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  • Richards Liste

    „Ich mag Straßenmusiker, solange sie keine Verstärkung oder voraufgezeichnete Unterstützung verwenden. Einige von ihnen leben in meinem Kopf weiter. Ein Klarinettist in einem kleinen Garten in der Nähe des Taksim-Platzes in Istanbul im Jahr 1968. Ein Sänger und ein Akkordeonspieler, die 1994 vor einem Einkaufszentrum in Rosario Carlos Gardel huldigen. Ein fließend boppischer Altsaxophonist vor einem Hamburgerladen in der Innenstadt von Atlanta im selben Jahr. Ein älteres Quartett in einem Park in Sofia vor 25 Jahren.

    Der oben abgebildete Akkordeonist spielt regelmäßig vor dem British Museum in Bloomsbury. Er kommt aus Rumänien. Eines Tages in diesem Herbst hörte ich ihn, als ich auf dem Weg von einem schnellen Mittagessen im Caffè Tropea war, dem italienischen Restaurant im Park am Russell Square. Es ist wahrscheinlich mein Lieblingsrestaurant in London und wird seit über 40 Jahren von einer Familie mit Wurzeln in Kalabrien geführt. Einwanderer, was?

    An diesem Tag spielte der Akkordeonist das Thema von Nino Rota aus Der Pate. Während ich zuhörte, ging eine junge Frau vorbei, blieb stehen, holte eine kleine Kamera aus ihrer Tasche und bückte sich, um ihn mit einer raschen, ökonomischen Bewegung zu fotografieren, die erkennen ließ, dass sie wusste, was sie tat. Ich habe ein einziges Bild mit meinem iPhone aufgenommen, das einen der glücklichsten Momente des Jahres festhält.“

    Soweit Richards Williams‘ kleine Einstimmung auf die Liste, in seinem wunderbaren Musikblog „The Blue Moment“. Sein Lieblingsbuch des Jahres ist übrigens Samantha Harveys „Orbital“ (zu deutsch „Umlaufbahnen“), auf Platz 6 seiner Alben des Jahres findet sich eine ECM-Veröffentlichung vom September 2024, von deren Existenz ich bis soeben nichts wusste. Interessant. Und sonst? Überschneidungen und Überraschungen. Michael Shrieve habe ich zuletzt in den Siebzigern an der Seite von Santana erlebt. (m.e.)

  • my 20 fave albums 2024

    01. Beth Gibbons: Lives Outgrown 
    02. Shabaka: Perceive Its Beauty, Acknowlege Its Grace
    03. Erik Honoré: Triage
    04. Fred Hersch: Silent. Listening 
    05. Jessica Pratt: Here In The Pitch 
    06. Anna Butterss: Mighty Vertebratae
    07. Jeff Parker ETA IVtet: The Way Out Of Easy
    08. Jakob Bro: Taking Turns (my radio review: HERE)
    09. Ganavya: like the sky i‘ve been too quiet
    10. Einstürzende Neubauten: Rampen
    11. Nala Sinephro: Endlessness 
    12. Kalma / Chiu / Honer: The Closest Thing To Silence 
    13. Eric Chenaux: Delights Of My Life  
     
    14. Laurie Anderson: Amelia
    15. Danish String Quartet: Keel Road** 
    17. Laurence Pike: The Undreamt-of Centre 
    18 Andrew Wasylyk & Tommy Perman: Ash Grey And The Gull Glides On 
    19. Pan American & Kramer: Reverberations of Non-Stop Traffic on Redding Road 
    20. Tindersticks: Soft Tissue

  • „Weltraum, Mystery, Western, Fussball“: Salman Rushdie‘s 2024 favourite books (and more)

