Visiting the Midwest
Auf meiner Fahrt von Chicago durch Wisconsin ins linke Minneapolis beobachtete ich an mir selbst, wie ich immer ins gedankliche Kopfschütteln über „die leichtgläubigen, gern für dumm verkauften Amis“ kam, wenn am Straßenrand „Trump / Vance 2024 — Take America back“-Schilder standen. Dann aber auch immer wieder innerlich aufatmete, als ich sah, dass es auch Schilder mit „Harris Walz — Ein neuer Anfang“ (oder so ähnlich) gibt. Steve, den ich in St Paul besuchte und der in Wisconsin aufgewachsen ist, meinte gleichwohl, dass der Staat zum größten Teil Trump Country sei, allenfalls Madison und zum Teil Milwaukee seien blauer eingestellt. Ebenso sähe es eben in Minnesota aus, bekanntlich aktuelle Arbeitsstätte von Tim Walz. Und man sieht es sofort in den Cafés und auf den Straßen, dass die Menschen hier alle recht offen wirken und sehr für Kamala Harris sind. Schilder vor jedem Haus.
Ich bin wie immer mit einem Mietwagen unterwegs; diesmal zum ersten Mal mit einem „EV“, einem electric vehicle, und zwar einem der Gefährte aus dem Hause von Trump-Fan Elon Musk. Ein zwiespältiges Vergnügen also, doch bin ich durchaus erstaunt, wie weiterverbreitet EVs hier schon sind; es gibt überall Ladestationen — die beiden Midwesterner (inkl. Steve), die ich länger gesprochen habe und die auch nicht mehr die jüngsten sind, haben zu meiner Überraschung schon eine eigene Ladestation am Eigentumshaus, und die Leute, die diese Autos fahren (ich sehe sie an den Ladestationen), sind die unterschiedlichsten Personen, sicherlich keine, die in die „grüne“ Klischeekiste passen. Nur der Typ bei der Autovermietung wollte mich partout dazu überreden, doch besser einen Benziner zu nehmen.
Ich selbst bin mit einem Roter-Nagellack-Gefährt unterwegs, und habe nach einiger Herausforderung (absolut niemand bei Hertz hat mich instruiert, wie das alles geht und worauf man achten muss) mittlerweile ein ganz gutes Gefühl für dieses Auto bekommen. Man muss nur wissen, dass es niemals weiter als 256 Meilen reicht, was im Mittleren Westen vielleicht eine kleine Challenge sein kann. Mal sehen. Ich hoffe, ich werde nicht irgendwo liegen bleiben.
Zufällig komme ich in meinem Motelzimmer in Minneapolis just in dem Moment an, als gerade die „Vice Presidential Debate“ beginnt. Ich hatte keine Ahnung, dass das an diesem Abend stattfindet, und ich habe auch nur aus einer spontanen Laune heraus den Fernseher eingeschaltet, als ich das Zimmer betrat, denn manchmal finde ich das ganz angenehm, bei einem Aufenthalt in einer fremden Stadt, in einem fremden Land ein Grundgefühl für die Welt, in der ich mich gerade bewege, mit Hilfe des lokalen Fernsehens zu bekommen, selbst wenn das dann nur atmosphärisch den Raum füllt, während ich andere Dinge tue.
Der Debatte hätte ich nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, wäre ich nicht zufällig live draufgestoßen, und hier, zur passenden Abendzeit dabei zu sein, hilft natürlich, da ich sicher nicht nachts um drei oder vier Uhr vor der Live-Übertragung sitzen würde. Der Schlagabtausch war dann unerwartet fesselnd, und mir scheint, dass J.D. Vance da weitaus mehr Gewinne eingefahren hat als Tim Walz, da er wirklich unglaublich redegewandt rüberkam, sich ausgesprochen bürgernah präsentieren konnte und sich wirklich bei jedem Thema aus dem FF (Effeff?) so äußern konnte, als habe er, im Gegensatz zu Trump, durchweg fundiertes Wissen und eine sehr klare Haltung (selbst ein Hauch von Selbstkritik gelang ihm unangreifbarer als Tim Walz), blieb dabei aber jederzeit politisch „slick“, er wusste den Trump-Fans und Trump-Zugeneigten hervorragend in die Karten zu spielen und blieb enorm vehement, selbst wenn ich einiges, was er sagte, echt überzogen fand und inhaltlich sicher nicht teile. Er wirkte souveräner und zupackender als Walz, ließ sich nie die Butter vom Brot nehmen und sprach seinen Kontrahenten wiederholt direkt — und mit Vornamen! — an, im Gegensatz zu Walz, der oft eher in der Defensive wirkte, auch weil er eben nicht so auf Angriff ging wie Vance. Die Berichterstattung hier, etwas bei Politico, deckt sich mit diesen Eindrücken. Vance dürfte ein paar Fans gewonnen haben, auch wenn er die Wahrheit als recht biegsames Gut verwendet, und dürfte Wähler, die wegen Trumps Eskapaden noch zögerlich sind, rübergezogen haben; Walz vermutlich kaum. Vance ließ keine Gelegenheit aus, um über Trumps viele tolle Errungenschaften als Präsident und Harris’ entsetzliche Arbeit während der letzten drei Jahre zu sprechen, was vor den Bildschirmgeräten sicherlich auf fruchtbaren Boden fiel – und von Tim Walz fast gar nicht erwidert wurde.
