Adrift

Der Roman „Umlaufbahnen“ (Orbital) von Samantha Harvey verzichtet weitgehend auf Handlung oder einen Spannungsbogen. Es ist eine Meditation über die Erde und das Treiben der Menschen darauf. Insofern ist so etwas wie ein spoiler alert unnötig: 6 Charaktere leben und arbeiten in 400 km Höhe auf einer Raumstation, die mit einer Geschwindigkeit von 28000 km/h um die Erde kreist und diese so an einem Tag 16mal umrundet. Das ist auch die Idee des schmalen Buches: ein Tag, 16 Umlaufbahnen mit den Menschen auf dieser Raumstation. Wobei elementare Einheiten wie Tag und Nacht in diesen Höhen eine andere Bedeutung haben; 24 Stunden sind dort oben kein Tag.

Anstelle eines Plots, einer Handlung, steht das Geflecht aus den Gedanken, Gefühlen und vor allem Wahrnehmungen der Astronaut*innen (4 Männer, 2 Frauen) im Zentrum. Die Fenster zur Erde ziehen sie magisch an, sie beobachten den Planeten, die Wolkenformationen eines Taifuns, die Lichter der Großstädte bei Nacht (die einzigen Hinweise auf menschliches Leben, die sie aus der Höhe wahrnehmen können), das Spiel von Sonnenlicht und Schatten, die Gebirge, die Wüsten,…. Samantha Harvey findet hier eine ganz eigene Sprache, durchzogen von einer spröden Sinnlichkeit; der schwindelerregende Fortschritt der Menschheit wird deutlich, vor allem aber die Demut gegenüber dem blauen Planeten.

Die Erde ist „(E)in Planet, der vom Zentrum ins Abseits verbannt wurde – um ihn wird sich nicht gedreht (abgesehen von seinem knubbeligen Mond), er dreht sich selbst um andere. Er beheimatet uns Menschen, die wir größere und noch größere Objektive für unsere Teleskope polieren, die uns zeigen, dass wir kleiner und noch kleiner sind als gedacht. Da stehen wir und staunen. Und mit der Zeit erkennen wir, dass wir nicht nur an den Außenlinien des Universums stehen, sondern dass das Universum nur aus Außenlinien besteht, es keinen Mittelpunkt gibt, nur eine schwindelerregende Masse von tanzenden, taumelnden Dingen, und dass vielleicht all unser Wissen nur aus einem ausgeklügelten und sich ständig weiterentwickelnden Bewusstsein für unsere eigene Fremdartigkeit besteht, dass wir mithilfe der wissenschaftlichen Forschung das menschliche Ego immer weiter zertrümmern, bis es am Ende ein brüchiges Gebilde ist, durch dessen Risse Licht hereindringt.“

Gegen Anfang und Ende des Buches wird auf das Gemälde „La Meninas“ von Velázquez verwiesen. Ebenso wie das Buch hat das Gemälde zahlreiche Bedeutungsebenen, es zeigt das „Spiegellabyrinth des menschlichen Lebens“, es erzählt auch von dem Ende der Herrschaft der Habsburger in Spanien. Zwar am Rande und doch im Vordergrund des Bildes findet sich ein Hund, der sich als einziges Wesen nicht an dem Spiel der Blicke beteiligt, sondern das eitle Treiben um ihn herum („all die Wege, die sie finden, keine Tiere zu sein“ schreibt Harvey über die Mitglieder des Hofes auf dem Bild) gelassen zu ertragen scheint.

„Umlaufbahnen“ schafft es, die Zerbrechlichkeit und Kostbarkeit der Erde und das Treiben der Menschen darauf aus einer ganz neuen Perspektive zu zeigen und öffnet so zahlreiche Bedeutungsebenen. Der Roman hat eine Tiefe und Intensität, so dass die schnelle Lektüre lange nachhallt. Auch ohne Spannungsbogen hat das Buch einen enormen Sog, dem ich mich sehr gerne hingegeben habe.

5 Kommentare

  • Michael Engelbrecht

    Nur eine Randbeobachtung: das kleine Buch liegt auch sehr gut in der Hand, und wird so zum leichten Begleiter unserer eigenen Umlaufbahnen „in 80 Welten um den Tag“, um es mit Julio Cortazar zu sagen. Samantha hat zudem einen Weg gefunden, nie bedeutungsschwanger zu erzählen, oder mit mahnenden Worten. Das gibt dem erstmal spröde wirkenden Ton einen Extraschub!

    Ich wünsche mir eine AudiobookVersion, bei der an bestimmten, unberechenbaren Stellen, und für eine kurze oder etwas längere Weile Musik aus den beiden Apolloplatten von E. E. Und L. ein- und ausgeblendet wird. Das wäre subtil:)

  • Olaf Westfeld

    Ja – danke für wichtige Ergänzung: es ist gleichzeitig spröde und ungemein leichtes Buch, bedeutungsvoll ohne überfrachted zu sein. Gutes Buch.

  • Jan Reetze

    Am 22. Dezember die englische Originalausgabe bei Amazon bestellt, wird aber aus unerfindlichen Gründen nicht von Amazon versandt, sondern von einer anderen Firma. Bin gespannt, wann’s hier sein wird.

  • Martina Weber

    Steht in dem Buch viel über das Gemälde „La Meninas“? In einer der ersten Szenen des Films „Elf Uhr nachts“ von Godard sitzt die Figur, die Jean-Paul Belmondo verkörpert, in der Badewanne und liest seiner Tochter aus einem kunsthistorischen Buch eine Stelle über den Stil dieses Gemälde vor, das laut Wikipedia eines der meistdiskutieren Gemälde der Kunstgeschichte ist. Erstaunlicherweise unterscheidet sich der im Film gelesene Text in der deutschen und der englischen Fassung etwas. Hier ist die deutsche Fassung; eine beeindruckende Analyse:

    „Velásquez hat in seinem 50. Lebensjahr eine neue Ausdrucksweise gefunden. Alle Dinge, die er malte, umgab er mit Luft und Dämmerung. Überraschend die Schatten und die Transparenz der Hintergründe, die farbigen Reflexe, die er zum unsichtbaren Mittelpunkt seiner Komposition machte. Er erfasste in der Welt nur noch die geheimnisvollen Veränderungen. Veränderungen, die Formen und Töne einander durchdringen lassen. In einem unaufhörlichen Fließen, in dem kein Stoß, kein Ruck die Bewegung stört oder unterbricht. Der Raum allein regiert. Es ist, als ob eine Luftwelle über die Dinge gleitet, sich mit ihren Ausstrahlungen sättigt, um ihnen eine neue Gestalt zu verleihen und sie weiterzutragen wie einen Duft, wie ein Echo, wie einen unwägbar feinen Staub, der sich auf die endlose Weite, die sie umgibt, niederlegt.“

  • Olaf Westfeld

    Danke, Martina – das Zitat passt auch zu dem Buch und den Beschreibungen der Erde, würde mich nicht wundern, wenn Samantha Harvey es kennt. Das Bild spielt ganz am Anfang und am Ende eine Rolle…

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