    In der Vorweihnachtszeit versuche ich oft, Schmöker mit Tiefgang zu finden. Unvergessen die Tage der Kindheit, in denen ich an der Nordsee oder daheim im Weissdornweg einen Klaus Störtbecker-Roman las, „Die Geheimnisse von Paris“ von Eugene Sue, oder „Die Frau in Weiss“ von Wilkie Collins, bald darauf in ZDF oder ARD verfilmt mit, wer erinnert sich noch an eine Zeit, in der Frauen solch einen Vornamen trugen, Heidelinde Weiss. So leicht wie früher ist das nicht, so leicht ist man halt nicht mehr zu beeindrucken. Aber mit ein paar Tricks ist die Fährte potentieller Lieblingsbücher aufzunehmen. Und wer immer durch die folgende verzweigte Sammlung von Empfehlungen den einen oder anderen Leserausch erfährt, möge es mir hinterher mitteilen. „Umlaufbahnen“ ist wahrscheinlich das Buch, auf das sich die Flowworker (und special guest Salman😉) am ehesten einigen könnten.

    Wir werden stöbern und magische Bücher finden!

    „My favourite novel this year was James (Mantle) by Percival Everett. By giving the runaway Jim from Huckleberry Finn his own voice (or voices) and his dignity – James, not Jim – he adds a dimension that’s missing from the original, and, I think, improves on it. I loved and admired Hanif Kureishi’s memoir Shattered (Hamish Hamilton), in which he brilliantly faces a physical catastrophe with honesty, courage, and his characteristic dark humour. And if I find this year’s Booker winner, Orbital (Vintage), by Samantha Harvey in my stocking I’ll be very pleased. I’m obsessed by space travel myself, and this is a writer I don’t know and I should clearly change that.“

    Eine feine Tradition des Guardian, viele Schriftsteller nach ihren Lieblingsbüchern zu befragen. Ich bin schon öfter fündig geworden, gerade bei „favourite writers of mine“. In diesem Fall war ich etwas schneller als Salman, besser gesagt, zwei seiner Bücher habe ich schon eine Weile, und sie liegen auf meiner to-read-Liste an zweiter und dritter Stelle. Die Bücher von Percival und Samantha liegen in deutscher Übersetzung vor. Ich hoffe sehr, dass in Samanthas Buch auch Musikalisches reinspielt, dann würde ich, wenn es nicht Mozart oder Beethoven wären, gerne in die Klanghorizonte im März einbauen. Denken wir nur an das, was Astronauten einst auf Apollo-Missionen ins Weltall mitnahmen!


    Der Roman, der bei mir an erster Stelle auf dem Stapel meines Vertrauens liegt, ist der jpngste Roman von Liz Moore, der übrigens Ende Januar bei C.H. Beck verlegt wird: ich habe gerade mal füfzig Seiten gelesen, und schon hat mich dieses Buch in seinen Bann gezogen! Schon der Vorgänger, „Long Bright River“, auch bei Beck rausgekommen, war grosse, einsame Klasse. Sie begann übrigens als Musikerin, bis sie herausfand, dass das Schreiben ihre Berufung war. Ende März wird Liz Moore zur LitCologne kommen, und vermutlich werde ich sie dort – nicht nur zu ihrem neuen Buch, sondern auch zu ihren „desert island albums“ – befragen. Denn, es ist kein Klischee, wenn ich sage, dass Moores Schreibstil einen ureigenen „Sound“ besitzt.


    Und, beim Schmökern durch die Guardian-Liste, kam mir auch der neue Roman von Kevin Barry vor Augen, der zu meinen geheimen favourite writers zählt, ein lupenreiner „Western“. Dieser Autor ist so richtig von noch keinem deutschsprachigen Verlag entdeckt worden. (m.e.)

