Sirāt


Ein Freund sagte vor längerer Zeit einmal, es sei total offensichtlich, meine Filme erzählten immer vom Aufbrechen von Grenzen. Ich bin mir nicht so ganz sicher, wie Recht er damit hat, aber mir gefällt diese thematische Quersumme sehr gut; ich kann mich darin wiederfinden bzw. fühle mich davon angesprochen. Und wenn ich dran denke, nehme ich das auch als konkreten Abstoß für meine inhaltliche Arbeit an Projekten. Sehr fasziniert bin ich bspw. von unterschiedlichsten geografischen Grenzgebieten und nehme sie gerne als Anstoß für Reisen und Recherchen und Fotografien. Und entsprechend ziehen mich im Kino Filme an, die das Thema Grenzen auf die unterschiedlichsten Weisen aufgreifen. 

„Sirāt“ wurde beim Filmfestival in Cannes vor zwei Monaten mit großer Begeisterung aufgenommen und hat bei vielen Menschen Eindruck hinterlassen, wurde entsprechend auch als einer der zwei oder drei Favoriten auf die Goldene Palme gehandelt. („In jedem Jahr gibt es mindestens einen Film, der das Festival in Cannes durchschüttelt und auf den Kopf stellt. 2025 war das […] ohne Frage „Sirāt“ von Óliver Laxe.“ beginnt Joachim Kurz eine von zahlreichen 5-Sterne-Besprechungen.) Die Palme ging letztlich an den geschätzten Iraner Jafar Panahi, der seit vielen Jahren trotz enormer Repressalien einfach weiter macht, von seiner Heimat zu erzählen – wieder und wieder wurde er von seinem Heimatland am Filmemachen gehindert, eingesperrt, mit Ausreiseverboten belegt. Aber „Sirāt“, der immerhin mit dem Preis der Jury nach Hause ging, fand in meinem Umfeld größeren Wiederhall. In meinem Facebook-Thread z.B. überboten sich die Leute gegenseitig mit der Aussage, dass dies für sie der beste, eindrücklichste, nachhaltigste und intensivste Filme in Cannes gewesen sei.

Zusätzlich neugierig wurde ich, weil Kangding Ray, ein von mir seit vielen Jahren sehr geschätzter Musiker, der u.a. viele Alben bei Raster/Notonveröffentlicht hat, die einen sehr eigenen Sound haben, in sozialen Medien auch auf den Film hinwies. Denn der Franzose (bürgerlich heißt er David Letellier), seit vielen Jahren in Berlin lebend, hat die Filmmusik gemacht. Passenderweise gab es gerade in Berlin eine Voraufführung bzw. Premiere mit Präsenz und Publikumsgespräch mit „Kangding Ray“ und Regisseur Óliver Laxe — ein Franzose, der 12 Jahre in Marokko lebte, wo er einige Filme gedreht hat; vier seiner Spielfilme wurden bereits in Cannes gezeigt, mehrere Preise erhielt er dort, mit „Sirāt“ zum ersten Mal im Wettbewerb.

„Sirāt“ ist einer dieser Filme, die einen recht gut erwischen, wenn man die Handlung nicht kennt – wenn man es vorab vermeidet, Inhaltsangaben zu lesen. Die Handlung ist ohnehin recht schnell zusammengefasst. Manche Kritiken zogen Parallelen zu „Mad Max“, speziell dem beliebten „Fury Road“; ganz so hysterisch und exzessiv ist der dann auch wieder nicht; aber wenn man andere Orientierungspunkt wie Clouzots Klassiker „Lohn der Angst“ oder Friedkins „Sorcerer“ (bei dem die Tangerine-Dream-Musik an die Filmmusik von Kangding Ray erinnern soll) mit einrechnet, kommt man schon in eine gute Richtung. Auch „The Searchers“ und „Zabriskie Point“ sowie Apichatpong Weerasethakul wurden als Vergleiche herangezogen. Diese an sich unvereinbaren Filmverweise finde ich wiederum enorm spannend, denn einen Film aus der Quersumme dieser vier ergibt gewissermaßen keinen Sinn. Schon früher wurde Laxes Schaffen mit Werner-Herzog-Filmen verglichen. Mir würden auch noch ein paar weitere einfallen. 

