischer Coldplayfan wird rasch die Flucht ergreifen, und auch mit der Stimme müssen sich (man muss natürlich gar nichts) manche ggf. erstmal anfreunden. Dann aber könnte – ich sage „könnte“ Dauerhaftes entstehen.


    Es ist schon toll, was Domino seit Jahr und Tag publiziert (zuletzt das editorische Mammutmeisterstück „G stands for Go-Betweens, Vol. 3“, ein Boxset, der schneller ausverkauft als besprochen wurde), auch Robert Wyatt (in manchem ein Seelenverwandter von Robert Wyatt) hatte da in seiner letzten Schaffensphase eine Hafen gefunden. Und von wem stammte das Album des Jahres 2024 in den Ohren von drei, vier Flowworkern?! Bingo! Und sonst, anno 24: John Cale, Julia Holter, Jon Hopkins, Hayden Thorpe, Bonny Prince Billie (bald eine neue Scheibe) und und und…. Nochmal zurück zu Richard Dawson am 14. Februar erscheinendem Album, das auch eine Brücke schlägt zu Michael Leighs Filmen, zu den alten Erzählungen von Alan Sillitoe – wer erinnert sich noch (auch eine Verfilmung gab es) an „The Lonliness of The Long-Distance Runner“. In den Worten von Richard: . “It zooms in quite close-up to try and explore a typical middle class English family home,” Dawson said in a statement. “We’re listening to the stories of people from three or four generations of perhaps the same family. But really, it’s about how we break certain cycles. I think the family is a useful metaphor to examine how things are passed on generationally.”

  • Die letzte Endeckung des Jahres

    Tommy Perman und Andrew Wasylyk made a wonderful album on Clay Pipe Music, and they will be my first interview partners in 2025. „Ash Grey And The Gull Glides On“ will be, simply said, a revelation for all friends of Cluster, Moebius & Roedelius with or without Eno, Boards of Canada, the moody side of experimental electronica, though it sounds different from all names mentioned, and never strolls along well troden paths. You can easily fall for this album full of surprises and sidesteps – the old playbook doesn‘t work here. A little wonder.

    Einer schreibt, und so launig versuchen manche Kritiker zu umschreiben, was sie hören, mit Stichwörtern und Vergleichen, die allesamt ein wenig hinken und treffen zugleich. „Das eröffnende, gedämpfte, flatternde Climb Like A Floating Vapour beginnt fast wie Dub-Techno, bevor Saxophon und Klavier es in etwas verwandeln, das an eine moderne Soft Machine erinnert.“ Oder : „“Remain In Memory“Full Of Light ist ein sehr cooler Kontrabass-Groove. Das Stück, das sich um mehrere Mantras – „Hand zu Hand, Herz zu Herz“ – gruppiert, bewegt sich in einem Bereich zwischen den US-Post-Rockern Tortoise / Isotope 217 und Sun Ra’s Twin Stars Of Thence“.Ash Grey And The Gull Glides On“ ist im Nachhinein bei meinen zwanzig Lieblingsalben des Jahres gelandet.

  • An Acrobat‘s Heart


    I met her back then in Munich (in the summer of 2000), and she told me, at one point, about sensitive moments in the production. Once, in the morning, she felt her energy waning, couldn’t make the appointment, everything was up in the air. Manfred Eicher carefully knocked at her door. Helpful words, encouragement. It ended well. Fortunately. By the way, she never got together with Brian Eno (they would have made an interesting pair in the studio), but once, early in the seventies, he lent her a wonderful pair of old horn loudspeakers, she fell in love with their sound and never gave them back.

    In meinem Jahresrückblick tauchen ungewöhnlich viele Frauenstimmen auf, aus lang vergangener wie heutiger Zeit, Julia Holter, Laurie Anderson, Feliciá Atkinson, Jessica Pratt (you miss something between „Twin Peaks“ and „deep, deep mood music“ if you miss Jessica‘s „Here In The Pitch“), Beth Gibbons, Joni Mitchell, Anne Briggs, Annette Peacock. All diese Alben haben für mich etwas Unwiderstehliches, und ich kann nie anders, als sie am Stück zu hören. Vor Tagen lauschte ich wieder einmal Laurie Andersons „Hörspiel“ über den letzten Flug von Amelia Earhart, und war so gefangen von ihrem stimmlichen Vortrag, dass ich Raum und Zeit um mich vergass, in ihrer alten Klapperkiste, auf ihrer allerletzten Reise.