    Und, um dem ganzen noch einen Dreh zu geben, hier die Leseräusche 2024 von Kevin Barry (natürlich ebenfalls aus dem Guardian), und diese Deepl Übersetzung lasse ich mal so stehen, ohne ihre kleinen lustigen Übersetzungsfehler zu korrigieren (David Peace schätze ich sehr) …

    „Der treibende Rhythmus und die vorwärtsdrängende Erzählkraft der Romane von David Peace gehören zu den Glanzstücken der zeitgenössischen Belletristik, und Munichs (Faber), seine Erzählung der Flugzeugkatastrophe von Manchester United im Jahr 1958, war ein Buch, auf das es sich zu warten lohnt. Eine obsessive, hart erkämpfte Erzählung, emotional, aber kühl dargestellt, ist es so gut wie alles, was er bisher geschrieben hat. In Cathy Sweeneys Breakdown (W&N) verlässt eine Frau ihr Haus in einem Dubliner Vorort und versucht, sich von den Fesseln ihres Lebens zu befreien. Ein brillant beherrschter Roman – eine Autorin mit großem Talent, das sie zu nutzen weiß. Ein würdiges Gegenstück zu Miranda Julys großartigem All Fours (Canongate). Für meinen eigenen Strumpf wurde ich lange genug für meine Ignoranz gescholten, weil ich Janet Frame nie gelesen habe, also ist es an der Zeit, mit The Edge of the Alphabet (Fitzcarraldo) zu beginnen.“

  • 20 albums that sum up 2024 perfectly

    While I can honestly say that this year I bought dozens of truly great albums to provide me with 50 favorites easily, I found it surprisingly hard to figure out a ranking for a top 10 or a top 20, let alone choose which one might be „the album of 2024“. 

    I enjoyed Vera Sola’s album A LOT this year, and the concert in a tiny club in Berlin for a ticket price that felt almost like they paid us to come (it was maybe 16€) was fantastic. She was very entertaining and having a lot of fun with her five- or six-piece band on that tiny stage. It feels like timeless music. And I really love this intriguing album cover.

    However, I chose Canadian band Big|Brave’s latest album as my album of year, as I feel it not only reflects in a remarkable, even in an outstanding way how current times feel, where the things are moving right now (so quite the extreme opposite of Vera Sola’s sound and also album title, „Peacemaker“ … it does end with a song called „Instrument of War“ though), but also because „A Chaos of Flowers“ is arguably the most unique sound I heard all year. And on top of that the title is great and the cover is also just superb. As a kind of celebration of this album, I finally bought the vinyl, even though it was a bit too expensive for my taste. Unfortunately, I just missed their Berlin concert in spring. I believe I read about it the day after it happened. I hope they’ll be back soon. 

    So for my personal 2024 retrospective I chose the following 20 albums, and while they are stylistically as varied as can be, I also noticed some very fascinating cross-connections and parallels, when I just went to YouTube to look for some links for this blog post. 

    Interestingly, #1 and #20 seem to have in common that they are not only quite dark and uncompromising but both also remind me of Scott Walker’s approach to making music. Big|Brave, however, to me feel like the sum of Sunn 0))), Christian Fennesz, Ian William Craig, Hope Sandoval, Low, the Carter Family and New England folk music or poetry by female writers (as on Erik Honoré’s album, among the lyrics is actually poetry by Emily Dickinson, the 1861 poem “I felt a funeral, in my brain”!) – Scott Walker would love it –, whereas Kee Avil sounds like the lovechild of Scott Walker and Billie Eilish.

    Much of Soap&Skin’s darkly beautiful new album fits seamlessly in this particular realm, as does Kim Gordon’s harsh and uncompromising genre confrontation, Einstürzende Neubautens „Alien Pop Music“, Die Nerven („Dystopian noise rock from Stuttgart“) and Moor Mother’s latest album (that didn’t fit into my list this time, I’m afraid). This collection of albums does feel like it reflects what this year, 2024, was like quite eerily. There’s a strange and gloomy energy in Beak’s restless krautrock update, a nervous pop beauty in Nia Archives‘ drum&bass update, in Alejandro Escovedo updating songs from his immense backcatalogue in an uneasy manner, titled „Echo Dancing“(!), in Marta Sanchez‘ agitated trio music about sleeplessness – and also in Sylvie Courvoisier’s mercurial solo piano pieces as much as in Alva Noto’s nervy Hybrid pieces, reflecting on past, present and future of electronic music. And seemingly unaffected by all of this: The Sky will still be here tomorrow, and Central Park’s Mosaics of Reservoir, Lake, Paths and Gardens, timeless masterpieces, as one would hope to get from any great, wise musician in their 84th or 85th year on earth.

