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Richard Dawsons „Endspiele“
„Nach The Ruby Cord, einem 80-Minuten-Album, das in einer halluzinatorischen VR-Zukunft spielt, konzentriert sich Richard Dawson hier auf kleinere Dinge: nämlich auf das alltägliche Trauma von Familien am unteren Ende der Mittelschicht. Dennoch ist sein Songwriting so kraftvoll und bewegend wie eh und je, mit all den düster-komischen Anklängen, für die er bekannt ist. Auch musikalisch ist End Of The Middle zurückgenommen, in seiner Sparsamkeit vom frühen Neil Young inspiriert, mit markanten Free-Jazz-Holzbläsern, die Dawsons romanhafte Erzählungen beleuchten. „Gondola“, ‚Bullies‘ und ‚Removals Van‘ deuten ganze Welten an, bevor ‚More Than Real‘ in tränenreichem Technicolor schließt.“
So die kleine Besprechung von Tom Pinnock in der Februarausgabe von UNCUT. Einige von uns kennen diesen Song-Exzentriker seit Jahren, jetzt legt er einen Songzyklus vor, der in anderer Weise als Wim Wenders‘ „Perfect Days“ von dem japanischen Regisseur Ozu inspiriert ist. Ich wittere hier auch mehr als einen „touch of Beckett“ und erinnere mich, wie wir bei unserm Englischlehrer einst Becketts „Endspiel“ lasen und interpretierten!
Ich habe das Album bereits hören können – ein Songvideo („Polytunnel“) habe ich in meinem „Echo“ auf Enos Songseminar verlinkt. Dass die lyrics kleine Welten kreieren, in einer dem „normalen Alltag“ entnommenen Sprache, die durch ihre Kombination mit überraschenden Wendungen eine besondere Kraft entfaltet, ist ein wirklich gekungener Kunstgriff von „songwriting“. In comment 1 die lyrics des Liedes „Gondola“. Dieses Lied, in dem eine frei flottierendes Klarinette wundersam herumgeistert, endet mit folgender Strophe – und einer etwas anderen Venedig-Impression!
Meine Träume starben wie Delphine in einem Netz.
Ich konnte nie nach Venedig fahren
und wie viele Sommer habe ich noch vor mir?
Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich eine Oma bin.
Jen hat gerade ihre Fahrprüfung bestanden.
Ich werde ein paar tausend Pfund
in ein Auto investieren
und mit ihr in den Urlaub fahren –
„making memories“, bevor es zu spät ist.
Da sind wir nun, unter der Rialto-Brücke,
zusammengekauert in einer Gondel.Ich möchte HIER noch einen weiteren Song aus „End Of The Middle“ vorstellen. Am besten nicht einfach kurz reinhören, und schnell entscheiden, sondern vielleicht erst mal die lyrics im Vorfeld lesen (das Original, und eine rasche Deepl Übersetzung folgt in Kürze in Comment 2), und dann den Song in Ruhe aufnehmen. Richard Dawson gehört zu den interessantesten „Leftfield“-Songschreibern Englands, ein sympathischer Coldplayfan wird rasch die Flucht ergreifen, und auch mit der Stimme müssen sich (man muss natürlich gar nichts) manche ggf. erstmal anfreunden. Dann aber könnte – ich sage „könnte“ Dauerhaftes entstehen.
