Rich und seine Songwerkstatt (2/3)
Nach Enos „Songwebinar“ stiess ich auf einen sehr, sehr langen Artikel von Tom Pinnock in der Märzausgabe von Uncut über Richard Dawson. Und dieser Artikel ist preisverdächtig. Rich ist ein dankbarer Gesprächspartner, ein Füllhorn des Exzentrischen, privat, und in seiner Musik, aber diesen Mix aus Biographie, Songanalyse, Erfahrungsbericht, Storytelling und Interview muss man erst mal so hinkriegen. Nicht jeder wird sich mit Dawsons neuem Album „End Of Middle“ auf Anhieb anfreunden, dessen Kernthemen das Ungewöhnliche am sog. „gewöhnlichen Leben“ sowie die Weitergabe von Traumata von einer Generation zur nächsten sind. Sehr, sehr selten wurde da bis heute in einem Songalbum abgehandelt.
Und gerne verdichte ich das alles ein wenig in meiner kommentierten Nacherzählung. Er wollte sich in diesem Werk gar nicht so weit wie sonst in kühne Soundwelten begeben, sondern möglichst normale Songs schaffen, mit Melodie, Text, den basics, und „ohne die zusätzlichen Kameraschwenks“. Und das er bei den fernen Echoräumen dieses Konzeptalbums auch bei Neil Youngs Album „Zuma“ landet, ist eine Pointe des zweiten Akts dieses Dreiteilers. Und dass der Schuppen, in dem er all die Songs dieses neuen Werks geschrieben hatte, von einem Sturm zerstört wurde, kurze Zeit nach der Fertigstellung des letzten Stückes, gehört zu den surrealen Bestandteilen dieses Porträts.
Noch ist es mir nicht gelungen, einen Song des Albums an einer perfekten Stelle meiner März-Klanghorizonte unterzubringen (siehe „monthly revelations“ – RADIO), aber ist ja noch viel Zeit bis dahin.

Wir stapfen durch vereiste Gassen zurück zu Richs Haus, einem Reihenhaus aus dem 19. Jahrhundert, in das er und Sally im Jahr 2020 eingezogen sind. Bis dahin hatte er sein ganzes Leben in Newcastle verbracht, ihr Auto, das auf den Namen Naomi getauft wurde, steht auf der Rückseite des Hauses, während der Garten einen Apfelbaum, eine kompakte Sauna und eine Schar von Gnomen beherbergt. Während sich die beiden drinnen Tee und selbstgebackenen Apfelkuchen holen, ruht ihre schwarze Katze Trouble auf gemusterten Decken auf dem Sofa. An der Wand hängt Dawsons Lieblingsgitarre, eine modifizierte Baby Taylor. „Ich spiele sie jeden Tag“, erklärt er. „Von ihr kommen alle Songs. Sie ist eine Tür, eine Rettungsinsel, ein Spiegel. Es ist ein Zauberstab.“
Eine Reihe von Schallplatten repräsentiert Dawsons vielfältigen Geschmack: Es gibt große Abteilungen für The Fall, Sun Ra, Rajasthani Straßenmusik, Laurie Spiegel, Eliane Radigue, Guy Klucevsek Gas, Sonny Sharrock und John Coltrane, unter anderem. „60 Horses In My Herd“ von Huun-Huur-Tu, das ist eine Schlüsselplatte für mich“, schwärmt er. „Ich habe so viel darüber gelernt, wie ich singen will, vor allem bei diesem einen Stück. Es wird nie alt.“ Diese Einflüsse ermöglichten es ihm, einen kaleidoskopischen Stil zu entwickeln, der an die Avantgarde und unzählige globale Musiken ebenso anknüpft wie an seine „Open-Tuned“-Gitarre, britischen Folk oder transatlantischen Rock. Sein Produzent Sam Grant sah ihn zum ersten Mal ein oder zwei Jahre vor dem 2011 in einem italienischen Restaurant in Newcastle, das experimentelle Performances veranstaltete; er war bereits dabei, die Grenzen zu erweitern.
„Wir waren alle beeindruckt“, erinnert sich Grant. „Er hatte die Gabe, einen Raum völlig zum Schweigen zu bringen. Wenn er anfing, gab es ein lautes Gerede im Raum, und dann wurden die Leute nach und nach von der Musik angezogen. Am Ende des Liedes hörte er auf und der Raum war völlig still. Nicht ein Atemzug! Es war immer bemerkenswert.“
Alkohol spielt für die Charaktere auf End Of The Middle eine große Rolle: die Oma, die sich in „Gondola“ durch den Blossom Hill quält; der labile Erzähler von „Knot“, der auf einer Hochzeit einen Geistesblitz hat; der arbeitslose Vater in „Removals Van“, der seine Sorgen in Dosenbier ertränkt. Auf dem Vorgänger The Ruby Cord von 2022 sind die Charaktere schräg, ganz im Sinne des Einflusses von VR-Welten und Pynchon-Romanen. End Of The Middle hingegen präsentiert seine Spieler in grellem Scheinwerferlicht, ihre alltägliche Plackerei beleuchtet komplexe Innenwelten.