     

  • ash grey and the gull glides on

    you might find nothing
    to see here,
    but come tomorrow
    we‘ll still be here

    imagine a blue radio hour in spring 2025, a number that makes you think of zagger & evans in an oldie show, but start with a nevergreen from peter thomas turning 100, followed by a piece of „wonky togetherness“ (electrinic sound) with andrew wasylyk & tommy perman. This albumis, apart from Broadcast‘s „Spell Blanket“ my latest great discovery of 2024, i think, and it will probably open up my „March Horizons“ on air! You wanna find out more: go to www.claypipemusic.co.uk

    Die zehn Tracks sind geprägt von Wasylyks meditativen Klavierrefrains, von ausladenden Synthesizern, die den kitschfreien Zonen von New Age und japanischem Ambient wunderbar nahe kommen, ohne sie zu kopieren, und von Permans organischem Ansatz, eine sehr speziell pulsierende musikalische Collage zusammenzusetzen. Aber noch elementarer als das sind sie durch ihre Stille und ihren Sinn für Raum definiert. Wenn das etwas abstrakt klingt, hilft es, auf das Wort „nothing“ zu klicken, das in der ersten Zeile! Der Titel dieser Langspielplatte ist identisch mit dem Titel dieses Textes. Späte Entdeckung. Fast schon zum Schmunzeln zeitlos, und doch passt es unter den Weihnachtsbaum. (m.e., and others)

  • „Mach‘s noch einmal, Schimanski!“ – Eine Empfehlung für den Weihnachtsbaum


    Ich wusste gar nicht, dass Edward Berger, dem wir die exzellenten wie fesselnden Filme „Konklave“ und „Im Westen Nichts Neues“ verdanken, nach Hajo Gies zu den späteren Regisseuren der Schimanski-Filmen zählte. Ein oder zwei hat er, glaube ich, gemacht. Hat er irgendwann Hajo über die Schulter geschaut, wie einst Clint Eastwood seinem Lehrmeister – wie hiess er noch gleich – Don Siegel! Damals sah ich noch ziemlich regelmässig „Tatort“. Mochte den verrückten Kressin, und Schimanski am liebsten. Haferkamp wäre meine Nummer drei.

    Früher in Dortmund, wenn wir uns bei Freunden trafen, war es ein geschätztes Ritual am 2. Weichnachtstag, vorwiegend unter Jungs, spät abends im Fernsehen nach knallharten Filmen Ausschau zu halten – gerne „Dirty Harry“, und aus solch seltsamen Verknüpfungen stammt heute mein alljährlicher Bingewatchtipp für die Zeit zwischen den Jahren. Und für den schnellen Adrenalinkick: perfektes Popcornkino bietet Netflix derzeit mit dem „Reisser“ „Carry On“ (Peter Bradshaw gibt zwei Sterne, ich vier).

    Wie heute wohl die „Schimi“-Filme auf mich wirken würden? Was, es waren nur siebzehn? Egal, ein paar Flowworker und Leser würden sich bestimmt für ein grosses Bingewatching finden. Zum Beispiel drei Wochen Langeoog, und jeden frühen Abend im Medienzimmer ein Tatort. Mit anschliessendem Talk am Meer, mit oder ohne Eiergrog. Als Opener dann den herrlich durchgeknallten Tatort aus den frühen Jahren – ohne Frage ein TV-Meilenstein – Regie Samuel Fuller – mit den „toten Tauben auf der Beethovenstrasse“, und viel Can-Musik. Aber ohne Götz George.