Die US-amerikanische Wählerschaft ist nach wie vor 50:50 geteilt, was mann wohl auch nur vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte (von der NSdAP bis zur AfD) nachvollziehen kann. Die Menschheit wird halt leider nicht klüger und lässt sich nur zu gerne von einem con artist jeden Quatsch verkaufen. Auf dem Weg hierher habe ich diesen NPR-Podcast mit Terry Gross gehört – „How Trump Created The Illusion Of Success“.
Pulitzer Prize-winning reporters Susanne Craig and Russ Buettner spent years investigating the former president’s finances and various businesses. They dispel Trump’s myth of being a self-made billionaire, and trace the missteps he made, squandering his father’s fortune. Their book is Lucky Loser.
Sehr zu empfehlen, aber natürlich auch frustrierend zu hören.
8 Kommentare
flowworker
Wenn nun auch der Nahostkonflikt hochkocht, die Lage noch gefährlicher wird, könnte auch das den Ruf nach einem vermeintlich „starken Mann“ befeuern, und Trump in die Hände spielen. Einem widerlichem Narzissten. Hoffentlich fallen Harris und Walz noch ein paar kluge Manöver ein, um die Wahl letztlich zu gewinnen. Ich fürchte das Schlimmste, und Netanjahu tut das Seine, um die derzeitige Regierung Biden schlecht, und seinen Buddy Donald gut aussehen zu lassen…
Netanjahu und seine Regierung reihen Kriegsverbrechen an Kriegsverbrechen, und dass diese Bande krimineller Politiker nun auch noch den sehr klugen Antonio Gutierez zur persona non grata erklären, ist bezeichnend.
Man fühlt sich bei solchen Parteinahmen fast gezwungen, im selben Atemzug die mörderische Bande der Hamas und Hisbollah als das zu benennen, was sie ist: abgrundtief niederträchtig.
Selbst dein knallroter Leihwagen, Ingo, führt zu politischen Abschweifungen… ich wäre gerne in Minnesota heute, an Steves Birthday. Evtl. hast du schon etwas von seinem kommenden Album gehört. A man and his guitar, nice snapshots.
Ist das Urlauh, oder bist du da für Dreharbeiten? 😉
Da bin ich doch mal sehr gespannt, welche konkretn Formen deine Reihe „ECM 50“ noch alles so annehmen wird…
You really are ubiquitious: einsames Norwegen, riesiges USA-Land…
SAFE JOURNEY… und ich bitte unseren Blogmeister Nevzat, zeitnah die Webseite von Steve zum Blogroll hinzuzufügen….
Genau da fand ich ein Foto: Manfred Eicher und Steve Tibbetts beim Tischtennis – those were the days …
(m.e.)
Michael Engelbrecht
And, back to music: do you play certain records on long car rides – or American country radio? 😉
Ingo J. Biermann
Ja, er hat mir ein paar Stücke angespielt und einiges erzählt bzw. gezeigt. Er hat auch noch einmal ein wunderbares Led-Zeppelin-Cover eingespielt, aber er meinte, er wisse noch nicht, ob das alles so bleibt, wie er es jetzt konzipiert hat. Ob 73 Minuten zu lang seien…? Und ich war ja die Tage dabei, wie er an einem konkreten Stück gearbeitet hat, verschiedene Akustik- und E-Gitarre-Sachen ausprobiert hat.
