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Tortoise
Auch wenn ich seit „Standards“ (also seit 24 Jahren) kein neues Tortoise Album mehr richtig gehört habe, freue ich mich darüber, dass sie noch gemeinsam Musik machen und veröffentlichen. Die ersten 3-4 Alben haben meine Hörgewohnheiten geprägt und ich lege die immer noch gerne mal auf. Die letzten Alben vom Gitarristen der Band, Jeff Parker, waren alle großartig. Der NEUE Song gefällt mir sehr und dass sie bald „a larger body of work“ rausbringen ist eine gute Nachricht.
alternative
01 Mark Pritchard & Thom Yorke: Tall Tales
02 William Tyler: Time Indefinite
03 Eiko Isibashi: Antigone
04 Bennie Maupin: The Jewel In The Lotus (1974)
05 Amelia Barrett & Bryan Ferry: Loose Talk
06 Haruomi Hosono: Medicine Compilation (1997)
07 Brian Eno & Beatie Wolfe: Luminal
08 Don Cherry: The Relativity Suite (1971)
09 Angel Bat Dawid & Naima Nefertari: Journey to Nabta Playa
10 Henriksen / Seim / Jormin / Ounaskari: Arcanum
11 Natural Information Society and Bitchin Bajas: Totality
12 Keith Jarrett: New ViennaThe exciting two albums of Mr Henderson from the 70‘s
In meiner Erinnerung wurden die beiden Alben „Horn Culture“ von Sonny Rollins und „Multiple“ von Joe Henderson auf der gleichen Seite in einer alten Ausgabe des Jazzpodiums besprochen. In meiner Erinnerung bekam Sonny die vollen fünf Sterne, und Joe viereinhalb. Bei mit war es damals und ist es heute noch andersrum. Ernst beiseite, „Horn Culture“ ist auch ein tolles Album! Wie „Multiple“ ist auch „Horn Culture“ auf dem Label „Milestone“ erschienen, anno 1973. Bisher noch keine „reissue“! Im übrigen fällt mit auf, dass ich im folgendem Text vergessen habe, meiner Begeisterung über Larry Willis‘ Rhodes-Piano Ausdruck zu verleihen!
Ich kenne seine Lebensgeschichte nicht, aber es verwundert schon, dass er in den Siebziger Jahren so wenig Musik aufnahm. Ein Werk namens Canyon Lady“ kam mit illustrer Besetzung und all seinen „latin vibes“ nicht an seine zwei „milestones“ aus jenem Jahrzehnt heran. Ich stiess auf ihn fast zufällig, als er schon lange Geschichte geschrieben hatte auf dem Label Blue Note, als Leader und Sideman ein tonangebender Meister des Saxofons, auf etlichen Klassikern.
Dann, als die Zeit der „fusion music“ anbrach, Jazz und Rock und Funk und „weissderkuckuckwasalles“ sich in kühnen Amalgamen fand, vom „elektrischen Miles“ bis „Weather Report“, da tauchte auch Joe Henderson auf. Er dachte sich aber nicht, dass er jetzt mal was Modernes für die Kids machen würde.
Joe suchte sich Produzenten, die das Studio auch als Spielwiese begriffen und nahm zwei Alben auf, die das pure Feuer waren und auch sonst der griechischen Lehre der Elemente tollkühne Klänge folgen liessen: „The Elements“ hiess das eine Werk, das mit erlesener Bande, mit Alice Coltrane, Charlie Haden und Co. Wasser, Erde und Luft folgen liess. So mitreissend und deep wie „Brown Rice“ von Don Cherry oder „Love, Love“ von Julian Priester.
Das andere Album, „Multiple“, umarmte nicht ganz so ferne Horizonte, und war gleichermassen wild, funky, herzergreifend (dieser warme Ton, selbst wenn er die Luft zerriss, in ausgewählten Momenten of „overblowing“! ). Am Bass Dave Holland (vor Tagen noch, the old fire still burning, an der Seite von Anouar Brahem in Hamburg), am Schlagwerk Jack DeJohnette.
Diese beiden Alben sind in den letzten Jahren als Schallplattem neu aufgelegt worden, „Multiple“ zuletzt, feines Remastering durchweg, und was das Schönste ist: die Musik nimmt mich heute genauso gefangen wie damals in dem Siebzigern, als ich darüber las, im Jazz Podium, und gleich zugriff. Ich kann mich an den beiden Alben offenbar nie satt hören, und verpasse selten einen einzigen Ton seines Spiels!