Es ist schon toll, was Domino seit Jahr und Tag publiziert (zuletzt das editorische Mammutmeisterstück „G stands for Go-Betweens, Vol. 3“, ein Boxset, der schneller ausverkauft als besprochen wurde), auch Robert Wyatt (in manchem ein Seelenverwandter von Robert Wyatt) hatte da in seiner letzten Schaffensphase eine Hafen gefunden. Und von wem stammte das Album des Jahres 2024 in den Ohren von drei, vier Flowworkern?! Bingo! Und sonst, anno 24: John Cale, Julia Holter, Jon Hopkins, Hayden Thorpe, Bonny Prince Billie (bald eine neue Scheibe) und und und…. Nochmal zurück zu Richard Dawson am 14. Februar erscheinendem Album, das auch eine Brücke schlägt zu Michael Leighs Filmen, zu den alten Erzählungen von Alan Sillitoe – wer erinnert sich noch (auch eine Verfilmung gab es) an „The Lonliness of The Long-Distance Runner“. In den Worten von Richard: . “It zooms in quite close-up to try and explore a typical middle class English family home,” Dawson said in a statement. “We’re listening to the stories of people from three or four generations of perhaps the same family. But really, it’s about how we break certain cycles. I think the family is a useful metaphor to examine how things are passed on generationally.”Fisch auf Kartoffelbett (splendido!)
Es folgen hier noch einige Ergänzungen zum Rezept, das im comment 1 noch einmal nachzulesen ist. Die Musik hinterher im Wohnzimmer – zu Speis und Trank – „Dinner Music“ von Carla Bley, ein sehr gutes Album, bei dem man stets Hintergrund- und Hinhören changieren kann. Ambient Jazz vom Feinsten! Und der Extraklasse eines so köstlichen und so nie zu bereiteten Fischgerichts angemessen. Die Wahl fiel auf einem frischen Saibling von besten Fischhändler der Stadt.- Kartoffelscheiben lassen sich gut von Hand mit der Petersilie-Knoblauch-Mischung vermengen, bevor man sie auf dem Backblech (ohne Backpapier) ausbreitet (drei vier dünne Zitronenscheiben reichen locker)
- Den Fisch mit Haut salzen, natürlich von unten, wo er ausgenommen wurde vom Händler und an den parallelen Einschnitten.
- Ich kann mich nicht erinnern, je einen wohlschmeckenderen Fisch gegessen zu haben, der zugleich ungemein saftig ist.
- Wer eine Triggerwarnung braucht bei der Vorstellung, einen ganzen Fisch mit Augen und Schwanz serviert zu bekommen, nun, man kann es natürlich auch mit Filets machen (aber ob es dann soooo saftig wird, ist zu klären)
- Der Saibling (370 Gramm, mit Kopf) und das Drum und Dran reicht (gerade so) für zwei Personen, man kann gut einen zweiten Saibling aufs Kartofellbett legen!
Der Neubeginn
Sie betrat den neuen Ort, wo sich die Häuser aneinander schmiegten wie die Kühe auf einer sommerlich kargen Weide, unter dem einzigen schattenspendenden Baum. Mit der Höhenluft hatte sie keine Probleme, eher mit der Kälte und den glatten Wegen. Letzte Nacht hatte es minus 10 Grad, sie war froh, dass ihr Herz nicht eingefroren war. Sie hatte den anderen Ort verlassen, weil ihr die Menschen dort lieblos, achtlos und unfreundlich vorkamen. Es gab eine Ausnahme, eine Jugendbuchschriftstellerin hatte sich zunächst als freundschaftstauglich erwiesen, was sie dazu veranlasste, länger an diesem Ort zu bleiben. Dieser Trugschluss wäre ihr fast zum Verhängnis geworden. Das Hinübergehen zu dem anderen Ort war zwingend. Schnell entdeckte sie durch das Staunen über die beeindruckende Naturlandschaft neue Lebensblicke. Die bizarre Bergwelt war eigentlich nicht ihre auserwählte Landschaftsform, das ewige Hoch- und Hinunteruntergehen empfand sie als Stagnation. Dagegen bot der weite Ozean mehr Raum für ihre abzuladene Welt. Trotzdem spürte sie die magische Anziehungskraft der tiefen Bergseen, die Miniaturen ihrer gewohnten Lebenswelt darstellten. Es gab einen Maler, Ferdinand Hodler, der ihre beiden Formationen grossartig und vor allem künstlerisch tröstend verbinden konnte. Als die Gondel sie einlud, den Gipfelkranz aus der Höhe andächtig zu betrachten, spürte sie, dass sich stets in jedem Neubeginn , trotz kleinerer Verwerfungen, eine solide, feste Form findet..