    Und am Tag darauf kam Annettes letztes Songalbum bei mir an, das im Jahr 2000 entstand. Erstmals nun als Schallplatte, genauer gesagt, als Doppelalbum, in der ECM-Reihe „Luminessence“. Makellose Pressung, exzellenter Sound (was ja nun keine Überraschung ist). Neben ihrem Gesang ist Annette am Piano zu hören, allein das Cicada String Quartet begleitet sie. Jan Erik Kongshaug sitzt am Mischpult, und Manfred Eicher ist der Produzent im Rainbow Studio. (Those were the days.)

    Einst, in ihren jungen Jahren, war sie eine so eigensinnige wie sinnliche Erscheinung. Viele Männer hielten Hof, Timothy Leary war einer von ihnen. Obwohl mir ihre skurrile „Annette Peacock Paul Bley Synthesizer Show“ als Album stets ein Rätsel blieb, das vielleicht nur Konrad Heidkamp und das Liebespaar Bley – Peacock entschlüsseln konnten, waren ihre Soloalben durchweg wagemutige, auf seltsame Art zugängliche, wundervolle, ja, genau, wundervolle Trips, die nie einem einzigen Stil treu blieben und brisantes Fremdgehen betrieben zwischen Funk und Free Jazz, Blues und Elektronik, Avantgarde, Rock und ganz und gar unklassischem Songwriting.

    Wie betörend ihre Kompositionen sein konnten, brachte Paul Bley etwa auf „Open, To Love“ zu Gehör, allein am Klavier. Jahrzehnte später Marylin Crispell mit „Nothing Ever Was, Anyway – Music of Annette Peacock“. Für das kammermusikalische Szenario von „An Acrobat‘s Heart“ (mit einem Hauch von Folk, den ich nie ding- und ortfest machen kann), gab es einmal mehr keinen Vorläufer unter ihren eigenen Alben, und unter anderen sowieso nicht. Klappt man das Gatefold-Cover auf, finden sich die lyrics, die wider allen Mainstream-Empfindsamkeiten, Liebesdingen und Erinnerungen auf den Grund und Abgrund gehen – die Bilder der Worte so elementar, so klar, und doch kaum zu fassen. Fragile Sphären, unzerbrechlich!

    Ich traf sie damals in München, und sie erzählte da auch von sensiblen Momenten der Produktion. Einmal, morgens spürte sie ihre Energie schwinden, konnte den Termin nicht wahnehmen, alles hing in der Luft. Es nahm ein gutes Ende. Zum Glück. „An Acrobat’s Heart“. Mit Brian Eno ist sie übrigens nie zusammengekommen (das wäre auch ein interessantes Paar im Studio gewesen – die „Annette Peacock Brian Eno Synthesizer Show“ hätte ich zu gerne erlebt), aber einmal, früh in den Siebzigern, lieh er ihr ein wunderbares Paar alter Hornlautsprecher, sie verliebte sich in ihren Sound, und rückte sie nie wieder raus.

    (monthly revelations, „Archive“, January 2025)

  • „Getting there – an invitation“ – archival discoveries & reissues (2023 & 2024)

    Legen wir einfach mal los. Dank Jans Buch habe ich „Autobahn“ in diesem Jahr so oft gehört wie damals, als es uns ins Staunen und Schmunzeln versetzte. Die Beatles waren schon vier Jahre Geschichte, und alle fragten sich: wo geht die Reise hin? Blicken wir in die ferne Vergangenheit, dies war, vor einem Jahr, „mein“ 2023, in der Abteilung „time travels“. In Matala entdeckte ich mein Faible für Al Stewarts „Year Of The Cat“ wieder. Wir können, in die Jahre gekommen, leicht vorwärts und rückwärts durch die Dekaden springen. Am Ende macht die Zeit einen Narren aus allen von uns. „The fool on the hill“. Das ist keinesweges sarkastisch, allein mit bitter nötigem Humor versetzt. Man darf sich weiterhin fragen: Wo geht die Reise hin? In welcher Sprache gibt es 50 Ausdrücke für Wehmut, 50 für Exstase? 50 für Verbundenheit?