  • Der tierische Ernst und der gute Humor von Jazzjournalisten im Einsatz

    Bei meinen ersten Besuchen im berühmtesten Jazzkeller Dortmunds, dem Domicil, nah dem Rotlichtmilieu, und nicht zu verwechseln mit dem feinen Jazzclub von heute in der Hansastrasse, war immer ein rothaariger, kurz rasierter, natürlich Brille tragender, Kritiker zugegen namens Werner Panke, ein Kenner der Materie, der schon Gene Krupa in der Nordtstadt zu Nachkriegszeiten erlebt hatte und in Sounds, im Jazzpodium und anderswo seine Urteile kundtat. Als Teenager an der Nordsee war ich begeisterter Zuhörer der Jazzsendungen von Michael Naura. Toll, ihn in seinem letzten Berufsjahrzehnt, den Neunzigern, aktiv begleiten zu können. Irgendwann gehörte ich selber zu dieser Gilde!

    Werner Panke sass stets vorne in der ersten Reihe, einigermassen gut zu erkennen, durch dicke Nikotinschwaden hindurch, bei meinem ersten unvergesslichen Erlebnis dort, dem Dave Pike Set, bei dem erstmals ein gewisser Eberhard Weber neben Volker Kriegel Platz nahm und den ganzen Keller in Erstaunen versetzte, zwei Jahre, bevor „The Colours Of Chloe“ das Licht der Welt erblickte, und ungefähr in der Zeit, als Weber mit einem Elektrobass, der noch nicht viel mit seiner bald auftauchenden Spezialkonstruktion gemein hatte, auf Mal Waldrons „The Call“ glänzte, einer frühen, uralten Japo / ECM-Scheibe, in meinen unbestechlichen Ohren ein vergrabener Schatz, eine schon damals viel zu wenig gefeierte Sternstunde der experimentellen Jazz-Rock-Fusion-Ära, deren Wiederveröffentlichung ich wieder und wieder empfehle, auf die Gefahr hin, damit ECM‘s Pressechef Christian Stolberg ganz leicht auf die Nerven zu gehen.


    Als ich meine Liebe zum Jazz entdeckte, gab es beim WDR eine spannende Gesprächsrunde: eine kleine Ansammung von Experten sass an einem grossen Tisch, und munter diskutierte man ausgewählte Neuerscheinungen. Ich erinnere mich noch bestens an den Abend, an dem diese drei oder vier Experten (eine Frau war dabei, bingo!) eine MPS-Produktion diskutierten, die „We‘ll Remember Komeda“ hiess, mit rotem Cover – und alle waren gewiss mit guten Gründen begeistert. Ich liebe die Scheibe noch heute.

    Worauf ich damit hinauswill, ist die heutige Jazzkritikerrunde im Deutschlandfunk. Um 8.40 Uhr begann unsere Blockzeit im Studio: Thomas Loewner, Odilo Clausnitzer und ich legten los, wir sprachen über unsere drei Favoriten des ausklingenden Jahres. Die beiden sind, wenn ich das richtig einschätze, gute Freunde, ich kenne sie allein aus kollegialen Zusammenkünften. Aber was die berühmten „weichen Faktoren“ angeht, das Zwischenmenschliche, den Ungangston, kann ich nur Gutes über die Zwei berichten, und niemand kann mir schnöde Schmeichelei unterstellen, denn es ist schon lange abgesprochen, dass ich 2025 meine finalen Radiorunden drehe.

    Gesundheit vorausgesetzt, gibt es meine letzten vier Ausgaben der „Klanghorizonte“ im März, Mai, Juli, und September 2025, stets am dritten Donnerstag des jeweiligen Monats zwischen 21.05 Uhr und 22.00 Uhr – und, finally, ein knapp einstündiges Porträt, vielleicht über Steve Tibbetts – das perfekte Schliessen eines Kreises wäre das, denn meine allererste Sendung im Oktober 1989 war, im DLF, eine 45-minütige „Studiozeit“ über Steve Tibbetts.

