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35 – Michael J. Sheehy – So Long, Sorrow Town / Niels Frevert – Niendorfer Gehege
Im Jahr 2008 bin ich seit zwei Jahren Waldorflehrer und unterrichte an zwei Schulen, die 80 km voneinander entfernt sind. An manchen Tagen muss ich an beiden Schulen arbeiten und anschließend meinen Sohn von einer dritten abholen. Das Gefühl der Umzingelung stellt sich ein.
Die Schilderung meines Weges in diesen doch sehr speziellen Beruf, der Hürden, die ich überwunden oder nur aus dem Weg geräumt habe, sprengt diesen Rückblick deutlich. Ich bin – 2024 – immer noch Waldorflehrer, zum Glück schon lange nur noch an einer Schule tätig. Viele Vorbehalte habe ich immer noch und während der Pandemie, in der die Waldorfbewegung nicht immer ein gutes Bild abgegeben und eine noch schlechtere Presse bekommen hat, sind noch einige dazu gekommen. Die Zusammenarbeit mit den Schüler*innen möchte ich aber nicht missen.
Während ich die Ausbildung zum Waldorflehrer berufsbegleitend absolviere, arbeite ich 2004-2006 als Telefonist einer großen Behörde. Mein Arbeitsplatz ist eine ranzige Pförtnerloge, in der wir immer zu zweit sitzen. Die Tätigkeit ist weder anstrengend noch herausfordernd; ich habe vielleicht noch nie in meinem Leben so viel gelesen wie in diesen zwei Jahren, „Die Buddenbrooks“ sind zum Beispiel in einer Woche durch. Ich verbringe zusätzlich reichlich Zeit im Internet, spiele Schach und Backgammon gegen den Rechner, löse Sudokus und führe gelegentlich auch Telefonate.
Ich entdecke Blogs für mich und lerne so viel neue Musik kennen. In dieser Zeit hat es mir besonders shake-baby-shake angetan; ich höre immer mehr R’n’B, Country, Blues, Soul. Und bis 2008 wird vor allem noch Bob Dylan dazu kommen, den ich in diesen Jahren wirklich viel und gerne höre und irgendwann später einmal live sehe (vielleicht das einzige Konzert auf dem ich erlebe, dass jemand ohnmächtig wird – ich glaube die Aufregung spielte dabei tatsächlich eine sehr große Rolle).
Zurück in das Jahr 2008. „Niendorfer Gehege“ (von dem wunderbaren Album „Du kannst mich an der Ecke rauslassen“) erzählt vom Erwachsensein, von der verlorenen Zeit. Das geht mir sehr nahe, besonders die kleine Reminiszenz an Kiss.
Die meiste Musik höre ich in der Zeit auf meinem iPod Nano, den ich mir am Ende meines ersten Schuljahres (2007) gönne und sehr liebe; auf den langen Bahnfahrten zwischen den Schulen das perfekte Medium für mich. Meistens kaufe ich mir CDs, importiere die auf den Rechner und packe die Musik dann auf den mp3 Spieler.
Meine Zeit an der etwas weiter entfernten Schule ist von vorneherein begrenzt. Erst will ich sowieso nur ein Jahr bleiben, die Beziehung zu den Schüler*innen ist dann doch so, dass ich sie noch ein Jahr länger und durch das Abitur begleite. Aber die Fahrerei schlaucht, zudem ist an der Schule die Atmosphäre insgesamt verbesserungswürdig. Und so kommt es, dass ich im letzten halben Jahr immer eine Straßenbahnstation früher aussteige, um in Ruhe eine Zigarette zu rauchen und dabei „So Long, Sorrow Town“ von Michael J. Sheehy (von „Ghost On The Motorway“, auch ein schönes Album) zu hören: „well I don’t start nothing that I can’t finish/ but this is a cold and tasteless dish/ so I dust down my coat and pull up my slacks/ I hit the road, I ain’t ever coming back/ so fare thee well all you sons of bitches/ if I don’t leave now I’m gonna leave one of you in stitches/ you bullshit merchants with your airs and graces/ we’ll be in hell next time I see your faces/ So long, sorrow town/ tomorrow I’ll be long gone….”
3 Kommentare
Michael Engelbrecht
Was für ein Ende dieses Kapitels: was alles in den lyrics auftaucht! Und doch heisst es nach 35 zum Glück: to be continued 🎡
Martina Weber
Ich habe gerade dem Song von Nils Frevert gelauscht, in dem ein Wiedersehen mit einem Freund aus früherer Zeit beschrieben wird. An roten Ampeln stehenbleiben – das ist etwas Gravierendes, was sich ändert, wenn man mit Kindern unterwegs ist. Ich gehe immer noch bei Rot – aber natürlich nur, wenn ich die Lage einschätzen kann und wenn keine Kinder und keine Polizei zu sehen sind. Wann ich meinen ersten und einzigen ipod gekauft habe, weiß ich nicht mehr so genau. Vielleicht ein paar Jahre später als du. Ich nutze ihn immer noch, allerdings zurzeit etwas weniger, weil ich mir angewöhnt habe, ohne Musik zu joggen (für mich ein Quantensprung, weil die Musik schon ziemlich Tempo und Energie vorgegeben haben). Nachher höre ich noch andere Songs aus deinem Post. Bin gespannt auf die Fortsetzung.
Zu den grundlegenden Techniken, die die Kreativitätstrainierin Julia Cameron (Hauptwerk: „Der Weg des Künstlers“) empfiehlt, gehört die Lebenserzählung. Sie rät, in 5-Jahres-Schritten vorzugehen. Insofern bist du ganz auf dieser Spur, wenn auch mit Fokus und Auslassungen. Als ich meine Lebenserzählung vor vielen Jahren angefangen habe, hat es mich überrascht, wie viel mir zu meinen ersten fünf Lebensjahren eingefallen ist. Da haben wir wieder Michaels Lieblingszitat aus Gaston Bachelards „Poetik des Raumes“: „Das früheste und für die Traumgehalte entscheidende Haus muss seine Dämmerung behalten.“
Olaf Westfeld
Bei dem Sheehy Text musste ich damals schon immer schmunzeln, weil das Gesamtszenario einen wahren Kern hatte , aber insgsamt natürlich völlig überzogen und ich weit davon entfernt war, handgreiflich oder nur ausfallend zu werden.
Ja – bei Ampeln stehen bleiben… ich ertappe mich auch immer wieder, dass ich vergesse, dass ich heutzutage einfach bei Rot gehen kann – so lange eben keine Kinder in der Nähe sind. Eine genau beobachtete Veränderung – überhaupt habe ich mich gestern Abend bei dem Frevert Album gleich wieder festgehört.
„Der Weg des Künstlers“ habe ich mir in genau dieser Zeit gekauft, aber nie so richtig damit gearbeitet – vielleicht passt es jetzt ganz gut. Allerdings habe ich dadurch mein Tagebuchritual gefunden: ich schreibe morgens immer eine DinA5 Seite direkt nach dem Aufwachen voll.