Dreams so real und Blonde on Blonde
Vor einigen Tagen fragte mich David Rothenberg, wen aus dem ECM-Kosmos ich denn noch gerne porträtieren würde. Mit Jarrett, DeJohnette, Reich, Garbarek kamen Begegnungen ja leider nicht zustande; daher wäre Gary Burton vielleicht der einzige der alten, der ersten ECM-Generation, der noch auf meiner imaginären Liste wäre, auch wenn ich alles andere als ein fundierter Kenner seines enorm umfang- wie einflussreichen Werks bin.
Nun wollte ich die Chance allerdings nicht ungenutzt lassen und schrieb ihm eine E-Mail. Und, erstaunlicherweise, schneller als irgendjemand sonst von all jenen, die ich kontaktiert habe, antwortete er innerhalb von nicht mal einer Stunde: Sicher, komm gerne vorbei. Sag einfach, wann, und ich trag’s in meinen Kalender ein. Also fuhr ich ihn zu Hause besuchen und habe ihm nun gerade ein paar Stunden lang zugehört. Er hatte sich sogar schriftlich vorbereitet und seine ECM-Diskografie und ein paar zentrale Eckdaten vorab notiert:


Ich hatte ihm vorab mein Gespräch mit Carla Bley und Steve Swallow zu Dreams so real – Music of Carla Bley geschickt, und habe ihn dann auf Carlas „I didn’t like this one“ angesprochen. Für Gary war das eine neue Information, er gebe allerdings auch zu, dass er das Album selbst seit damals nicht mehr angehört habe. Er gab ausführliche Einblicke in seine Zusammenarbeit mit Manfred Eicher, von dem (und von Martin Wieland) er bei den zahlreichen gemeinsamen Produktionen unglaublich viel gelernt habe – weshalb er im übrigen später seine Alben allesamt selbst produzierte. Während seine zahlreichen Grammys hinter ihm im Regal standen, blieben seine Erinnerungen keineswegs ohne (selbst-)kritische Anmerkungen. Er schilderte faszinierend von seiner langen Karriere, erzählte auch recht offen von seinen zahlreichen bekannten Musikerfreunden und -kollegen.
Eine Weile sprachen wir über noch aktive ü80-jährige Musiker, und Gary erzählte, wie ihn der Dylan-Film A Complete Unknown berührt habe. Er selbst kam just zur selben Zeit aus dem Mittleren Westen (Indiana) nach New York und baute sich zeitgleich wie Dylan seine Karriere dort auf. „I knew half the people in that movie“ – und er habe teils in den Jazzclubs auf der gegenüberliegenden Straßenseite gespielt, Dylan allerdings leider nie getroffen; einmal wurde ein Doppelkonzert mit seiner und Dylans Band angesetzt, worauf er geradezu hinfieberte, doch leider sprang Dylan dann ab. Gary erzählte auch, dass ihn Blonde on Blonde 1966 so begeistert habe, dass er zwei der Musiker für sein eigenes nächstes Album buchte. Die erzählten ihm dann viele beeindruckende Geschichten von den Studio-Sessions mit Dylan, etwa dass er einmal einige Stunden lang die Band draußen in der Gasse spielen und aufnehmen ließ, dann aber doch erkannte, dass das Ergebnis nichts taugte; oder die Situation, als Dylan eines Tages im Studio noch einen Song fertig schreiben wollte, die nach Stunden bezahlte Band und Musiker sechs Stunden warten im Studio warten ließ, während er den Song schrieb … und dann die folgenden sechs Stunden, bis sechs Uhr morgens, spielten sie Sad Eyed Lady of the Lowlands ein. Wie sicher müsse sich jemand seiner Kunst sein, kommentierte Gary, als junger Mann in Anwesenheit stundenlang wartender Musiker und Techniker solche Konzentration und Selbstsicherheit aufbringen zu können – und am Ende entsteht so ein zwölf Minuten langer Song?
Auch erzählte Gary, wie er beim letzten Amerika-Konzert der Beatles war, mit zahlreichen Freunden, dann das Angebot bekam, die Band backstage zu besuchen, er aber meinte, „Ach, muss nicht sein, die Gelegenheit wird sich sicher noch einmal ergeben.“ Er beiße sich heute noch dafür in den Hintern.
Nun mache ich mich auf dem Weg zu einer neuen Red-Hook-Studioaufnahme mit Wadada Leo Smith und Amina Claudine Myers in Manhattan, ebenfalls ü80-jähriger Musiker/innen. Mein Interview mit Amina zu ihrem in Kürze erschienenen Soloalbum wird es Anfang Juni geben. Wadada (bald 85) kommt im Herbst übrigens zum letzten Mal auf Europatournee und spielt u.a. mit Jakob Bro, Marcus Gilmore und Thomas Morgan im Boulez-Saal. Ich habe natürlich direkt eine Karte gekauft.
6 Kommentare
Michael Engelbrecht
Hochspannnend.
Wenn man in der Zeit „dabei“ war – in der Zeit – löst ein Film wie Like A Complete Unknowm natürlich sehr viel aus. Wie bei mir Köln 75. Gary Burton hat anshxeinend ein riesiges Reservoir an Stories, noch über seine Autobiografie hinaus. Die Beatles nicht backstage besuchen, geht gar nicht😅
Looking forward to hear / senn your interview one day. In 1973 the band from the „New Quartet“ was my first ECM-related in Concert in a school „aula“ in Unna.
Michael Engelbrecht
Gute Reise nach Manhattan!
You’re really travelin man.
Das Soloalbum von Amina Claudine Myers ist fest eingeplant für die nächsten Klanghorizonte Ende Juli (meine vorletzten Horizonte ever). Hoffe, bald an die Cd zu kommen. Und wenn du einem oder zwei schöne Otöne hast … 😉
Jan Reetze
Dreams so real — das war die LP zur Tour, die das Gary Burton Quintet in den großen Sendesaal des NDR führte, wo es dann mit dem Gast Albert Mangelsdorff konzertierte. Unvergesslich. Und vor einigen Jahren spielte Burton auf seiner Abschiedstournee auch hier in Pittsburgh. Dafür, dass ich das verpasst habe, könnte ich mich in den Hintern beißen. So hat halt jeder seinen speziellen Grund dafür …
flowworker
@ Jan: von unserer Autorenlste bin ich wahrscheinluchlich die Nummer 7 oder 8, was die Anzahl der Konzertbesuche meines Lebens angeht. Aber die, die mich sehr berührt haben, bleiben für immer sehr lebendige Erinnerungen. My favourite Gary Burton Concert was in Aschaffenurg, a nice old theatre, 1975 or early 1976: Gary with young Pat Metheny on his quite first German journey, Eberhard Weber and Bob Moses, I think. The atmosphere, the music, my soon to be fiancee at my side, sweet memories are made of this. Ein wenig Wehmut auch, in our endlessly counted days….
Olaf Westfeld
Travellin‘ man indeed.
Und danke für den Hinweis – habe mir direkt zwei Karten für das Konzert gekauft.
flowworker
Und wir freuen uns alle, wenn wir hier den rough mix deines Interviews sehen können. Ich habe gleich Lust bekommen, Hotel Hello aufzulegen!