    01. Nana Vasconcelos: Saudades
    02. Keith Jarrett: Bremen / Lausanne
    03. Jon Hassell: Further Fictions
    04. Don Cherry et al: Old And New Dreams
    05. Hiroshi Yoshimura: Surround 
    06. Alice Coltrane: Journey In Satchidananda 
    07. Pharoah Sanders: Pharoah
    08. Dorothy Ashby: The Rubayat Of Dorothy Ashby
    09. XTC: Chrome Dreams
    10. Meiko Kaji: Hajiki Uta 

    11. Frank Zappa: Over-Nite Sensation (surround)
    12. Gary Burton: The New Quartet
    13. Neil Young: Chrome Dreams


    In der Sprache der Musik natürlich, 50+! Und das ist, was alte Zeiten angeht, zwischen gar-nicht-so-weit-hergeholt und Teenagerjahren, meine Zeitreisensammlung 2024. Einiges habe ich damals gehört, einiges ging an mir vorbei. So kannte ich von „Band on The Run“ nur zwei Hits, bis mir diese wunderbare „Packung“ vor die Ohren kam.

    My shining star is Ank Anum‘s dyabhingi-fuelled discovery from old London years (1973 again). AnkAnum’s is more suited to a Rastafarian groundation session replete with chalice and enough ganja to rewrite the laws of physics. 

    Keith Jarretts Standards war ich nach dem Zauber des Anfangs (Standards, Vol. 1, Vol. 2, Changes) bald so leid, dass ich fast eine Bebop-Allergie entwckelte. Nach langer Zeit hörte ich erstmals wieder genau hin, und die pure Spielfreude seines Auftritts in einem geliebten kleinen Jazzclub brach alte Barrieren. Läuft morgen im Toyota, auf dem Weg in die tiefe Eifel! Natürlich dabei, Klaus Walters‘ „Autobahn“!

    Sowie „New Ancient Strings“: „After an hour or more spent chasing out the chirping crickets, it was midnight before tranquility was achieved and recording could begin. Toumani and Ballaké played through the night, entirely live, without second takes, improvising around tunes from the classical Mande repertoire. By seven the next morning, the album was done.

    Jakob Bros traumhaftes Album „Taking Turns“ hätte auch zu den „archival discoveries“ gespasst, aber ich bringe dieses Werk von 2014 bei den „neuen Alben“ unter.

    Exzellente Surround-, Quad-, und Atmos-Remixe gab es neben King Crimsons „Red“ auch von einigen Joni Mitchell-Alben, von Airs „Moon Safari“ und von „Yoshimi Battles The Pink Robots“ sowie Randy Newmans „Good Old Boys“.

    Womöglich erreicht mich erst kurz vor Weihnachten „G stands for Go-Betweens, Vol. 3“. Das grosse traurige erhebende Finale der wundervollen Songschmiede aus Brisbane.

    01. Ank Anum: Song Of The Motherland
    02.The American Analog Set: New Drifters 
    03. Alice Coltrane: The Carnegie Hall Concert 
    04. Taylor / Winstone / Wheeler: Azimuth
    05. Paul McCartney and Wings: Band On The Run 
    06. Jan Garbarek: Afric Pepperbird 
    07. Can: Live in Paris 1973 

    08. Günter Schickert: Samtvogel (ENTDECKUNG!!)
    09. Peter Thomas: The Tape Masters, Vol. 1
    10. Julie Tippetts: Shadow Puppeteer
    11. Byard Lancaster: The Complete Palm Recordings 1973-74
    12. Toumani Diabate / Ballake Sissoko: New Ancient Strngs

    13. Keith Jarrett / Gary Peacock / Paul Motian: The Old Country


    Next door to Alice: A guest appearance now from UNCUT making an important point in regards to Alice Coltrane. Her music can open up gates of perception, simple as that, and you don’t have to follow her Hindu way or any other religion to reach a deeper state of mind. Peace, calmness, whatever. A healthy dose of paegan basics, or even pure existenzialism with a smile and an open ear: nothing more required. By the way, don‘t take my ranking too serious – it‘s a simple meditation, like playing solitaire by the window. Alice Coltrane is present here in both years, in that Carnegie night, and on her Journey In Satchidananda, an album that goes deep as deep can go. And what a stellar ensemble, Cecil McBee‘s bass wizardry on the title track, for example.