(Also, wenn das mit dem angefragten Interview mit Eno & Wolfe nicht klappt, und / oder ich eine Woche vor VÖ nur die beiden dann als Videos gelisteten, überall tausendfach gehörten, Songs spielen darf (s. „Ultimative Playlist nebenan in „Radio“), dann hebele ich wohl den zentralen „Beatie & Brian-Part“ aus und spiele „Tress-Cun-Deo-La“. 10 Minuten und 34 Sekunden: das ist so verdammt grossartige Musik! Und die Moderation hätte ich auch schon im Sack.)
My Lovely Days (A3)
Oh mit einem Zittern
Weiche lustige SacheEuphonisch
Flüstert auf dem BodenPlatonisch
Versteckt in einer SchubladeCool wie ein Flimmern
Blauer Wuschel
Gleitet durch diese FingerVerbirg es
Lauf ein wenig ängstlichAber fühle es
Öffne dich stattdessenWessen Zittern
Verstrickt in der Morgendämmerung
Dieses schöne Durcheinander
Kaum noch zu halten
Vergessene Tage
Fallen weg
Von uns
Von unsLadet es ein
Niemals sicher zu seinErregt es
Es schreit nach mehrOh kleiner Sonnenstrahl
Gefangen in einer WolkeWir zittern
Verstrickt in der Dämmerung
Dieses schöne Durcheinander
Kaum aufgehängt
Vergessene Tage
Wegbrechen
Von uns
Von unsLass uns hier verweilen
Moosig in der Dämmerung
Diese unordentliche Liebe
Kaum festhalten
Oh schöne Tage
Weglaufen
Mit uns
Mit unsMeine schönen Tage
Wollt ihr nicht bleiben
Easy does it, könnte eine Besprechung von „Luminal“ lauten: wenig ruft die wilden Welten von Here Come The Warm Jets oder Nerve Net in Erinnerung, oder den Power Pop der Zusammenarbeit von Eno und Hyde. Ist das nicht alles ein wenig smooth umd sentimental? Was assoziieren wir frei? Verrückte Kissenschlachten früher und später Liebe, Glückstaumel der „salad days“, ach ach ach! Ist es nicht viel leichter, das eigene Dunkel zu erkunden, mit „dark songs“ und einem „dark album“, das Spätwerke alter Meister oftmals offerieren?! Warum nur verzaubert mich dieses Songalbum mit Beaties mildrauchigem Timbre und Brians Quantum Samt so sehr?Ein Punkt jedenfalls sind die lyrics von Beatie, die nichts ausformulieren, und, wie Impressionisten, der Flüchtigkeit der Linien und Bilder ihren seltsamen Tiefgang anvertrauen. Auch mit Reimformen wird sehr luftig gearbeitet, was die deutsche Übersetzung unterschlägt, z. B. ganz am Anfang der Hauch von Reim von „floor“ und „drawer“: Oh with a quiver / Soft funny thing / Euphonic / Whispers on the floor / Platonic Hiding in a drawer…“ Genauestens tariert sind die Kürze der Zeilen und die Länge der Strophen: bei de drei „Siebenzeilern“ ein Hauch von Crescendo und Brians „Chor“. Zudem seine „synths“ – vintage Eno and inventive!
Es gibt zudem auf „Luminal“ keinen einzigen Wechselgesang a la „Nancy und Lee“, und das verblüfft, denn stimmlich die Zwei „a match made in heaven“. Das ist die Kunst: Understatement liefern, ohne Intensität zu opfern! Und dann diese beiden herrlichen dreisilbribigen Eigenschaftswörter „Euphonic“ und „Platonic“! Da komme ich gleich auf launige Tangenten!
Lese ich allein Beaties Texte, kommt mir sogleich die alte Lust an Lyrikinterpretationen in den Sinn, in jenem schönsten aller germanistischen Proseminare über „Konkrete Lyrik“ (Münster, 1973/74), und im legendären Englischunterricht von Dr. Egon Werlich. Hier, auf „My Lovely Days“, entfalten sich bewegte Liebestaumel mit äkustischem Gitarrengezupfel und dem simpelsten aller Melodiegaranten namens Omnichord. Kein Wunder, dass „My Lovely Days“ demnächst die zweite Singleauskoplung wird!