Für das Neue Jahr alles Gute. (L.N.)
Über den Schnee von morgen (und übermorgen)
- Wer ist am 1. Mai, wie ich voraussichtlich, in der Elbphilharmonie, bei einem Konzert von Anouar Brahem Anja Lechner, Django Bates und Dave Holland? Könnte ein kleines Flowworker-Treffen werden, with special guests Norbert, Toni a.o.!
- Tommy Perman und Andrew Wasylyk sprechen über ihre Musik.
- Irgendeiner (zwei, drei lesen es mindestens) bespricht Samanthas „Umlaufbahnen“
- Das Unerwartete ist sowieso Programm
- Ein neues Buch aus der Serie 33 1/3 über Paris 1919. Nicht nur ein Fall für Jan R.
- Ein neues Buch aus der Serie 33 1/3 über meine Lieblingsplatte von Yo La Tengo, und in der Ankündigung heisst es: Hailed as a “quiet masterpiece” upon release, Yo La Tengo’s And Then Nothing Turned Itself Inside-Out (…) is a delicate and hushed album (…) that helped forge a new mythology for rock and roll: one not built on sex, drugs and debauchery, but instead the quiet lives of people living in peaceful suburban homes. From the nothingness of the everyday, something incredible can emerge. (Hat meine Liste der für mich grossartigsten Alben der Neunziger Jahre knapp verpasst, es kam im Februar 2000 raus.)
- Und wer exzellentes Serienfutter, zumindest in meinen Augen, zwischen den Jahren erleben möchte, dem empfehle ich Taylor Sheridans „Landman“ (nicht allein Billy Bob Thornton läuft da zu Hochform auf, dessen deutsche Synchronstimme ich genauso schätze wie das Original), und die wunderbare dreistaffelige Serie „Somebody, Somewhere“, die am Rand der achtgrössten Stadt von Kansas spielt, und ganz ferne (und nur gute) Assoziationen an „Ausgerechnet Alaska“ weckt. Und ein ganz eigenes Ding rockt.
- An diese Stelle ein herzlicher Dank an Lajla, die mich just dazu brachte, meinen Text über den Schnee von gestern zu vermüllen😉!
- and finally (das ist zwar auch „Schnee von gestern“, aber wenigstens zeitlos) , two movie nerds in action!
„End To End“ – eine Erinnerung an Barre Phillips und eine Begegnung mit Ray Davies
I bless the light
I bless the light that shines on you, believe me
And though you’re gone
You’re with me every single day, believe me
(The Kinks, Days)1981 erschien im österreichischen Bläschke-Verlag mein Lyrikband „Die Landung der fliegenden Teppiche“, in der Zeit, als ich in der Fachklinik Furth i.W. für Alkohol- und Medikamentenabhängige meine erste Stelle als Psychologe antrat, mit jeder Menge Schallplatten als Teil meines survival kit in einer Gegend, die den meisten von uns wie das absolute Hinterland vorkam. Damals lief in meiner Wohnung im Örtchen Bergeinöden auch, neben all dem üblichen Verdächtigen, „Send Me A Lullaby“, die erste raue Platte der Australier, und die Go-Betweens und ich, das war eine Beziehung, die von Dauer war.
In dem Büchlein (der Umschlag war ganz weiss gehalten mit blauen Lettern) war eine Gruppe von Gedichten dem Album „Three Day Moon“ von Barre Phillips gewidmet. Tatsächlich waren die Titel der Stücke dieses umwerfenden Albums auch die Titel der Gedichte, und ich schrieb die einzelnen Texte, während die jeweiligen Stücke liefen. Ich musste also recht oft die Tonnadel auf den jeweiligen Anfang stellen. Leider habe ich kein Exemplar des Buches mehr zur Hand , sonst hätte ich für Flowworker das schönste davon rausgesucht. An die Schönheit der Musik kamen meine Texte nicht wirklich heran, und „Three Day Moon“ wird heute, nach Olafs und Martinas Hamburg- und Zeitreisen, auf den Plattenteller gelegt. In memory of Barre Phillips!