    „FINALLY, it appears that Alice Coltrane has taken her deserved place at the top table of 20th-century musical icons, alongside her illustrious husband. Rifle through Uncut’s best albums of 2024 and her influence is everywhere – not just on harpists like the amazing Nala Sinephro and Brandee Younger (who makes several key contributions to Shabaka’s recent album) but on artists as diverse as Julia Holter, The Smile, Arooj Aftab and Dirty Three.

    Recorded live in New York in the same month as the release of her spiritual jazz touchstone Journey In Satchidananda, it featured the first two tracks from that album blissfully spun out to more than twice their original length with the help of an expanded ‘double quartet’, including the likes of Jimmy Garrison and Clifford Jarvis. But it’s on an incredible version of John Coltrane’s “Africa” – with Alice having switched from harp to piano – where dual saxophonists Pharoah Sanders and Archie Shepp really earned their corn, trading blazing solos for almost half an hour with no let-up in intensity. 

    “The spirit was there at all times,” recalled bassist Cecil McBee in the liner notes. “I’ve never heard anything that I played that was more intense… It was absolutely amazing.” Listening back today, it’s hard to disagree.“

  • „Found In Transition“ (feat. Henning, Rosato, and me)

    Ein kleiner Rückblick. Springen wir kurz ins Jahr 2013. In den Avatar Studios entsteht der dritte Teil einer Trilogie des dänischen Gitarristen Jakob Bro. HIER die Komposition „Vinterhymne“. Es findet sich auf seinem vorzüglichen Werk „December Song“. Diese drei Alben erschienen alle auf Bros eigenem Label, und „December Song“ wurde ein gefeiertes Album der Musikkritik – auch Henning schrieb Einfühlsames über „December Song“. Auf jedem dieser drei Alben kam es zu einer kleinen Veränderung des Personals, zu den konstant Anwesenden zählten Lee Konitz, Bill Frisell, sowieso Jakob Bro – und der „spirit“ von Paul Motian, der zu Beginn der Trilogie, auf „Balladeering“, noch physisch präsent war. Lee Konitz erlebte im Kreise dieser „Cracks und Legenden“ ein spätes Karriere-High, und Henning zitiert Konitz mit folgenden Worten:

    „Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, von Lennie Tristano, Lester Young und all den großen Jazzspielern beeinflusst zu werden, und plötzlich spiele ich ganze Noten und halbe Noten und Akkordfolgen, und ich weiß nicht, warum. Es ist keine Volksmusik, kein Jazz, keine Popmusik, kein Funk, es ist einfach nur Balladenspiel oder was auch immer.“ 

    Was auch immer…. Mit Blick auf eine grossartige Interpretation eines Carla Bley-Stücks schrieb Henning am Ende seiner Besprechung in „Allaboutjazz“: „‚December Song‘ is not just more of the same but opens up a still broader spectrum on a higher level.“

    Auf diesen drei Alben entwickelte sich eine enorme Empathie der Musiker untereinander, quasi telepathisches Verstehen, das Aufgreifen unausgesprochener Gedanken und ungespielter Klänge – und es war nur folgerichtig, im Jahr darauf einfach noch einmal ins Avatar Studio zu gehen: was die Besetzung anging, nahm Jason Moran die Stelle von Craig Taborn ein, und einen passenderen Schlagwerker als Andrew Cyrille konnte man sich für jene Session nicht erträumen Das Album wurde eingespielt, erschien aber nicht.


    Manfred Eicher kannte wohl diese Aufnahme, wollte aber Jakob Bros Einstieg bei ECM mit einer ganz eigenen Produktion beginnen, und es erschien schliesslich „Gefion“ im Jahre 2015 (produziert noch vor den „Taking Turns“-Sessions im November 2013 in Oslo), mit ECM-Urdrummer Jon Christensen, und Thomas Morgan an der Seite des dänischen Gitarristen. Eine Reihe ganz und gar fesselnder Alben folgte, aber erst jetzt, im Herbst 2024, Ende November, erblickt jene alte Session unter dem Titel „Taking Turns“ das Licht der Welt.

