Skrifum
Let’s call this, like that underrated gem of Leonard Cohen, another „new skin for the old ceremony“. Jon Balke’s fourth solo piano album on ECM is a strangely organic affair, no matter how much science from the laboratory may be involved. A llittle machine called „spektrafon“ is extrapolating sounds from the grand piano that inspire in subtle ways Jon‘s playing of the keys. I‘m immediately thrilled by the game he‘s playing here. Like from a shadow world, sounds unheard appear in drone-like clothing, on the verge of vanishing or lingering on – you never know. And they are not tapping into the „drone trap“ by sounding especially mysterious or alien. So forget about „new age“ and „old tricks“. Thanks to Jon’s heightened awareness ranging (to follow the meaning of the Icelandic word „Skrifum“) from a sharp pencil to a broad brush (staying away from conversational stylings), every track of this adventurously discreet music is a little world of its own. The whole album is a quietly flowing, exciting journey, a ghost story for an old instrument – delivered with a constant sense of wonder. Welcome to your next favourite ritual of deep listening!
(m.e.)
More Praise for it in KLANGHORIZONTE
DEUTSCHLANDFUNK
27. März 2025
21.05 Uhr
Kleines Verlagsecho
Lieber Herr Engelbrecht,
schon sehr lange möchte ich Ihnen zu Ihrer Empfehlung von Liz Moore „Der Gott des Waldes“ schreiben. Das geht aber nicht mal eben so, wenn man überwältigt und zum Nachdenken angeregt ist, wenn ein Kritiker sein „Inneres nach außen“ kehrt, wie ich das nenne.
Lieber Herr Engelbrecht, ich bin überwältigt, wie nahbar, persönlich, tiefgehend und glasklar in zwei, drei Sätzen Ihr Urteil ausfällt (weibliche Befreiungsakte), wie viel Sie über sich verraten (Ihre Generation, Leserekord) und dass Sie sogar noch einen Sound hinterlegen (The Who, Live at Leeds). Sie haben auch schöne Kommentare erhalten, wie ich lesen konnte, und dass Sie die Lit.Cologne empfehlen, freut mich sehr.
Es wird wahr, Liz Moore kommt am 29. März nach Köln und tritt am 30. März auf der Lit.Cologne auf – erinnere ich das richtig, dass Sie in unserem Telefonat sagten, Sie würden sie gern zum Interview treffen? Wenn ja, dann vermittle ich das gern!
Nur Gutes Ihnen und allerbesten Dank für diese treffliche, persönliche und überhaupt: wortschöne Empfehlung (und wegen des Covers: Wir diskutierten lange, ob wir das Original übernehmen oder nicht. Wir übernahmen es schließlich.)
Ihre T. W.
(Wer den (bei aller Wertschätzung sehr einfachen) Text, der ein „first take“ war und „ aus der Hüfte“ geschrieben, HIER noch einmal zum Nachlesen, mit Olafs Zuspruch in den Kommentaren. Der Roman erscheint am 20. Februar.)
Auch der Horizont hat seine Grenzen
„Even without the knowledge of Jeck’s passing, the music would sound elegiac. The artist’s work with turntables – the slowing down, the vinyl crackle, the flutter and pop – speak simultaneously of demise and continuance. The record ends, but through its grooves, the composer lives on.“
In memory of Philip JeckEin paar Auszüge aus der lesenswerten Beprechung von Philip Jecks „rpm“ in „A Closer Listen“, eines der Alben, die noch vom Ausklang des letzten Jahres stammen, aber wahrscheinlich, und mit guten Gründen, in meinen „Märzhorizonten“ Platz finden. Interessant, dass die elegischen Sphären, die In-Sich-Gekehrtheit des Doppelalbums keinen Widerspruch bilden zu der immensen Zahl der beteiligten Musiker. Das gilt gleichermassen für das so leise wir raumgreifende Werk von Lawrence English, mit einem Titel, der wie für die „Klanghorizonte“ erfunden scheint: „Even The Horizon Knows Its Bounds“.