Aber, und das ist das grosse verblüffende Aber: stets ist ja das Träumen als Träumen präsent, als fluider Seinszustand – und im Laufe der Lieder von Luminal findet alles Dunkle seine Risse. Beiläufig, der Logik von Traumbildern, Traumsequenzen folgend. Nichts bleibt unverwundet.
Hopelessly At Ease (A2)
Oh Baby warte auf mich
So hoffnungslos entspanntIch gebe dir all meine Zeit
Mein Grund und mein ReimUnd so flattert es weiter
Ein Fragment eines LiedesDie Schuhe, die ich nie gebunden habe
Du kannst nicht sagen, dass ich es versucht habeUnd während wir heute Abend tanzen
So spielerisch und hellDa ist etwas in deinen Augen
Ein Licht, das nie stirbtOh Baby warte mit mir
So hopelessly at easeIch gebe dir alles, was ich habe
Ich weiß, es ist nicht vielUnd laufe wie ein Kind
Ungebunden für eine WeileDann dreh dich um und sieh
Hier ist niemand außer mir
Entpuppt sich das Verliebtsein des lyrischen Ichs als pure Illusion, am Ende? Einfache Motive reihen sich überraschende, die Stimme der Sängerin ist im zweiten Lied zu vollem Leben erwacht, es ist eine Stimme, die überhaupt nicht darauf ist, Oktaven zu springen, oder den Raum zwischen Flüstern und Schrei zu füllen. Sie ist ruhig, intensiv, geerdet, meditativ – die Stimme vereint, was widersprüchlich scheint, in seltsamer Klarheit. Was elementar ist, reiner Tanz wird fast schon Selbstbefragung, Analyse einer Passage wahrer Empfindungen – die Verse allein suggerieren Traumartiges. Samsara.Brian Eno wird sehr glücklich sein mit lyrics, die keine „message“ liefern, die die Dinge in einer Schwebe halten. So bleibt unsere Aufmerksamkeit nicht an Worten hängen, und wenn, dann lösen sich diese Worte rasch auf, wie die berühmten Wolken, die vorüberziehen. Die Klänge um foreground vocals und background vocals herum entfalten einen Sog, vintage Eno, aber nie abgegriffen aus alten Sphären. Dieses Album ist ein kleines Wunder. Damals, mit 18, als ich noch Gustav Mahler hörte: „Das Lied von der Erde“ berührte mich ähnlich tief, die Monoaufnahme mit Bruno Walter am Dirigentenpult! So viel Tiefe dringt ein in die Schwebungen von „Luminal“.
Milky Sleep (A1)
In dieser Glut
Die Stunden wachsen
Alle aufgereiht
Höre sie rufenMilchiger Schlaf
Schmeckt so süßSchwere Luft
Verstrickt dortAn der Wand
Blumen kriechenNimm mich auf
ButterblumeSchwerkraft
Leg dich zu mirWie Zement
HimmelsduftSelten, das fünf „posts“ hintereinander mit „poetry“ hantieren! Am 6. Juni erscheinen zwei Alben von Beatie Wolfe & Brian Eno, ein Instrumentalalbum sowie ein Songalbum. Im Laufe der nächsten Zeit erscheinen hier alle Übersetzungen der lyrics von „Luminal“. „Milky Sleep“ ist das Eröffnungsstück. Wenn im Kontext dieses Werkes von „dream music“ die Rede ist, darf das durchaus wörtlich verstanden werden. Alle Texte hat Beatie geschrieben, und je länger ich die Texte auf mich wirken lasse, desto feinsinniger erscheinen sie mir. Beaties Gesangsstimme klingt anders als in allen Folgestücken, seltsam verwaschen, wie aus Traumsphären geborgen.
Die Polarität schwerer und leichter Empfindungsräume durchzieht diesen ersten Song, so schwebend wie leitmotivisch. Die Übersetzungen mache ich mit „deepl“, anschliessend Feinschliff. „Luminal“ ist das Album eines alten Meisters und einer jungen Meisterin. Zwar bedauerte ich anfangs, dass Brian durchweg allein die „background vocals“ besorgt, aber der Vortrag von Beatie lässt mich verstummen, so faszinierend finde ich ihren stimmlichen Vortrag.