    Das Cover macht klar, wer da alles den Ton angibt, obwohl das wohl etwas zu forsch formuliert ist. Wer die alte Trilogie kennt, weiss, dass mitunter die tiefste Musik entsteht, wenn das Ego vollkommen zurückgenommen wird. „Taking Turns“ treibt solche Selbstlosigkeit alias Hingabe noch einmal auf die Spitze. Traumhafter Jazz, nichts weniger! In den JazzFacts Anfang Dezember stelle ich das Album im Deutschlandfunk vor, das als LP, CD und DL vorliegen wird. Und natürlich mit frischen O-Tönen von Jakob Bro. Soviel möchte ich ergänzen: „Taking Turns“ is not just more of the same, but opens up a still broader sprectrum on a higher level.“ Rosato spielte ich das Album vor, und er merkte an: “Was für eine melodische und klangfarbige Polyphonie – sowas bewegt mich!“


  • „Ness“



    Es gibt solche Räume der  Natur, zuhauf,  in denen sich die dunkle Historie und die Pracht der natürlichen Welt überlagern, verdrängen. Um einen solchen Raum in Suffolk / Norfolk / East Anglia geht es in der „prose poetry“ von Robert Macfarlane. Keine 100 Seiten lang ist dieses Büchlein, und noch hat sich kein Verlag herzulande an die deutsche Übersetzung getraut. Umso bewundernswerter, dass sich der Musiker und Komponist Hayden Thorpe dieser Arbeit genähert hat, in der sich alte und neue Zeiten spiegeln, Todesgefahr, Bombenbau, kalter Krieg. Die Zeiten haben sich nicht geändert, dort aber ist mittlerweile alles, soweit möglich, „renaturiert“. Einmal mehr, nach W. G. Sebalds „Die Ringe des Saturn“, eine fesselnde Wanderung durch Küstengebiete im Südosten Englands: Geschichtsstunde, Meditation, Songrreigen in einem. Was drohen da alles für Fallen (frömmelnde Erhabenheit, ein Himmel voller Geigen, und mehr) – nur scheint mir Hayden Thorpe in keine einzige getappt zu sein. „Ness“ (LP, CD, DL) ist ein Klassealbum.

    (P.S. „Meine“ Ausgabe der Klanghorizonte im März (Deutschlandfunk, 25.3., 21.05 Uhr) wird – neue „Spielregel“ – nur Alben vorstellen, die zwischen dem August 2024 und April 2025 rauskommen. Also keine „reissues“ (ausser, evtl., einem alten, zeitlosen Stück Musik, das ich im Rahmen von Joe Boyds neuem Buch „And The Rhythm Will Remain“ spiele (aus Kapitel 4, „Latcho Drom“)) – und wenn der Veröffentlichungsrahmen schon so weit gespannt ist, komme ich im März gerne auf solche „in between“-Alben zurück wie Laura Cannells „medieval trips“ oder Haydens „Hauntology“. Die leider nur wenig „airplay“ bekommen. Egal wie weit entfernt die Quellen: alles wird in einen „ocean of sound“ münden, und einer Portion „storytelling“.)

  • “Latchi drom“ – an introduction to a parallel reading experience

    „Late in the first half of Ravi Shankar‘s first New York recital on a 2 February 1957 at Town Hall, Dick Bock fell asleep. Shankar‘s brilliance that evening inspired critics to compare him to Western critical masters and jazz greats, but Indian‘s music immense impact on the West can be traced directly back to Bock‘s doze.

    Richard Bock was an early iteration of the West Coast hipster, a hash-smoking bebop buff who had started the Pacific Jazz label a few years earlier to record Gerry Mulligan‘s new quartet with Chet Baker. He was in New York that week, to meet George Avakian, the head of jazz at Columbia Records, hoping to talk him into becoming a partner; together, Bock felt, they could dominate the expanding jazz market. When Avakian went to check out the sitar master Yehudi Menuhin was raving about, Bock tagged along.