„Sirāt“, ein vollkommen einzigartiger Film, spielt in der marokkanischen Wüste und erzählt von Grenzen aller Art. Es geht auch um Politik, Kapitalismus, um die Rave-Kultur und um Utopien, und es geht um die Geschichte eines Vaters und der Beziehung zu seiner Tochter, doch bleibt es wie gesagt bei einer sehr einfachen Geschichte, die Óliver Laxe auf manchmal überraschend kantige Weise erzählt. Auch die Genregrenzen sind fließend — mit enorm energetischer Techno-Musik starten wir auf einem illegalen Rave in der Wüste, und bald wird es auch eine Art post-apokalyptisches Roadmovie, mit meditativen Passagen und aufreibenden Trips an verschiedene Grenzen. Hauptdarsteller Sergi López ist zwar ein bekannter Schauspieler, geht aber geradezu dokumentarisch in diesem Werk auf, ebenso wie wir um ihn herum viele vom Leben gezeichnete Personen erleben, mit „Laien“ besetzt und aus der realen Rave-Szene – und alles passt enorm gut zusammen, darf aber auch mal alberne Momente haben. Auch wenn die Handlung sehr eindringlich ist und kaum vorherzusehen, womit man konfrontiert werden wird, erzählt „Sirāt“ nicht auf eine gewöhnliche psychologische Weise – vielmehr öffnet sich ein Erfahrungsraum, in dem wir als Zuschauer eine tiefe Erfahrung mit den Figuren und ihrem Trip an die Grenzen machen. In jedem Fall ist es durch und durch ein Film, wie ich mir gewünscht hätte, ihn gedreht zu haben.

ijb

Deutscher Kinostart: 14. August 

5 Kommentare

  • cargo

    Was für ein brachiales Kinoerlebnis. „Sirat“ ist einer dieser seltenen Filme, die man unbedingt im Kino gesehen haben muss – und das nicht nur wegen der beeindruckenden Bilder, sondern vor allem wegen der absolut kompromisslosen Soundkulisse, die einen regelrecht in den Sitz presst.

    Nicht ohne Grund hat der Film den Jurypreis in Cannes gewonnen. Man spürt in jeder Einstellung, dass hier mit maximalem Mut und absoluter Konsequenz gearbeitet wurde. Die Darstellung der Wüste ist dabei so schonungslos und brutal geraten, dass selbst „Dune“ im Vergleich fast gemütlich wirkt.

    Und dann gibt es da diese zwei Szenen, die einfach nur wie ein Schlag in den Magen daherkommen – ohne billige Effekte, ohne Vorwarnung. Selten saß man so fassungslos im Kino.

    Die eigentliche Handlung – Vater und Sohn suchen die Tochter auf irgendeinem Wüsten-Rave, während nebenbei ein dritter Weltkrieg angedeutet wird – ist dabei ehrlicherweise nicht immer ganz stimmig und wirkt manchmal fast nebensächlich.

  • Ansgar

    Eine wundervolle Besprechung, ohne zuviel vorweg zu nehmen. Das Erlebnis MUSS man tatsächlich in einem Kino erleben, dort ist das Erlebnis zweifelsfrei intensiver, als zuhause.
    Nach dem Film sieht man die Wüste mit anderen Augen – in all ihrer Schönheit und ihrer brutalen Gewalt.
    Was mich immer wieder faszinierte: Kaum eine Entscheidung der Protagonisten ist logisch und dennoch kann man sie verstehen. Das macht das Leben (und den Film) spannend.
    a.h.

  • ijb

    Die eigentliche Handlung […] ist dabei ehrlicherweise nicht immer ganz stimmig und wirkt manchmal fast nebensächlich.

    Man darf hier nicht vergessen, dass es nicht um Realismus-Kino geht, sondern um eine Art Fiebertraum.