„Lateral“, das „ambient album“, ist alles andere als ein Anhängsel des Liederzyklus, und als rund einstündige Komposition so eigen, so reichhaltig, wie „“Neroli“, „Thursday Afternoon“, „Discreet Music“, „Reflection“ oder „Lux“. Vor ein paar Wochen brachte Richard Williams sein „Album des Jahres“ ins Spiel, Ambrose Akinmusires „Honey From A Winter Stone“, ich lege gerne nach. In unserer berüchtigten „Nikolausliste“ kann ich mir in meinem Jahresrückblick kein anderes Teil als „Luminal“ an Nummer 1 vorstellen. Ganz egal, was Herr Pitchfork und Frau Guardian dazu erzählen.Natürlich, betrachtet man die Worte von „Milchiger Schlaf“, kann man analytisch oder rein intuitiv herangehen, in jedem Falle bekommt man kein annäherndes Bild davon zustande, wie „unbelievable“ sich Worte und Klänge in all diesen Songs durchdringen. Da ist understatement im Spiel, wenn Pathos droht, oder es wird seltsam emotional, wenn das eine und andere Wortbild vermeintlich stoische Ruhe verbreitet. Die Klänge fungieren nie als Stimmungsverstärker, sie setzen auf eine zweite und dritte Ebene.
monthly revelations (april)
album: anouar brahem
film: neil young coastal (april, 17, one evening, worldwide)
prose: „und man hört sie doch.“ (hg: martina w.)
talk: erik and jan on „manafon variations“
radio: „playlist in motion“
binge: „families like ours“
archive: joe henderson
„Bei der Auswahl von Titeln für seine Kompositionen, die die palästinensische Erfahrung thematisieren, war Anouar Brahem nicht von einem didaktischen oder propagandistischen Ziel getrieben: Dies wären Ziele, die seiner feinfühligen (…) Sensibilität völlig fremd wären. Aber er konnte auch nicht den Eindruck erwecken, dass seine Musik von der Wut, der Trauer und dem Kummer, die Gaza in ihm auslöste, unberührt blieb. Es ist zu früh, um zu sagen, ob man sich an dieses „Quartett für das Ende der Zeit“ als Vorbote des Endes von Gaza erinnern wird, oder vielmehr als Vorbote des lang ersehnten Endes des Leidens in Gaza. Man kann jedoch sicher sein, dass dieses Album für immer die Spuren seiner Herkunft tragen wird. „Musik erinnert sich an uns“, schreibt Jeremy Eichler in Time’s Echo, seiner ergreifenden Studie über Musik, die nach der Shoah komponiert wurde. „Musik spiegelt die Menschen und Gesellschaften wider, die sie geschaffen haben, sie fängt etwas Wesentliches ein, das sie in die Zeit ihrer Entstehung zurückversetzt. Die Erinnerung wird von den Kadenzen, den Offenbarungen, den Trübungen und dem tragischen Pathos der Musik heimgesucht“.(aus den liner notes von Adam Shatz zu Anouar Brahems „After The Last Sky“, übersetzt aus einer französischen Vorlage mit deepl ins Deutsche, die Cd enthält die englische Fassung)
Doppelgänger
„Die New York Trilogie“ war das erste Buch von Paul Auster, das ich gelesen habe, in der zweiten Hälfte der 90er. Gleich der erste Teil, „Stadt aus Glas“, ist eine Story, die jedes auch nur annähernde Gefühl von Gewissheit, Zuversicht und der Möglichkeit von Kontrolle auf faszinierende Weise zerstört. Durchdachtes, systematisches und scheinbar vernünftiges Vorgehen wird ad absurdum geführt. Konturen verschwimmen, so wie das Gespür für den Raum und die Zeit. Auch das Subjekt verschwindet. Im Jahr 1994 erschien „City of Glass“ als Graphic Novel, von Paul Karasik und David Mazzucchelli. Erst jetzt habe ich dieses Buch gelesen bzw. angesehen. Die visuelle Umsetzung ist ein ästhetisches Meisterstück. Sofort lebte ich wieder ganz gebannt in der Welt des Paul Auster, aber auf eine andere Art als gewohnt: in der visuellen Doppelgängerversion. Wer David Mazzucchellis Arbeit kennt, zum Beispiel „Asterios Polyp“ (vor zehn Jahren schrieb ich auf Manafonistas darüber, hier der Link), weiß, dass sie weit darüber hinausgeht, eine Story etwa in einer Aneinanderreihung von Film-Still-Pannels umzusetzen. Das Ziel ist immer, für die Besonderheiten einer Geschichte visuelle Äquivalente zu schaffen und damit weitere Nuancen oder Interpretationsmöglichkeiten hinzuzufügen.