Stranger things
Passagen aus meinen „virtuellen“ Interviews mit Alabaster DePlume, Tommy Perman und Jon Balke werden ebenso Platz finden in dieser Radiostunde am 27. März um 21.05 Uhr. Mit dem norwegischen Pianisten ist es schon fast eine Tradition, ihn zu jedem seiner neuen Arbeiten zu befragen. Angefangen hatte es mit dem exzellenten Werk „Diverted Travels“ seines Magnetic North Orchestra.
Und nun dann „Skrifum“, Jon Balkes viertes Solopianoalbum – einmal mehr reichert er den reinen Klaviersound an, in diesem Fall ist ein „Spektrafon“ im Spiel, das auf eigenartige Weise Sounds aus dem Innenleben des Flügels „herausholt“, wie immer das funktioniert – aber genau dafür sind ja Interviews da. Mir ist dieser „Transfer“ noch ein Rätsel, was nichts daran ändert, dass „Skritum“ am Ende des Jahres zu meinen neuen „desert island albums“ zählen wird. Beim Hören von „Skrifum“ kam mir einmal auch Paul Bleys „Open, to love“ in den Sinn (das in Kürze in der „luminessence“-Reihe von ECM als Schallplatte neu aufgelegt wird):„…. interesting to listen to „Scrifum“ with its discreetly electronic textures, along with Paul Bley‘s „Open, to love“, who once told me he was thinking – in moments of creating that album – of the „decay lines“ (he maybe used another expression) of those early synthesizers and even trying to follow their vibes.“ M.
oh, that album is one of my all time favourites:-) J.
A propos Jon Balke
Das Interview zu „Siwan“ & „Say And Play“
„Als ich mit dem Wagen in El Golfo angekommen war – zuende gehört hatte ich die Musik von „Siwan“ an den berüchtigten Vulkanklippen der Westküste Lanzarotes, deren Name mir gerade entfallen ist – nahm ich Platz im Fischrestaurant meines Vertrauens. Und dann passierte einer dieser sonderbaren Zufälle, wenn man die richtige Musik zur richtigen Zeit am richtigen Ort hört: ich las die beiliegenden Texte der Cd und musste schmunzeln, als ich folgende Zeilen las:
“A serene evening
We spent it drinking wine.
The sun, going down,
Lays its cheek against the earth, to restNun, ich war allein, aber ein Glas Wein stand auf meinem Tisch, und die Sonne bereitete sich gerade auf ihren first-class-„westcoast“-Untergang vor. Ich blieb, bis es kühl wurde, stieg ins Auto und liess „Siwan“ ein weiteres Mal laufen.“ (Blogtagebuch Manafonistas, Mai 2011)
The pops and crackle still remain
Zurück auf Anfang, zu Philip Jecks „rpm“: „One of the most heartrending facets of the release is that “Pilots,” in which Jeck incorporates recordings of pilot whales sent by Jana Winderen, was completed in March of 2022. Philip Jeck passed away on March 25 of that year. One can imagine the composer lying in bed, buoyed by the sounds so ancient and wondrous and everlasting, the deep mystery conveyed by the giant ocean creatures, whose indecipherable stories and songs seem to bear such deep emotional weight.“
Auftakt und Finale
Eigentlich ist das „sequencing“ der Klanghorizonte so gut wie abgeschlossen: Spielraum gibt es vor allem beim ersten und letzten Song der Stunde: aber wenn da noch ein Lied auftaucht, das ein perfekteres Finale bildet als der „slow soul burner“, das Titelstück von Eddie Chacons „Lay Low“, sollte es mich wundern.