Einem anderen hero meines musikalischen Lebens bin ich heute Nacht im Traum begegnet, Ray Davies. Der Ort war ein Kammermusiksaal in London, dem Purcell Room nicht unähnlich. Dort wurde seine neue Platte gespielt, auf einer Surroundanlage, und sie war bei ECM erschienen. Ich hielt das Album in der Hand: auf der Rückseite stand unten in kleinen Buchstaben der Name Ray Davies, und eine schwarze Linie führte nach oben, wo in dem gleichen Schrifttyp „piano“ stand, keine „vocals“.
Etwas von der Musik bekam ich zu hören, es war strenge elektroakustische Musik, allein die sparsamen Linien dies Klaviers setzten sich mit ihrem meldischen Sound von gelegentlich abrupten Geräuschsalven ab. Sehr seltsam. Ray Davies sass im Hintergrund, ich ging rüber und begrüsste ihn mit freundlichen Worten, und als ich ihm sagte, ich hätte nie damit gerechnet, ihn bei ECM zu erleben, schmunzelte er vielsagend. In einem Bistro nebenan traf ich eine Frau namens Lajla. Kein Witz. (Eine alte Spielregel der Traumdeutung: Träume sind so fantastisch: wenn du sie erzählst, schmücke sie nie aus, erfinde nichts dazu!)
Gestern kam, im realen Leben, mit der Post eine Neuauflage der Platte „Headquarters“ der Monkees, über die Norman Maslow im Internet was erzählt hatte, ich dachte an meinen im September verstorbenen Blutsbruder Matthias, und wunderte mich einmal mehr, wie tief der Schmerz ging, obwohl wir nach der Kindheit ohne jeden Streit andere Wege gingen. Natürlich hatte ich mir das Album als Fahrkarte in die Kindheit besorgt, aus purer Nostalgie. Es ist ein wenig Zeit ins Land gegangen, die Teppiche fliegen wieder, diesmal ins Nirgendwo.
Through the 90s und Der Walkman-Effekt
Es ist schon eine Weile her, dass Ingo aufforderte, 25 unserer Lieblingsalben den 90ern, die wir immer noch mögen, aufzulisten. Dabei sollten die Alben auch aus den 90er Jahren stammen. Innerhalb weniger Stunden gab es mehrere Listen und die Zahl der Kommentare ging Richtung Rekordhöhe. Im Verlauf dieser comments schrieb Ingo, er würde sich für meine Liste interessieren, und deshalb habe ich mich damit beschäftigt, obwohl solche Listen nicht mein Ding sind. Ich brauchte Zeit, weil ich in Ingos Vorgaben nicht denke. Was ich in den 90ern gehört habe und was damals eine Bedeutung für mich hatte und mir heute noch gefallen würde, stammte nicht unbedingt aus den 90ern. Zum Beispiel „Songs for the ten Voices for the two Prophets“ von Terry Riley, aber auch alte Pink Floyd Platten und ein paar Glanzstücke von Genesis. Umgekehrt habe ich einiges aus meiner Liste erst später entdeckt. So hatte mich Ingo vor ein paar Jahren in beeindruckender Einschätzung meines Musikgeschmacks auf „Plastikman: Consumed“ (1998) aufmerksam gemacht, ein Album, das seither auf dem Stapel meiner ständig gehörten CDs liegt. Das Jahrzehnt der 90er brachte eine starke Veränderung in meinem Musikhören, für mich einen Quantensprung. Anfangs habe ich noch mit der Geige in Orchestern gespielt (ich erinnere mich an Brahms und an L’Arlésienne von Bizet); im Februar 1995 entdeckte ich Michaels Sendung „Radio Unfrisiert“ im Hessischen Rundfunk, verlor nach wenigen Sendungen diese Spur, und am Ende des Jahrzehnts war ich süchtig auf seine Klanghorizonte, die meinen Musikgeschmack mehr als den jeden anderen Flowworkers geprägt haben. Hier also meine Liste, die zu keiner verwertbaren Antwort im Rahmen von Ingos Studie beitragen kann. (Und die Reihenfolge hat auch keine Bedeutung.)