Hier ein paar Beispiele, Details, ohne zu viel zu verraten. Daniel Quinn, die Hauptfigur (jedenfalls ein Name dieser Hauptfigur), sitzt über einen langen, unbestimmten Zeitraum in einem Häuser-Zwischenraum vor dem Haus seiner Auftraggeber, um sie zu beschützen. Die Dauer wird visuell veranschaulicht, indem Quinn mit der Mauer verschmilzt. Dass Quinn an dieser Stelle seinen Verstand verliert und mit einem anderen Blick auf seine Umgebung schaut, zeigt ein verwischtes Pannel.
In der zweiten Hälfte des Buches trifft Daniel Quinn den Schriftsteller Paul Auster. Während Paul Auster von seinem aktuellen Buchprojekt erzählt, einem Essay über Don Quixote, und man bei einer filmischen Umsetzung oder einem konventionellen Comic erwarten könnte, dass die Bilder von einem der Männer zum nächsten wechseln, ändern Mazzucchelli und Karasik allmählich raffiniert die Perspektive. Plötzlich sehen wir die Männer beim Lunch als Schattenriss und im Vordergrund einen Teddybär, Baseballhandschuhe und einen Spielzeug-LKW. Es folgt der Blick ans Fenster, dann aus dem Fenster, von verschiedenen Stockwerken aus, und während man den Dialog der Männer weiterliest, fragt man sich gleichzeitig, wohin die Bilderfolge führen mag. Die Perspektive nähert sich schließlich dem Gehweg unten vorm Haus und einem rätselhaften Gegenstand, der dort liegt, dann erkennen wir einen Jojo, den eine Hand ergreift und ein paar Bilder später steht Paul Austers Sohn Daniel im Wohnzimmer und begrüßt den Gast. „City of Glass“ ist durchzogen vom Motiv des Doppelgängers, und Daniel ist sogar ein mehrfacher Doppelgänger.
Die größte Herausforderung war die Umsetzung der Rede eines Mannes, der als Kind neun Jahre lang eingesperrt war. Im Buch beschreibt Paul Auster diese Rede so: „Machine-like, fitful, alternating between slow and rapid gestures, rigid and yet expressive, as if the operation were out of control, not quite corresponding to the will that lay behind it.“ Die sprachlich in gebrochenem Englisch gehaltene Rede wird etwa so illustriert: Die Bilder nähern sich vom Körper zum Gesicht zum Mund, gehen in die Mundhöhle, dann in ein Gewässer, aus dem ein alter Mann mit einem Boot und Ruder auftaucht, der alte Mann führt die Rede fort, die Bilder gehen in seinen Mund, dort taucht eine Art Höhlenzeichnung auf, Formen verschiedener Gegenstände wiederholen sich in den aufeinanderfolgenden Bildern usw. bis zu einer vergitterten Tür und einer gebrochen liegenden Marionette. Immer wieder tauchen in der Graphic Novel Variationen einer Kinderzeichnung auf, die man als Zeichnungen des eingesperrten Jungen interpretieren kann. Über einer dieser Zeichnungen steht eins der Grundprinzipien postmoderner Literatur: „Everything becomes essence: The center of the book shifts, is everywhere…“
Doppelgänger finden sich auch außerhalb des Buches bzw. der Graphic Novel. Paul Auster ist einer davon. Ein anderer ist ein Schriftsteller, der sich mit grundsätzlichen Umwälzungen der Sprache um 1900 befasste und in eine Schreibkrise geriet: Hugo von Hofmannsthal. Der aus dem Gefängnis entlassene Mr Stillman beschreibt die Ausgangslage in der Graphic Novel so: „When things were whole our words could express them. But things have broken apart, and our words have not adapted.“ Es geht ihm darum, eine angemessene Sprache für die neue Gegenwart zu finden. Hugo von Hofmannsthal beschreibt in seinem Chandos-Brief ein ähnliches, aber anders gelagertes Problem: „Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.“ Für Stillman stellt sich beispielsweise konkret das Problem, dass ein defekter Regenschirm nicht mehr als Regenschirm bezeichnet werden kann; deshalb erfindet er neue Wörter. Das ist sein Buchprojekt. Stillman glaubt also an die Möglichkeit, das Wesen der Dinge in die Sprache der Menschen zu übersetzen. Hugo von Hoffmansthal glaubte das nicht. Im Chandosbrief entwickelt er die Position, dass die Reflexion der Sprache selbst als Element moderner Literatur wesentlich ist.