    With about a third of the seats filled, the concert was a commercial flop, but the audience was enthusiastic and Avakian so intrigued by the parallels to jazz that he offered Shankar a deal to make an album for Columbia. [that was 15 years ahead of me, buying a Ravi Shankar album appeared on the Beatles’ Apple Record label; Anm. v. Michael Engelbrecht, see cover photo] It was Bock, though, who would be the key to Ravi‘s international future. Had he dropped out of boredom? Not at all; Indian music, he explained, „put the listener ina relaxed mood and calm state of mind, which carries him into an area of serenity“. Bock may have then lacked the sixties vocabulary, but he responded as millions would a decade later; he had „tripped out“ on Indian classical music.“

    [Any doubts about tripping out? Then listen, and be one of the millions, HERE!] This is the beginning of chapter 4 (pages 282 – 382) and what you‘ve read by now is close to 1/900 of Joe Boyd‘s „And The Rhythm Will Remain – a journey through global music. And as all chapter work independantly from one another, we choose chapter 4 as the content of our fabulous next parallel reading adventure.

    Who apart from Brian W. , Michael E. and Olaf W. (just agreed!) will join the reading crew…. those who join the circle will, amongst else, see what the music of Ricardo Baliardo and a Romafest in Paris have to do with Bob Dylan‘s „One more cup of coffee“but, then again, who needs an appetizer for a book written by the man who gave „White Bicycles“ to the world?

    The parallel reading takes place between November 2 and November 23. Four weeks. Every participant has to answer four questions every week (as short or as long as he or she wants them to be). The questions are always the same, and the hundred pages will be read in, well, 4 parts.

    1. What did really take you by surprise! (Name one, two, or three „wow“-factors!)
    2. How do you experience to listen to an album you can choose freely from the pages you‘ve been reading?
    3. What is an interesting connection you haven‘t been conscious about before?
    4. How do you respond to Joe Boyd‘s writing (content / style, whatever)?

  • Rarities of Sky


    I remember the seaside, smoking
    a pipe while reading a paperbook
    about how to smoke a pipe.
    I stranded, the tongue too hot, that
    Scottish Blend a festival of fragrances,
    under the palms of Paignton,
    hunting for words, rhyming plums
    and rums in 1971. All from my picture book,
    in which all, there is, is
    vanishing. Clouds playing
    solitaire in the rarities of sky,
    far away, too, the sounds of
    a gambling hall with that song
    I love so much, on tip of the tongue.

    (Im Umfeld der Aufnahmen zu seinem letztjährigen Album, das ich für eines seiner schönsten halte, enstanden auch die acht Stücke von „the skies: rarities“. Rund 30 Minuten ist dieses Minialbum lang, und es umfängt mich genauso wie der grosse „Vorgänger“. „Above and Below“ ist für mich ein „instant classic“, die Solopianoversion von „Through The Blue“ ein mit Understatement gespielter Evergreen, der Lust bereitet, wieder sein Debut „Voices“ aus dem Regal zu holen, das einst Bruder Brian mit Dan Lanois in Hamilton, Ontario, produzierte. Übrigens zähle ich das auch zu seinen schönsten Alben. Das kleine Gelegenheitsgedicht schrieb ich, und feilte daran, während das Album dreimal von vorne bis hinten lief. Roger Eno ist ein grosser Wanderer an den Küsten von Suffolk, und ich mischte da eine ferne Erinnerung auf, an einen unvergesslichen Nachmittag an der Küste von Paignton, an dem, bis auf mein Abenteuer mit der Pfeife, rein gar nichts passierte. Ich war 16, und die Baskenmütze auf meinem Kopf habe ich verschwiegen, es wäre auch zu peinlich 😂…)

  • Sheltering Skies (2 – short review of double vinyl)