01) The The: Slow Emotion Replay (Der Titeltrack erinnert an die Titelmelodie der Serie „Northern Exposure“ und ist eventuell sogar ganz identisch. Dieser Track gefällt mir aber nicht, aber der Vorspann von „Northern Exposure“ ist maximal cool. Was ich immer noch gern höre, sind die Scenes from Arctic Twilight. Das ist eine ruhige elektronische Musik ohne Gesang.
02) US 3 Hand on the Torch (das ist die Beschriftung. Die Musik erinnert mich an die Stimmung in der Dachgeschloss-WG eines Freundes, dafür genügen schon die ersten Takte.)
03) R.E.M.: up
04) Sonic Youth: Washing Machine
05) Radiohead: Kid A
06) Radiohead: OK COMPUTER
07) Labradford: A Stable Reference
08) Labradford: Labradford
09) Labradford: Prazision LP
10) Labradford: Mi media naranja
11) Labradford: El luxo so
12) Plastikman: Consumed
13) Bark Psychosis: Codename: Dustsucker
14) Bark Psychosis: Independency
15) Boards of Canada: Skam
16) Boards of Canada: Music has the right to children
17) Boards of Canada: Twoism
18) Nils Petter Molvaer: Khmer
19) Eivind Aarset: électronique noire
20) Underworld: Dirty Epic Cowgirl
21) Flying Saucer Attack: Further
22) Jon Hassell: City: Works of Fiction
23) Bugge Wesseltoft: It’s snowing on my piano
24) The American Analog Set: the golden band
25) The American Analog Set: Through the 90s: singles and unreleased
Beim Aufräumen meiner Sammlung von Audiokassetten habe ich einige Teile gefunden, als Originale aus den 90ern, die mich nie begeistern konnten:
Sonic Youth: Daydream Nation
Keith Jarrett/Gary Peacock/Jack DeJohnette: Tribute, ECM 1990, zwei KassettenMit der Wiederentdeckung der Audiokassette geht auch ein angepasstes Angebot an Abspielgeräten einher. Abgesehen davon, dass kleine Kompaktanlagen auf dem Billigsektor wieder Kassettendecks haben und das Angebot an Walkmen mit und ohne Digitalisierungsfunktion und mit zeitgemäßer Stromversorgung beachtlich geworden ist, bietet FiiO ein upper class upgrade-Modell des Walkman an, mit Lithiumbatterie, möglichem Strombetrieb durch die Powerbank und dem Versprechen eines 100-prozentigem Analoghörgenusses.
Mein liebster Theorie-Reader aus dem Jahrzehnt versammelt Essays zur Postmoderne: „Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik“ 1990 bei Reclam Leipzig erschienen, mit Beiträgen von Michel Foucault, Paul Virilio, Gilles Deleuze, Hélène Cixous, Luce Irigaray, Jean-François Lyotard, Jean Baudrillard und anderen. Philosophieästhetisch war das Buch damals Avantgarde und es ist immer noch lesenswert und antiquarisch erhältlich. Heute habe ich nochmal den Essay „Der Walkman-Effekt“ von Shuhei Hosokawa gelesen. Danach besteht die Bedeutung des Walkman in der Distanz, die er zwischen dem Anderen und dem Ich entstehen lässt. Der Walkman verschafft ein Überlegenheitsgefühl, er macht denjenigen, der ihn aufgesetzt hat, zum Geheimnisträger und in der Gesellschaft des Spektakels zum Schauspieler, während die anderen nur Zuschauer bleiben.