Am 8. April 2025 erscheinen alle drei Teile von Paul Austers „New York-Trilogie“ als Graphic Novel, umgesetzt von Paul Karasik, Lorenzo Mattotti und David Mazzucchelli.
Another Day At The Radio
klanghorizonte deutschlandfunk
Donnerstag, 27. März, 21.05 Uhr
Macie Stewart: When The Distance Is Blue
David Sylvian: Died In The Wool – Manafon Variations (2011)
Paul Bley: Open, to love (1973)
Jon Balke: Skrifum
Alabaster DePlume: A Blade Because A Blade is Whole
Andrew Wasylyk & Tommy Perman: Ash Grey And The Gull Glides On (2024)
David Sylvian: Died In The Wool – Manafon Variations
Brahem / Bates / Lechner / Holland: After The Last SkyTalking voices (in order of their appearance): Macie Stewart, Erik Honoré, Jon Balke, Alabaster DePlume aka Gus Fairbarn, Tommy Perman, Andrew Wasylyk, and Jan Bang
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Die unvergesslichen Momente von „Anora“
In der SZ gab es ein paar Jahre lang eine Rubrik am Ende des Jahres, in dem von vielen Schreibern die schönsten Filmmomente erinnert wurden. Dabei wurden nicht einfach die jeweilige Szenen gelistet, sondern beschrieben, umschrieben, analysiert, mit einer überschaubaren Anzahl von Zeilen. Hochinteressant. Meinen „unforgettable moment“ von „Anora“ werde ich hier nicht kundtun, dafür einen meiner absoluten „Filmkritik-Momente“ des letzten Jahres.
„Oder um es noch deutlicher zu sagen: Das Leben ist ein Chaos, der amerikanische Traum eine Lüge und die Hollywood-Romanzen sind Fiktion, wenn nicht gar Betrug. Sean Bakers Anora bietet ein saures Korrektiv, indem er einen Film wie Pretty Woman unter eine Tatortlampe hält, um uns die Flecken auf den Laken und die Daumenabdrücke auf dem Kristall zu zeigen. Aber vor allem ist sein Film kein Wermutstropfen. Er ist heftig, frisch und witzig, lässt kaum einen Takt aus und lässt seine 140 Minuten Laufzeit im Galopp vergehen. Bakers frühere Filme (Tangerine, The Florida Project, der unterschätzte Red Rocket) hatten bereits gezeigt, dass er ein überschwänglicher Führer durch die Schattenseiten Amerikas ist. Anora ist jedoch sein bisher aufrichtigstes, aufschlussreichstes und am besten umgesetztes Werk. Je dunkler es wird, desto kühner und heller wird es.“
Schön und treffend ausgedrückt von Xan Brooks im Guardian. „Anora“ ist ein mitreissender Film, und der letzte Satz seiner sehr lesenswerten Besprechung könnte Anreiz genug sein, Unentschlossene zu dieser „wilden Fahrt“ zu animieren. Dem Regisseur ist das Kunststück gelungen, wie ein grelles C-Movie anzufangen, und, allem Grotesken und Absurden zum Trotz, ab einem bestimmten Moment, den jeder Zuschauer für sich selber rausfinden könnte, an Tiefe zu gewinnen. Jim Jarmusch wird ihn bestimmt auch sehr mögen, manchmal dachte ich von ferne, ohne meine Empfindungen dingfest machen zu können, an „Down By Law“. Ich werde werde mich mal auf die Suche nach den drei von Xan erwähnten Filmen begeben. Hätte nach den ersten zwanzig Minuten nicht für möglich gehalten, wieviele vermutlich unvergessliche Momente diese „Tragikomödie“ bereithält. (m.e.)