Die Sache mit der Stunde Null (eine Frage)
Oft wurde der Minimalismus als Stunde Null der Amerikanischen Klassik gesehen. Ein Neuanfang in den USA, von Reich, Glass, Riley und Co. Ein Strukturprinzip: Repetition. Oft wird auch die Krautrockära in der BRD als eine Art Stunde Null gesehen: die Abkehr von anglo-amerikanischen Idolen der Rockmusik, und Beginn eines neuen Weges, bei Kraftwerk, Can, Neu, Cluster et al. Ein Strukturprinzip: Repetition. Haben all die „Krautrocker“ die amerikanischen Minimalisten als Inspiration gewählt?
Ab und zu hatte ich über die Jahre die Vorstellung, dass Holger Czukay, Jaki Liebezeit, Ralf Hütter, Michael Rother, Florian Schneider, die Zwei von Cluster und andere, zuhause, wieder und wieder, Klassiker des Amerikanischen Minimalismus gehört haben (Drumming, In C, Rainbow In Curved Air) und davon träumten, solche Repetitionen herzunehmen und damit Eigensinniges anzustellen.
Jüngst kam ich auf die Idee, in den Klanghorizonten am Anfang, in der Mitte und am Ende, drei tolle Werke des „Minimalismus“ ausschnittweise zu spielen, die sehr repetitiv sind, mit Delay und Tonbandgeräten arbeiten, und, eine gemeinsames Merkmal der drei Platten, allesamt mit einer Reizüberflutung agieren: das eigene Bewusstsein wird dermassen mit akustischen Ereignissen „überladen“, dass eine andere Art von Hören erforderlich ist, um sich dem „hingeben“ zu können: die Rede ist von Steve Reichs „It‘s Gonna Rain“, Terry Rileys „Shri Camel“, und – einem Album, das ich mal einen lang vergrabenen Schatz der Krautrockära nenne – Günter Schickerts „Samtvogel“.
Dec 6 until Mar 25 – my favourites and a lesson in escapism
(Erste Viereljahresliste) Okay, das ist der Job des Musikjournalisten, die Zukunft ein wenig anzugraben. Und nun also die Alben, die mich voll gepackt haben, ohne Ranking, ohne Umschweife, ohne „Listenlook“. Icn hoffe, ich habe etwas verpasst, sonst wäre diese Sammlung ja nahezu perfekt. Alabaster DePlumes Meditationen über das Paradoxon der Klinge sind schon auf den ersten fünf Plätzen meiner nächsten Nilkolausliste gebucht. Burner! Diese skandinavische „Super Group“ namens Unionen bescherte WeJazz Records am Nikolaustag 2024 einen Blick in jene Zukunft des Jazz, in der es noch Unberechenbares und Wundersames gibt. Lange keine Platte mehr im Dämmerlicht dreimal hintereinander gehört. Jon Balkes „Skrifum“ ist das erste Fünf-Sterne-Album des Jahre von ECM. Richard Dawsons „End Of The Middle“ ist ein umwerfend raues Meisterstück über den Alltag unserer Tage im All, aber es fordert Hörgewohnheiten heraus und verlangt gutes Englisch. Anouar Brahems „Last Days Of Sky“ ist in Besetzung und Ausführung eine Klasse für sich, mit all den dunklen Himmeln, die das mitschwingen. Wer Dave Holland dort Bass spielen hört, möge seine uralte Schallplatte „Conference Of The Birds“ rauskramen und mit ein kleines Dankeschön schicken. (Aber nicht dieses Meisterstück vom Dave Hollands Quartet escheint als übernächste „Ausgrabung“ in der Luminessence-Reihe, sondern Bennie Maupins Sternstunde „The Jewel In The Lotus“. Im Mai.) Und zum Schluss dieser Plattenschau ein wenig Eskapismus. Wie, was? Ja, die Platte mit dem verboten bunten Cover da oben habe ich mir heute aus Berlin bestellt, nie gehört, aber neugierig – schliesslich besitze ich den janpanisch-balearischen Klangtraum namens „Pacific“ auf Vinyl, von eben diesem Herrn Haruomi und einigen seiner Gefährten aus fernen Zeiten.