    Das heute war schon mal mein Farewell in diesen alljährlichen Rückblicken über persönliche Jazzhighlights – fünfmal war ich nun am Stück mit dabei: einmal mehr waren wir heute oft genug herzlich verschiedener Meinung. All das mit Ernst und Witz und Augenzwinkern vorgetragen, so, dass es letztlich in die Idee mündete, versuchsweise in die Ohren des jeweils andern zu schlüpfen – es wäre eine bewusstseinsverändernde Erfahrung. Humor war auf jeden Fall eine Konstante, und ich bin gespannt, wie Thomas das alles zusammenschneidet.

    Ich will nicht vorgreifen, aber möglicherweise kann Thomas eine kleine Schlusspointe gar nicht im finalen Mix unterbringen, drum gebe ich sie hier preis. Situationskomik. Das letzte Werk, ein Favorit von Thomas, stammt von einer norwegischen Ziegenhornspielerin, und Odilo meldete leise Zweifel an, ob die Sache mit dem Ziegenhorn (s. Foto) nach 200 Jahren instrumentaltechnischer Entwicklung noch soviel Sinn mache. Nun, entgegnete ich, und nachdem ich just meine dezenten Ambivalenzen zu Eva Klesses bedeutungsschweren „Stimmen“ (Enja) vorgetragen hatte, das Ziegenhorn wäre tatsächlich die allerbeste Idee für den Ausklang dieser Stunde!

    Wie gesagt, die „Ohren des Andern“, das war ein Subtext unserer fröhlichen Diskurse, und auch die beiden handsignierten Exemplare spielten hinein, die meine zwei Kollegen bekommen, von meinem Buch über Shabakas neue Flötenmusik. Am kommenden Donnerstag, dem 19. Dezember um 21.05 Uhr, ist diese Jazzauslese im Deutschlandfunk zu hören, und anschliessend sieben Tage in der Audiothek.


  • Mitternachtsmusikerinnerung

    21. März 2021. Für eine Nachtwanderung sind einige Dinge nötig, ich habe an alles gedacht, natürlich auch an das Banalste, die Taschenlampe. Sonst wäre es Slapstick, eine Art Geisterbahn für die Erlebnispädagogik. Die Nacht, zwischen Dünen und Küste, da, wo auch Rehe heimisch sind, hinter Kampen, hinter dem gediegenen Leben, hat ihre hundert Geräusche („the dying sounds of Sylt“), die alle Musik sind. Beim ersten Mal habe ich wirklich Beatles-Melodien gesummt, nun sind die Songs im Survival Kit: alles von You Want It Darker, bis, wie versprochen, „Promises“, mit Floating Points und Pharoah, die Boom-Box, mehr ist nicht erforderlich. Ich werde heute nicht ins Wasser gehen an den Buhnen, der kleine Anriss an der Wade schmerzt noch immer. Strandkörbe sind schon wieder im Einsatz, Einheimische hocken manchmal darin, aber nicht nach Mitternacht, und denken, bald werde es wieder so sein wie früher. Vor Corona. Eingeschliffene Bilder von der Wirklichkeit sind beharrlich. Das Leben kriegt man immer nur für eine Weile zurück.

  • An Acrobat‘s Heart


    I met her back then in Munich (in the summer of 2000), and she told me, at one point, about sensitive moments in the production. Once, in the morning, she felt her energy waning, couldn’t make the appointment, everything was up in the air. Manfred Eicher carefully knocked at her door. Helpful words, encouragement. It ended well. Fortunately. By the way, she never got together with Brian Eno (they would have made an interesting pair in the studio), but once, early in the seventies, he lent her a wonderful pair of old horn loudspeakers, she fell in love with their sound and never gave them back.