Zwischen den Jahren
Eigentlich versuche ich zwischen den Jahren so wenig wie möglich zu machen – Fernsehen, lesen, Musik hören, essen, trinken, schlafen. In diesem Jahr hatten sich die „Kinder“ (die sind 21 und 25 Jahre alt, deswegen die Anführungszeichen) gewünscht einen Ausflug zu machen. So kam es, dass wir gestern (praktisch zwischen der dritten Staffel von The Bear) mit der Regionalbahn nach Hamburg (und zurück) gefahren sind.
Wenn man von Bahnfahrten redet, ist das Gejammer und Gezeter groß, und ja: die erste Bahn ist ausgefallen. Allerdings ging eine viertel Stunde später schon die nächste Verbindung Richtung Hamburg. Und ja: auf dem Rückweg mussten wir eine Stunde im Zug stehen. Es sind am Samstagnachmittag einfach viele Menschen im Großraum Hamburg unterwegs. Die Stadt war auch ansonsten brechend voll.
Wahnsinnig viel haben wir nicht gemacht. Mit der U-Bahn ging es weiter Richtung Schanzenviertel. Dort sind wir die Marktstraße hoch und runter flaniert, haben ein lecker Ciabatta gekauft, bei Zardoz habe ich das erste Album von Codona in recht gutem Zustand erworben (und die kleine Hündin ist sehr freundlich mit Hundekeksen versorgt worden – ich vermute, das war ihr Highlight der Fahrt, ansonsten scheint ihr Hamburg nicht so gut zu gefallen). Anschließend haben wir im Bullerei Deli lecker gegessen. Wir waren im April schon einmal dort gewesen, damals hat es drei von vier Personen gut geschmeckt, genau so war es diesmal auch – nur das im April meine Frau, gestern mein Sohn etwas enttäuscht war.
Anschließend Kaffee trinken, dann habe ich längere Zeit in einem Wollladen gewartet. Ich bin da recht routiniert drin und zum Glück gab es auch in diesem Geschäft ein bequemes Sofa, von dem aus ich das bunte Treiben beobachten konnte. Danach haben sich unsere Wege noch einmal kurz getrennt, so dass ich schnell noch mal in die Plattenrille gehetzt bin, um dort zwei Platten (Drum Ode von David Liebman, Landsapes von Rena Rama) zu erwerben. Danach ging es mit der Regionalbahn wieder nach Hause, wo wir das Ciabatta vor dem Fernseher und den letzten Folgen von The Bear verputzten
Stehen gelassen habe ich in der Plattenrille (unter anderem) Three Day Moon von Barre Phillips, der zwischen den Jahren verstorben ist – R.I.P.
Eine kleine Veränderung der Wahrnehmung
Das Album steht ziemlich einzigartig und ein wenig einsam in der Landschaft ihrer Musik herum. Jedenfalls bei mir daheim, und ich kenne ihre Musik, seit ich mit 16 „Blue“ zu Weihnachten bekam, ein Album, das reinhaute in meine junge Seele und meinen jungen Körper wie wenig anderes.
Als Jahre und Jahre später „The Hissing Of Summer Lawns“ erschien, immer noch in den Siebzigern, wo so vieles, was sie anfasste, zu Gold wurde, hagelte es ein paar böse Verrisse, was leicht passiert, wenn Erwartungen enttäuscht werden. Ich mochte das Werk immer ganz gerne, aber es war mir nie so nahe wie Hejira oder Blue, und kam auch nicht an meine intensiven Stunden mit Court and Spark umd Mingus heran.
Das änderte sich vorgestern. Ich glaube, wenn man eine alte Platte aus den Siebziger Jahren wieder hört, gleichen sich die „neuen“ Hörerlebnise den alten an. Klar, kennen wir! Auch das, was man darüber dachte, findet sich in den jetzigen Empfindungen gespiegelt.