    […] „Sirât“ […] muss man zunächst unbedingt vom Zustand des Rauschs her erfahren, der durchaus auch im Kino wirkt. Ein existenzielles Freiheitsgefühl liegt in den Bildern von Maruo Herce, aufgenommen mit 16-mm-Filmmaterial in der Wüste.
    Die körnige Haptik maseriert die Ledrigkeit der von der Sonne gegerbten Gesichter und die mit Staub gesprenkelten Körper, die sich selbstvergessen im minimalistischen Rhythmus der Musik von Kangding Ray wiegen.
    Es ist bei aller Faszination – und Laxe verklärt die Wüste, anders als zum Beispiel Michelangelo Antonioni, in keinem Moment zu einer bewusstseinserweiternden Landschaft – ein harscher, wenig einladender Ort. Die Sonne brennt, Sandstürme toben, und die nächtliche Sintflut macht ein Weiterkommen unmöglich.

    Schon der Titel sollte eine Warnung sein. Sirât heißt im Islam die schmale Brücke zwischen Hölle und Paradies: schmal wie ein Haar, scharf wie die Klinge eines Messers.
    […] Die existenzialistische Erfahrung, die die Techno-Nomaden in der Wüste suchen, ist für die Marokkaner der Normalzustand. Diese Exotisierung aus der privilegierten Perspektive jener, für die die „Flucht“ eine freie Willensentscheidung ist, steht in vermeintlicher Diskrepanz zu dem ethnografischen Blick auf das archaische Milieu der Aussteiger.
    Die Raver […] spielen sich gewissermaßen selbst, ihre ausgezehrten, gepiercten, teilweise verkrüppelten Körper verfassen eine Physiognomie, die vom Tanzen unter der Wüstensonne gezeichnet ist. Durch diesen quasi-dokumentarischen Effekt nimmt Laxe aber eine wesentliche Differenzierung in der Wahrnehmung des afrikanischen Kontinents vor. […] „Sirât“ geht es dabei nicht um eine Analyse des Verhältnisses von Europa und globalem Süden, dafür bleiben die realen Verhältnisse in dem Roadmovie zu weit außen vor.
    Ähnlich wie Claire Denis in ihrem meditativen „Beau Travail“ über die Erfahrungen eines Fremdenlegionärs, der vom Krieg vergessen wurde, zirkulieren Laxe und Kameramann Herce um die Körper ihrer Protagonisten. Sie bewegt ein essentialistisches Interesse am Übergang von Endorphinrausch und Adrenalinausschüttung angesichts sehr plastischer Gewalterfahrungen.
    […] Die Vehemenz, mit der „Sirât“ sein Publikum vor den Kopf stößt, hat andere Qualitäten als eine profunde Analyse. Sie zielt direkt auf die Eingeweide ab, die schließlich auf der Leinwand verteilt werden. Irgendwo darin schlägt auch ein Herz; und wenn es nur das Herz der Finsternis ist. „Sirât“ legt es frei.

     Andreas Busche im Tagesspiegel

  • Michael Engelbrecht

    Gestern in Aachen Sirāt gesehen, vorher war ich in alter ausgefuchster Methode nur über Ingos Zeilen gehuscht, um nichts vom Inhalt zu erfahren.

    Fantastisches Kinoerlebnis für die ganz grosse Leinwand!

    Und ich lese in einer BFI review dazu folgendes, und stimme voll zu, Ingo weist ja auch darauf hin:

    „But more than that, it’s an auditory feast – one that should be consumed at maximum volume. Sirât opens at an illegal rave in the shadow of the mountains, where throbs of deep bass reverberate off the rock and shake the audience into a trance state beyond conscious thought.“

    Ob es die Filmmusik zu erwerben gibt?

  • Martina Weber

    Bisher bin ich nur über die Texte gehuscht, um nicht zu viel zu erfahren. Der Film ist in meinem kleinen Lieblingskino schon angelaufen; ich werde ihn wahrscheinlich erst Anfang September anschauen. Dann lese ich die Texte hier in aller Muße. Ich freu mich sehr über den Hinweis und aufs Kino.

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