Eno on Ibiza, 1977
The day before yesterday Brian gave his last lecture on school of songs. Here is one story he told, and I‘ve never heard it before. And after that, listen to the song he has been hunting down fourteen years. Not long ago, WeWantSounds reissued the album containing that track. By the way, it was 1977 when he heard the song for the first time, a time where „global music“ was not yet somthing for everyday. The records that were mirroring music from far away places were not so many … after Tom Scott’s Music For Zen Meditation, after Don Cherry’s Brown Rice, after Yusef Lateef‘s Eastern Sounds, all reflecting north african, arabic style musics or sounds from the far east, it took a time til, at the end of the 70‘s, at the begnning of the 80‘s that thing called „world music“ entered Western cinsciousness, and the market became, after quite some time, a big one: from originals to creative fusion, and pure mainstream on the other end of the spectrum.looking back on eno‘s seminar on songwriting
I even wrote one song in these weeks, a spoken-word piece with a bit of singing – 😉 – called „Ein kleiner Strand“. I like it enough to post it here one day… in case, Tommy Perman and Jan Bang add their magic! It was a great experience to come together with people from all over the world. Hello, Tom Boon! But, I am so familiar with Brian‘s thoughts, and not really planning to write songs in the future, that it had a kind of nostalgic vibe. Brian is in the years now, as we all are who grew up with his music from the 70‘s onwards. And, apart from his clear and humourous ways of lecturing, the Brian who keeps surprising me most, is the Brian putting out new albums. Secretly, I am hoping fo another song album. What he did on „Foreverandevernomore“ was definitely a fantastic late work, opening new gates of perception with a voice and vocals that have aged well. The song he created for Eno, the documentary, „All I Remember“ showed clearly that he can still write songs that are more connected with a sensual and visceral memory, instead of the dark time travel songs of a distant future (the near future yesterday threw some dark shadows on politics in Germany with fucking right wing fascists and a future Kanzler counting on their voices). And it was a very personal song. Why not do a whole work of such sophisticated, sentimental torch songs!? An artist who regularly refuses to write confessional songs would surprise us one more time. By the way, my song „Ein kleiner Strand“ has a distant echo of Seven Regener‘s songs, but it is not a love song, and will have, in its final version (that probably never sees the light of day) more electronics inside.
Die neuen Rechten in deiner Strasse
Es ist nicht nur so, dass die politische Sozialisation allein auf Plattformen stattfindet, die politische Wahrheiten Lügen strafen und so eine junge Generation Halbgebildeter der AfD zutreiben.
Es ist auch so, dass man einer, zugegeben sehr kleinen Gruppe von sog. Intellektuellen, die man eher beim linken Flügel der SPD (gibt es den noch?) oder bei den Grünen vermutet, neuerdings Sympathien für die Rechtspopulisten der AfD feststellt. Manche sagen dies offen, manche zögerlich. Manche schwafeln dumm herum. Manche halten die Partei tatsächlich für eine wählbare Alternative, etwa, wenn sie sich von ihrer rechtsradikalen Jugendorganisation trennen. Nun, das ist jetzt geschehen. Oder, wenn Höcke nicht ihr Kanzlerkandidat ist. Nun: so sieht es aus.
Mit solchen verkappten Sympathiebekundungen konfrontiert, rudern sie nur halbherzig zurück. In zwei Fällen, bei mir in der der Nähe, besuchen solche „neuen Sympathisanten“ öffentlich Kundgebungen der Partei von Weidel, Höcke und Co., und sie sparen nicht mit Beifall, wenn sie sich unter ihresgleichen bewegen. Herr Wallraff, wäre er noch im Einsatz, hätte eine Menge zu berichten, undercover. Ich stellte einen zur Rede, freundlich, aber deutlich, und seine sonst immer nette Fassade wechselte in den Hassjargon: „Kümmer dich um deinen eigenen Dreck.“ „Das ist erbärmlich“, entgegenete ich, „zuletzt sprachen wir noch über unseren Sommerurlaub“, aber da hatte er schon abgedreht.