Es war also, gelinde gesagt, eine kleine Überraschung, als ich gestern „The Hissing Of Summer Lawns“ erlebte, erst in Quad (einer wundervollen Surroundversion, ich hatte sie vor einem halben Jahr schon gehört, aber da passierte noch nichts), später dann, als Abgleich, in der Stereoversion.
Wie nie zuvor, war ich „in der Musik“ drin. Weder alte Reflexe noch Einordnungen funktionierten, und ich hörte jedes Lied, wenn nicht wie zum ersten Mal (das war ohnehin nicht so beglückend, damals), sondern, als würde ich mich ganz anders duch die Klänge hindurch bewegen. Es war fast schon surreal, wie die Lieder, wie Jonis Gesänge, und zwar alle auf diesem Album, mich einfingen, umgarnten, beseelten. Und der einzige Zaubertrank, den ich zuvor zu mir genommen hatte, war ein kaltes Glas Ovomaltine.
[AT 11]: Asmus Tietchens: Musik unter Tage
Um hier die im Manafonistas-Blog begonnene Tietchens-Reihe fortzusetzen:
Ein an Asmus‘ Filteraltar hängender, wenn ich es richtig erinnere, handgeschriebener Zettel sagte einst: „Das Ziel ist der Wahnsinn“. Leider habe ich das Foto nicht mehr. Aber es gibt nur wenige Einspielungen des Meisters, die mir so unmittelbar an diesem Gerät entstanden zu sein scheinen wie diese fünf Tracks, auch wenn als Soundquellen lediglich der Moog Sonic Six und der Minimoog angegeben werden.
Die Musik unter Tage ist eine Cassettenveröffentlichung, 1983 mit unbekannter Auflage auf dem amerikanischen Aeon-Label erschienen. Als solche war sie letzter Teil einer Art Serie, zu der noch die weiteren Cassetten-Releases Musik an der Grenze (1982), Musik im Schatten (1982) und Musik aus der Grauzone (1981) gehören.
Die Musik unter Tage passt in diese Reihe: bohrend, undurchschaubar, ziemlich lichtlos. Mit Ausnahme des Titels „Gelber Himmel“ bestehen die Tracks aus jeweils einem liegenden, durchweg undefinierbaren Dauerklang, der überlagert wird von gefiltertem Rauschen und/oder Klängen, die mir im wesentlichen mit selbstoszillierenden Filtern erzeugt zu sein scheinen. Die Tracks 1 („Strenge Klänge“) und 2 („Dämmerattacke“) gehen dabei ineinander über, ebenso die Tracks 4 („Maschine 6B“, mit 18 Minuten Spieldauer das längste Stück) und 5 („Einer 5“). Lediglich Track 3, „Gelber Himmel“, kommt ein wenig munterer daher, hier ist ein Konglomerat diversen Gefiepses zu hören, das auch ein wenig im Stereopanorama umhergeschickt wird. „Einer 5“, das letzte Stück, ist eine Art Kombination aus beiden Bauprinzipien.
Die für Tietchens gelegentlich typische ökonomische Denkweise, wie wir sie auf späteren Platten noch näher kennenlernen werden, zeigt sich darin, dass einiges Klangmaterial dieser Stücke in späteren Einspielungen wieder auftaucht.
Verglichen mit den deutlich klarer ausgearbeiteten Sky-Einspielungen ist dies ein alles in allem eher simpel strukturiertes Werk; auch innerhalb der Cassetten-Werkgruppe erreicht Tietchens hier nicht die Qualität der Musik an der Grenze. Viel Zeit, behaupte ich mal, hat er in die Aufnahmen nicht investiert. Insofern ist dies sicherlich keine seiner wichtigeren Einspielungen, aber seine Handschrift immerhin wird schon deutlich; da ist jemand erkennbar „auf dem Weg“. Das macht die Musik unter Tage dann doch zu einem Puzzleteil seines Gesamtwerks.
Musik unter Tage
Aeon (Fort Collins, Colorado, 1983), keine Bestellnummer
Keine spätere Wiederveröffentlichung