„Ich wollte, dass es wie ein Buch von Alain Robbe-Grillet oder Georges Perec ist – ganze Romane, die nur Räume und Zimmer beschreiben. Natürlich wird ein Album anders, als man es sich vorgestellt hat, wenn man anfängt, sich darauf einzulassen. Das Unkraut nimmt überhand. Ich habe dieses Ding hier gepflanzt, aber dann ist es gewachsen und wurde von meinem ganzen Mist erstickt.“
Das Ergebnis lässt tief in die Dynamik und das Trauma von Familien blicken, wobei wiederkehrende Namen eine Kontinuität suggerieren, der Dawson gerne ausweicht. Der Sound des Albums passt zu den alltäglichen Themen: Wo Peasant and The Ruby Cord mit schwingender Geige und manischer Harfe schwirrte und 2020 von E-Gitarren, Drumcomputern und Synthesizern auf einen kantigen Punkt geschliffen wurde, besteht End Of The Middle hauptsächlich aus genau diesem Baby Taylor und Andrew Cheethams zaghaftem Schlagzeug. Dawson erwähnt den frühen Neil Young als Einfluss, ebenso wie Michael Hurley: „Es gibt so viel an Michael Hurleys Platten, das das verkörpert, was ich an der Musik anderer Leute liebe – den Raum zu hören, das Klebeband, wo die Nägel eingeschlagen wurden.“
„Wir wollten, dass es so klingt, als würde Richard in einem Wohnzimmer für alle und niemanden spielen“, sagt Grant. „Es gibt keine Fanfaren, nur eine Bescheidenheit und einen sehr exponierten Sound, der dem Song selbst keinen Raum für Selbstgefälligkeit lässt.“

„Richard wollte, dass es wirklich einfach ist“, fügt Schlagzeuger Andrew Cheetham hinzu. „Er bat mich immer wieder, das Schlagzeug ’schwach‘ und ‚zerbrechlich‘ klingen zu lassen, ein bisschen pathetisch. Wir haben es zusammen aufgenommen, den Gesang danach – er wollte dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, das man zum Beispiel bei Neil Youngs Zuma hat, dieses entspannte Gefühl.“
Auf dem gesamten Album blitzt immer wieder die Free-Improvisations-Klarinette von Faye MacCalman auf. „Sie spielt eine ähnliche Rolle wie die Geige von Angharad Davies auf Peasant – als eine Schicht aus Frost, gefrierendem Nebel oder Nieselregen“, sinniert Dawson. „Das Album beginnt mit ‚Bolt‘, wo ein Blitz in die Ecken des Hauses leuchtet. Die Klarinette ist wie der Blitz, der in bestimmten Momenten in jedem Song wieder auftaucht, um uns einen Schubs zu geben – ‚Wake up!‘ Als ich ein Kind war, schlug der Blitz tatsächlich in das Haus meiner Familie ein: Mein Vater hatte 10 Sekunden vorher aufgelegt und dann war das Telefon braun und verkohlt. Das war wirklich knapp – etwa 10 Menschen sterben jedes Jahr, weil sie vom Blitz getroffen werden.
Die Düsternis von Dawsons Material wird durch absurden Humor konterkariert, wie in „Bullies“, wo ein Elternteil einen Anruf wegen des Mobbingverhaltens seines Kindes erhält:
“I was in the middle of a Zoom / With one of our most important clients / Majestic Wine…”
„Er hat eine unheimliche Fähigkeit, das Leichte mit dem Schweren zu verbinden“, sagt Grant. „Ich denke, dass die Wachsamkeit oft durch etwas scheinbar Leichtes und Verspieltes gesenkt wird, was es der Musik und den gewichtigen Themen erlaubt, noch ein bisschen härter zuzuschlagen.“
Ein Kommentar
Michael Engelbrecht
Gondola (lyrics)
Good Morning Britain, a soft-boiled egg.
Piers is on Lorraine, shooting pains down my left leg.
Holly & Phil’ll pay my energy bills,
dead wasp on the windowsill,
the last drops of Blossom Hill,
hailstones on the bus up to Lidl.
The booze-aisle is dark and wide,
A cork upon it’s ceaseless tide,
Let the darkness roll inside.
And I went to work for Dad
in the jewellery shop. I wish I had
gone onto higher education –
but Tom was always the clever one.
Cash In The Attic, A Place In The Sun,
a very long-overdue phonecall from my son William,
Deal Or No Deal Or No Deal Or No Deal Or No Deal –
box number 17 is opened to reveal a wound that’s never healed.
TV drifting out of sight,
A cup filled to the brim of night,
Let the darkness roll inside.
I don’t want any more regrets,
my dreams died like dolphins in a net.
I never got to go to Venice
and how many summers have I left?
I still can’t believe I’m a grandma.
Jen just passed her driving test.
I’m going to put a couple of thousand pounds
towards a car
and take her on holiday –
‚make memories‘ before it’s all too late.
There we are beneath the Rialto Bridge,
huddled in a gondola.