Die 21 Millionen plus/minus kommen aus allen Ecken der Gesellschaft. Wir können es in diesem Winter in Deutschland, vor der Bundestagswahl, es nicht bei moralischer Entrüstung oder Resignation belassen. Wer die AfD verhindern will, tut gut daran, im kleinen Kreis die Empörten, Gefrusteten anzusprechen, die leichtfertig ihre Stimme der AfD geben wollen. Die meisten von uns kennen solche „Kandidaten“. Ich bin kein Freund der Israelpolitik der Grünen, und ihrer bloss mahnenden Worten an offiziell anerkannte Kriegsverbrecher, aber ich sehe keine Alternative. Simpel, aber wahr: jede Stimme zählt! In der Auseinandersetzung mit der AfD darf es keine Restsympathien geben, kein „vielleicht“, nur klare Kante!
Wer etwas Geld hat, könnte zum Beispiel Campact unterstützen, die demokratischen Widerstand gegen die Neue Rechte leisten. Die Unterstützung klug organisierter Aktionen gegen die AfD ist bedeutsam in diesen Wochen vor der Bundestagswahl, in denen der designierte Kanzlerkandidat Merz gerade den Trump gibt, und die Brandmauer gegen die AfD zu bröckeln droht. Eine ganz gefährliche Entwicklung.“Sei erschütterbar und widersteh“, so textete einst Peter Rühmkorf, und als ich jüngst sein ECM-Album „Kein Apolloprogramm für Lyrik“ wieder mal hörte, konnte ich es leicht als Resonanz auf unsere Jetztzeit in deutschen Landen erleben. „Haltbar bis Ende 1999“ lautete der Titel meines Lieblingsbandes von ihm, den ich damals, in der alten BRD, auf Langeoog in einer Buchhandlung nah am Strand erwarb. Auf dem Cover ein überquellender Aschenbecher.
Einmal, im April des letzten Jahres, brachte ich ein, zwei Strophen aus einem Rühmkorf-Gedicht zu Gehör, in den letzten sieben Minuten der damaligen Ausgabe der JazzFacts: HIER nachzuhören!
Antifaschistische Grüsse!
Rich und seine Songwerkstatt (2/3)
Nach Enos „Songwebinar“ stiess ich auf einen sehr, sehr langen Artikel von Tom Pinnock in der Märzausgabe von Uncut über Richard Dawson. Und dieser Artikel ist preisverdächtig. Rich ist ein dankbarer Gesprächspartner, ein Füllhorn des Exzentrischen, privat, und in seiner Musik, aber diesen Mix aus Biographie, Songanalyse, Erfahrungsbericht, Storytelling und Interview muss man erst mal so hinkriegen. Nicht jeder wird sich mit Dawsons neuem Album „End Of Middle“ auf Anhieb anfreunden, dessen Kernthemen das Ungewöhnliche am sog. „gewöhnlichen Leben“ sowie die Weitergabe von Traumata von einer Generation zur nächsten sind. Sehr, sehr selten wurde da bis heute in einem Songalbum abgehandelt.
Und gerne verdichte ich das alles ein wenig in meiner kommentierten Nacherzählung. Er wollte sich in diesem Werk gar nicht so weit wie sonst in kühne Soundwelten begeben, sondern möglichst normale Songs schaffen, mit Melodie, Text, den basics, und „ohne die zusätzlichen Kameraschwenks“. Und das er bei den fernen Echoräumen dieses Konzeptalbums auch bei Neil Youngs Album „Zuma“ landet, ist eine Pointe des zweiten Akts dieses Dreiteilers. Und dass der Schuppen, in dem er all die Songs dieses neuen Werks geschrieben hatte, von einem Sturm zerstört wurde, kurze Zeit nach der Fertigstellung des letzten Stückes, gehört zu den surrealen Bestandteilen dieses Porträts.