Für „ECM50“ sind noch ein paar Beiträge zu vollenden (d.h. zu schneiden). Eine Video-Episode in diesem Kontext mit Steve T. ist allerdings nicht vorgesehen. Aber Material gäbe es; in Berlin hab ich ein zweistündiges Gespräche aufgenommen, und jetzt hier in St. Paul noch einmal eine Stunde. Plus Eindrücke von der Arbeit mit den Gitarren und Samples. Schauen wir mal, nächstes Jahr…
Und ja, ich bin zwar „für Dreharbeiten“ hier, dokumentiere gerade eine Kollaboration von Kit Downes mit Bill Frisell und drei Streichmusiker/innen. Und in gut zwei Wochen zwei Aufnahmen von Sun in New York. Dazwischen kann man das „Urlaub“ nennen… aber ich nenne es eher Reisen zum Fotografieren und Gespräche führen. Und mal schauen, was ich noch filme.
Ich könnte an verschiedenen Orten Leute besuchen, aber alle werde ich eh nicht schaffen, also entscheide ich kurzfristig. Zuerst fahre ich am Wochenende nach Fargo und einmal quer durch North Dakota, weil das der einzige der 48 „continental states“ ist, den ich noch nicht besucht habe. Und dann Richtung Süden und Osten.
You really are ubiquitious: einsames Norwegen, riesiges USA-Land…
Du hast meinen Ausflug ans südliche Ende von Italien vergessen 😉
In Norwegen war ich ja im August und dann nochmal im September. Und im November dann wieder.
Ab Samstag bin ich dann für zwei Wochen auf längeren „car rides“ unterwegs, habe zwar noch nicht explizit entschieden, wohin genau… aber einige Ideen habe ich. Lucinda Williams gibt nächste Woche ein paar Konzerte. In Texas. Die Cowboy Junkies wollte ich sehen, aber das hat zeitlich nicht gepasst. Sie waren gerade in Minneapolis, heute in Iowa, und dann fahren sie noch eine Weile weiter.
Ich kann noch gar nicht so ganz genau sagen, welche Musik ich hören werde. Auf dem Weg von Chicago zwei Alben von Tibbetts. Ansonsten eher Podcasts, Gespräche, Radiosendungen, u.a. Marc Maron, NPR Fresh Air, Joe Rogan…
Michael Engelbrecht
Impressive journeys,
full of interesting observations,
conversations, and a private road movie, too…
don’t hesitate to post your daily adventures … 😉🥁 … chapeau!
I am just sitting in my Toyota listening to Neil Young’s Homegrown, and waiting for my barbershop to open… soon comes Matala, Crete … my beach books: a bit of Joe Boyd’s rhyhtm and roots research (on an e-book) … i think Steve knows Joe very good… small world, far away horizons… (the other book is the new Michael Connelly on Kampa Verlag, with Harry Bosch and Renée Ballard)…
Did i say already, tbe forthcoming albumy by Bro, Strønen and Andersen are pure joy … the happiness of listening i advance … every of these albums will get its reviews … abd maybe they want me to make a 7 minute feature about one of them at the beginning of December …
I am very grateful I can make my last four Klanghorizonte hours in a row, next year, March, May, July, September, and one extra 55 minute portrait…maybe in November…
As Rune Kristoffersen mailed me yesterday in regards to the ECM guitarero department:
TIME FLIES AWAY ….
I mean it seriously, if you are in the mood… post some short long moments of your journey…..i am still waiting for a Diner’s photo on one of these endless American highways …. ups, the barber is waiting!
Michael Engelbrecht
Don’t forget the Nikolaus list🌠
http://flowworker.org/2024/08/04/my-favourite-albums-of-2024-so-far-2/
Anonym
Danke für diesen kurzweiligen Text.
Habe gestern den Geburtstag von Herrn Tibbetts zum Anlass genommen, Safe Journey aufzulegen – was ich dir hiermit auch gerne wünsche.
Bezüglich der Wahlen will ich gerne optimistisch sein – zumal Walz für mich eine der sympathischeren Erscheinungen in der politischen Welt der USA ist. Aber leider bin ich dann doch skeptisch. (O.W.)
Michael Engelbrecht
Jetzt weiss ich, woran mich das Bild mit dem knallroten Auto erinnert, an die Zeit, als ich, ein paar Jahre lang, den Dumont Pop Art Kalender kaufte…. das hat was von der Farbkraft mancher paintings von damals… obwohl mir, als Motiv, ein Chevrolet lieber wäre… (m.e.)
Lajla
Ingo keep on rockin on the freeway.
In unserer Autoindustrie gibt es leider auch große Arschlöcher, siehe VW Skandal..
Mich würde interessieren, was für Leute The Libertanian Party wählen. Ob das eher Künstler sind, der Southpark Macher wählt sie z.B. Wenn du da was am Rande mitkriegst, wäre ich für Infos dankbar.