    In meinem Jahresrückblick tauchen ungewöhnlich viele Frauenstimmen auf, aus lang vergangener wie heutiger Zeit, Julia Holter, Laurie Anderson, Feliciá Atkinson, Jessica Pratt (you miss something between „Twin Peaks“ and „deep, deep mood music“ if you miss Jessica‘s „Here In The Pitch“), Beth Gibbons, Joni Mitchell, Anne Briggs, Annette Peacock. All diese Alben haben für mich etwas Unwiderstehliches, und ich kann nie anders, als sie am Stück zu hören. Vor Tagen lauschte ich wieder einmal Laurie Andersons „Hörspiel“ über den letzten Flug von Amelia Earhart, und war so gefangen von ihrem stimmlichen Vortrag, dass ich Raum und Zeit um mich vergass, in ihrer alten Klapperkiste, auf ihrer allerletzten Reise.

    Und am Tag darauf kam Annettes letztes Songalbum bei mir an, das im Jahr 2000 entstand. Erstmals nun als Schallplatte, genauer gesagt, als Doppelalbum, in der ECM-Reihe „Luminessence“. Makellose Pressung, exzellenter Sound (was ja nun keine Überraschung ist). Neben ihrem Gesang ist Annette am Piano zu hören, allein das Cicada String Quartet begleitet sie. Jan Erik Kongshaug sitzt am Mischpult, und Manfred Eicher ist der Produzent im Rainbow Studio. (Those were the days.)

    Einst, in ihren jungen Jahren, war sie eine so eigensinnige wie sinnliche Erscheinung. Viele Männer hielten Hof, Timothy Leary war einer von ihnen. Obwohl mir ihre skurrile „Annette Peacock Paul Bley Synthesizer Show“ als Album stets ein Rätsel blieb, das vielleicht nur Konrad Heidkamp und das Liebespaar Bley – Peacock entschlüsseln konnten, waren ihre Soloalben durchweg wagemutige, auf seltsame Art zugängliche, wundervolle, ja, genau, wundervolle Trips, die nie einem einzigen Stil treu blieben und brisantes Fremdgehen betrieben zwischen Funk und Free Jazz, Blues und Elektronik, Avantgarde, Rock und ganz und gar unklassischem Songwriting.

    Wie betörend ihre Kompositionen sein konnten, brachte Paul Bley etwa auf „Open, To Love“ zu Gehör, allein am Klavier. Jahrzehnte später Marylin Crispell mit „Nothing Ever Was, Anyway – Music of Annette Peacock“. Für das kammermusikalische Szenario von „An Acrobat‘s Heart“ (mit einem Hauch von Folk, den ich nie ding- und ortfest machen kann), gab es einmal mehr keinen Vorläufer unter ihren eigenen Alben, und unter anderen sowieso nicht. Klappt man das Gatefold-Cover auf, finden sich die lyrics, die wider allen Mainstream-Empfindsamkeiten, Liebesdingen und Erinnerungen auf den Grund und Abgrund gehen – die Bilder der Worte so elementar, so klar, und doch kaum zu fassen. Fragile Sphären, unzerbrechlich!

    Ich traf sie damals in München, und sie erzählte da auch von sensiblen Momenten der Produktion. Einmal, morgens spürte sie ihre Energie schwinden, konnte den Termin nicht wahnehmen, alles hing in der Luft. Es nahm ein gutes Ende. Zum Glück. „An Acrobat’s Heart“. Mit Brian Eno ist sie übrigens nie zusammengekommen (das wäre auch ein interessantes Paar im Studio gewesen – die „Annette Peacock Brian Eno Synthesizer Show“ hätte ich zu gerne erlebt), aber einmal, früh in den Siebzigern, lieh er ihr ein wunderbares Paar alter Hornlautsprecher, sie verliebte sich in ihren Sound, und rückte sie nie wieder raus.

    (monthly revelations, „Archive“, January 2025)