Noch ist es mir nicht gelungen, einen Song des Albums an einer perfekten Stelle meiner März-Klanghorizonte unterzubringen (siehe „monthly revelations“ – RADIO), aber ist ja noch viel Zeit bis dahin.
Wir stapfen durch vereiste Gassen zurück zu Richs Haus, einem Reihenhaus aus dem 19. Jahrhundert, in das er und Sally im Jahr 2020 eingezogen sind. Bis dahin hatte er sein ganzes Leben in Newcastle verbracht, ihr Auto, das auf den Namen Naomi getauft wurde, steht auf der Rückseite des Hauses, während der Garten einen Apfelbaum, eine kompakte Sauna und eine Schar von Gnomen beherbergt. Während sich die beiden drinnen Tee und selbstgebackenen Apfelkuchen holen, ruht ihre schwarze Katze Trouble auf gemusterten Decken auf dem Sofa. An der Wand hängt Dawsons Lieblingsgitarre, eine modifizierte Baby Taylor. „Ich spiele sie jeden Tag“, erklärt er. „Von ihr kommen alle Songs. Sie ist eine Tür, eine Rettungsinsel, ein Spiegel. Es ist ein Zauberstab.“
Eine Reihe von Schallplatten repräsentiert Dawsons vielfältigen Geschmack: Es gibt große Abteilungen für The Fall, Sun Ra, Rajasthani Straßenmusik, Laurie Spiegel, Eliane Radigue, Guy Klucevsek Gas, Sonny Sharrock und John Coltrane, unter anderem. „60 Horses In My Herd“ von Huun-Huur-Tu, das ist eine Schlüsselplatte für mich“, schwärmt er. „Ich habe so viel darüber gelernt, wie ich singen will, vor allem bei diesem einen Stück. Es wird nie alt.“ Diese Einflüsse ermöglichten es ihm, einen kaleidoskopischen Stil zu entwickeln, der an die Avantgarde und unzählige globale Musiken ebenso anknüpft wie an seine „Open-Tuned“-Gitarre, britischen Folk oder transatlantischen Rock. Sein Produzent Sam Grant sah ihn zum ersten Mal ein oder zwei Jahre vor dem 2011 in einem italienischen Restaurant in Newcastle, das experimentelle Performances veranstaltete; er war bereits dabei, die Grenzen zu erweitern.
„Wir waren alle beeindruckt“, erinnert sich Grant. „Er hatte die Gabe, einen Raum völlig zum Schweigen zu bringen. Wenn er anfing, gab es ein lautes Gerede im Raum, und dann wurden die Leute nach und nach von der Musik angezogen. Am Ende des Liedes hörte er auf und der Raum war völlig still. Nicht ein Atemzug! Es war immer bemerkenswert.“
Alkohol spielt für die Charaktere auf End Of The Middle eine große Rolle: die Oma, die sich in „Gondola“ durch den Blossom Hill quält; der labile Erzähler von „Knot“, der auf einer Hochzeit einen Geistesblitz hat; der arbeitslose Vater in „Removals Van“, der seine Sorgen in Dosenbier ertränkt. Auf dem Vorgänger The Ruby Cord von 2022 sind die Charaktere schräg, ganz im Sinne des Einflusses von VR-Welten und Pynchon-Romanen. End Of The Middle hingegen präsentiert seine Spieler in grellem Scheinwerferlicht, ihre alltägliche Plackerei beleuchtet komplexe Innenwelten.