    27. Juli 1982 an der Cote d‘Azur. King Crimson touren mit dem neu formierten Quartett (Fripp, Belew, Bruford, Levin) durch Europa, meist zusammen mit Roxy Music, und machen Station in Fréjus. Wenn Platten besprochen werden, besteht ein wiederkehrendes Lieblingsmotiv der Musikkritk in dem Ausdruck „dead quiet vinyl“. Nun, diese 200 Gramm-Pressung kommt dem nahe – die komplette Aufnahme ist von roher Direktheit, hyperrealistisch fast, und wer die studiotechnischen Brillianz und Balance der drei Platten des Quartetts kennt, nimmt hier erst mal Adrian Belews Härte 10 auf der elektrischen Gitarre zur Kenntnis, in den ersten dissonanzfreudigen Minuten dieses Doppelalbums. Das klingt und ist knallhart, kein Schmeichler zum Auftakt, und kein Röhrenverstärker würde für mildernde Umstände sorgen. Aber die Ohren adaptieren die Wucht. Das Quartett belegt mit diesem Aufritt einmal mehr, dass King Crimson wohl die einzige Gruppe aus der Ära des Progressiven Rock war, die sich vom Punkvirus äusserst kreativ inspirieren liess. Obwohl Robert Fripps neue Kompositionen einmal mehr ausgeklügelt, detailversessen und anspruchsvoll sind, wird hier rein gar nichts notengetreu abgeliefert. Oder makellos reproduziert. Alles kann jederzeit Feuer fangen. Und fängt Feuer. Deswegen macht hier auch eine andere Lieblingsformel der Musikkritik Sinn: play it loud!

  • “A painted horizon“

    „There‘s a real sense of being repeatedly slammed up against mortality by biology, especially on the salt-scoured „Oceans“. Gibbons sings of ovulation, and exhaustion, in an unusual porous, chalky register, the song ending with her sinking to the (rock) bottom of the sea, „not afraid any more“. If that all sounds bleak, it is. Yet „Lives Outgrown“ is also very beautiful not least when  Gibbons quietly sings „it‘s not that i don‘t wanto to return“, on Floating On A Moment‘s contemplation of death.“ (Victoria Segal, Mojo, June)

    From the start, all of her works have been collaborative. In the very early days when strolling through small venues and pubs, she often relied on a repertoire of classics, made famous by Nina Simone and Janis Joplin. Later on, in the Portishead years (that perfect trio with Barrow & Utley), the silences in between, and, after the fractured blow away zone of „Third“, out of another nowhere, „Out Of Season“, the album with Paul Webb aka Rustin Man. At last singing Gorecki – all teamwork: the intricacies of her voice, the surrounding sounds, the immaculate productions.  Landscapes she‘s been moving through. The urban darkness. The dystopia, the hometown. The hinterland. Between  „Dummy“ and „Out Of Season“ a archaic sort of melancholia took center stage, strangely uplifting, elevating. All the way through she led a reluctant life, never hurrying for fame. And now, after a career spanning three decades and more, her first proper solo album, and it comes a long as a sort of farewell.

    It took her (and her fabulous companions, former Talk Talk drummer Lee Harris, producer and multi-instrumentalist James Ford, and a well-chosen crew, Raven Bush on cello and violin amongst them) ten years from first sketches to final mixes. Beth’s singing now reaching out so far and deep – not heard that vocal range before. Hypermelodic and far, far out at the same time. Restrainment and passion all over the place (clash of polarities). From a distance, vibes of „The Wicker Man“ and ancient incantations . „Lives Outgrown“ is a unique achievement of kindred spirits, the darkest campfire chamber music we may have heard in quite a while. The listener will soon realize that James Ford’s sophisticated, lush arrangements do not simply embellish the songs artistically, but rather add a second, third layer to them, the famous double bottom, counterpoints, subversive vibrations.


    The old stuff laid bare: grief, growing old, losses (and what change is gonna come after sleepless nights for too long). The beyond of the everyday. „On the path / With my restless curiosity / Beyond life / Before me …“ The most „progressive“ instruments: a mellotron, an oscillator, and an electric guitar. Floating lines (on the verge of breaking apart). Passages close to catching fire (and catching fire). The glow, the gloom. Under that nearly controlled delivery of Gibbons‘ singing a high wire tension, most of the time. No involvement of cozy nostalgia, of things coming to rest – in spite of the last song, an invocation of nature and peace of mind, like a dream, at least traces of acceptance. What a terrific work. The most honest review: a painted horizon.