„Ich wollte, dass es wie ein Buch von Alain Robbe-Grillet oder Georges Perec ist – ganze Romane, die nur Räume und Zimmer beschreiben. Natürlich wird ein Album anders, als man es sich vorgestellt hat, wenn man anfängt, sich darauf einzulassen. Das Unkraut nimmt überhand. Ich habe dieses Ding hier gepflanzt, aber dann ist es gewachsen und wurde von meinem ganzen Mist erstickt.“
Das Ergebnis lässt tief in die Dynamik und das Trauma von Familien blicken, wobei wiederkehrende Namen eine Kontinuität suggerieren, der Dawson gerne ausweicht. Der Sound des Albums passt zu den alltäglichen Themen: Wo Peasant and The Ruby Cord mit schwingender Geige und manischer Harfe schwirrte und 2020 von E-Gitarren, Drumcomputern und Synthesizern auf einen kantigen Punkt geschliffen wurde, besteht End Of The Middle hauptsächlich aus genau diesem Baby Taylor und Andrew Cheethams zaghaftem Schlagzeug. Dawson erwähnt den frühen Neil Young als Einfluss, ebenso wie Michael Hurley: „Es gibt so viel an Michael Hurleys Platten, das das verkörpert, was ich an der Musik anderer Leute liebe – den Raum zu hören, das Klebeband, wo die Nägel eingeschlagen wurden.“
„Wir wollten, dass es so klingt, als würde Richard in einem Wohnzimmer für alle und niemanden spielen“, sagt Grant. „Es gibt keine Fanfaren, nur eine Bescheidenheit und einen sehr exponierten Sound, der dem Song selbst keinen Raum für Selbstgefälligkeit lässt.“
„Richard wollte, dass es wirklich einfach ist“, fügt Schlagzeuger Andrew Cheetham hinzu. „Er bat mich immer wieder, das Schlagzeug ’schwach‘ und ‚zerbrechlich‘ klingen zu lassen, ein bisschen pathetisch. Wir haben es zusammen aufgenommen, den Gesang danach – er wollte dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, das man zum Beispiel bei Neil Youngs Zuma hat, dieses entspannte Gefühl.“
Auf dem gesamten Album blitzt immer wieder die Free-Improvisations-Klarinette von Faye MacCalman auf. „Sie spielt eine ähnliche Rolle wie die Geige von Angharad Davies auf Peasant – als eine Schicht aus Frost, gefrierendem Nebel oder Nieselregen“, sinniert Dawson. „Das Album beginnt mit ‚Bolt‘, wo ein Blitz in die Ecken des Hauses leuchtet. Die Klarinette ist wie der Blitz, der in bestimmten Momenten in jedem Song wieder auftaucht, um uns einen Schubs zu geben – ‚Wake up!‘ Als ich ein Kind war, schlug der Blitz tatsächlich in das Haus meiner Familie ein: Mein Vater hatte 10 Sekunden vorher aufgelegt und dann war das Telefon braun und verkohlt. Das war wirklich knapp – etwa 10 Menschen sterben jedes Jahr, weil sie vom Blitz getroffen werden.
Die Düsternis von Dawsons Material wird durch absurden Humor konterkariert, wie in „Bullies“, wo ein Elternteil einen Anruf wegen des Mobbingverhaltens seines Kindes erhält:
“I was in the middle of a Zoom / With one of our most important clients / Majestic Wine…”
„Er hat eine unheimliche Fähigkeit, das Leichte mit dem Schweren zu verbinden“, sagt Grant. „Ich denke, dass die Wachsamkeit oft durch etwas scheinbar Leichtes und Verspieltes gesenkt wird, was es der Musik und den gewichtigen Themen erlaubt, noch ein bisschen härter zuzuschlagen.“
Rich und seine Songwerkstatt (1/3)
In der Kleingartenanlage, in der Rich Dawson sein neues Album „End Of The Middle“ sorgfältig pflegt, ist etwas in Bewegung geraten. Das jüngste Werk des Singer-Songwriters erforscht die Dynamik und das Trauma von Familien. Beim Blick in den Polytunnel erfahren wir, wie Blitzeinschläge, Gnome, Andrei Tarkovsky und „zerbrechliche“ Trommeln dazu beigetragen haben, Dawsons neueste musikalische Ernte zu einzifahren. „Ein Lied ist eine Form von Magie“, sagt Rich. Aber fangen wir mit dem Anfang an. Dies ist eine stark bearbeitete, aber relativ wortgetreue, zudem teilweise kommentierte, Nacherzählung von Tim Pinnocks Begegnung mit Rich in drei Akten.
An einem gefrorenen Berghang über dem „Tyne Valley“ zeigt Richard Dawson die Vorzüge einer dezenten Idylle. Grünkohl, Knollensellerie und Knoblauch sind unter einem Netz geschützt, Erdbeeren und Kürbisse im Polytunnel, Kartoffeln sprießen unter durchnässtem Karton und zwei Arten von Artischocken. „Es ist magisch hier oben, nicht wahr?“, sagt er und blickt danei hinaus in die Landschaft. Auf der Hügelkuppe zeichnen sich Pferde ab, und ein dunkelbrauner Vogel kauert auf einem Zaun, während der Tyne unter uns vorbeizieht, ohne dass wir ihn sehen. Doch es ist nicht alles so, wie es scheint.
„Ich hasse den Kleingarten“, sagt er. „Ich habe eine Zeit lang versucht, mir das nicht einzugestehen. Ich hasse alles, was mit Molekülen zu tun hat. Ich hasse es, etwas anzufassen, ich hasse es, einen Körper zu haben, ich hasse es, Kleidung anzuziehen. Das ist alles schrecklich. Ich mag es einfach, mit Worten und Gedanken und Luft zu arbeiten – gasförmiges Zeug, das ist schön, das mag ich.“
Der Kleingarten hat Dawson zumindest die nötige Ruhe verschafft, um seinen gasförmigen Leidenschaften nachzugehen. Dazu gehört auch ein Schuppen, in dem er die Texte für sein neues, achtes Album „End Of The Middle“ geschrieben hat. Darin befinden sich nur ein harter Stuhl, ein winziger Schreibtisch, eine ungeöffnete Flasche Brandy und ein 10er-Pack Boddingtons (acht Dosen unangetastet). Dawson verbrachte dort acht Monate, mit Unterbrechungen, um die Songs zu schreiben. Nicht lange nachdem er fertig war, kippte der Sturm Jocelyn den Schuppen um.
„So zu schreiben ist kein sehr praktischer Prozess“, gibt er zu. „Aber ich weiß nicht, wie ich es sonst machen soll. Pferde kommen und schauen durch das Stallfenster herein, es gibt Raubvögel, herumhuschende Säugetiere und…“ Ein Esel brüllt in der Nähe. „Ein Drache?“
Obwohl Dawson am Tag vor unserem Treffen seinen eigenen Polytunnel reparierte, ist der erste Track von End Of The Middle, „Polytunnel“, nicht autobiografisch. „Das ist die Realität, die die Kunst widerspiegelt“, erklärt er, “nicht umgekehrt.“ Wie viele große Schriftsteller lässt er sich von seinem eigenen Alltag inspirieren, erschafft aber fiktive Charaktere, die sich sehr lebensecht anfühlen. „Alle Figuren sind frisch, sie sind alle sehr präsent“, sagt er.
Einst ein jugendlicher Metalhead, der in ein verlorenes Jahrzehnt abdriftete, hat sich Dawson in den letzten 15 Jahren durch harte Arbeit und Entschlossenheit zu einem Songwriter von außerordentlicher Kraft, einem hervorragenden Gitarristen und einem unglaublichen Sänger entwickelt. Dieser Künstler verbringt fünf lange Wochen damit, einen Song über einen halb verwahrlosten Vater zu schreiben, der seine Tochter vom Fußballtraining abholt, um ihn dann zu verwerfen und einen neuen Text über einen mythischen Oger aus dem sechsten Jahrhundert zu schreiben, der auch eine Parabel auf die heutigen Asylsuchenden sein könnte.
(Fortsetzung folgt)