Stimme im Orbit
Denken wir lieber nicht allzu lange darüber nach, was geschehen musste, damit eine Knabenstimme nicht durch den Eintritt der Pubertät zerstört wurde. Filippo Balatri fällt einem ein, oder der wohl berühmteste, Farinelli. In den 1500er Jahren zogen entsprechend behandelte Sänger in die Musik ein. Der Klang dieser Stimmen muss absolut faszinierend gewesen sein.
Ersatzweise bleibt es heute beim Falsett, auch Countertenor genannt. Der Klang erreicht mit Sicherheit nicht die fast mystische Qualität, die die tatsächlichen Kastraten auf die Bühne bringen konnten, aber ungewöhnlich genug ist diese Stimmlage noch immer — nicht nur in der Alten Musik, auch die Popmusik macht sich die Falsettstimme immer wieder zunutze. Die Schellackscheibe „Irgendwo auf der Welt“ mit den Comedian Harmonists war die erste, bei der mir ein Countertenor bewusst auffiel; er müsste wohl Harry Frommermann gewesen sein (selbst bezeichnete er sich als Buffo-Tenor). Dann waren da natürlich später die Beach Boys, deren Gesangsharmonien ohne Falsett überhaupt nicht vorstellbar wären. Als ich zum ersten Mal die Sparks hörte („This Town Ain’t Big Enough For Both Of Us“), glaubte ich tatsächlich, eine Sängerin zu hören — bis ich las, dass sie Russell Mael heißt.
Und in den 1980er Jahren gab es da jemanden, der den Countertenorgesang in den Mittelpunkt stellte. Sein Name war Klaus Nomi, und pünktlich zu seinem 80. Geburtstag hat Monika Hempel eine Biografie über diesen Sänger veröffentlicht:
Richtig hieß er Klaus Sperber, er stammte aus Immenstadt im Allgäu, und 80 ist er leider nicht geworden. Der Name „Nomi“ geht wohl zurück auf ein Spiel mit dem Wort „Omni“, einem Datenübertragungsmodus zwischen Synthesizern. Klaus Nomi war ein nicht komplett zu Ende ausgebildeter klassischer Countertenor, was dazu führte, dass er in Deutschland keine Stelle in einem Opernensemble fand — ohne Notenkenntnisse kann man dort nichts werden, obwohl er so ziemlich alle in Frage kommenden Partien draufhatte. Abgelauscht von Platten, war Maria Callas seine Initiation. Diese Art von Pathos machte er sich einerseits zu eigen, verband dies aber mit Kostümierungen und Masken, die auf japanische Kabuki-Kunst, aber auch auf den Expressionismus der 1920er Jahre zurückging. Aber auch ein simpler Klarsicht-Regenmantel diente als Kostüm und erfüllte seinen Zweck, spacig auszusehen.
Dass er teils unbeabsichtigt, teils aber auch bewusst mit einem überzogenen deutschen Akzent arbeitete, machte ihn in New York zu einer Erscheinung, die über kurz oder lang wahrgenommen werden musste. Geglückt ist ihm das leider nur in einem relativ kleinen Kreis, insbesondere in New Yorker Cabarets. Es gelang ihm aber, keinen Geringeren als David Bowie auf sich aufmerksam zu machen, der ihn als Backup-Sänger für einen Auftritt in der Sendung „Saturday Night Live“ anheuerte. Klaus Nomi gehörte dann zu jenen Künstlern, die erst auf dem Umweg über New York Erfolge in Deutschland einheimsen konnten. Dabei war das nicht einfach, denn nicht nur war er einem offenbar grottenschlechten Management in die Hände gefallen, sondern er war auch illegal in den USA, während sein deutscher Pass abgelaufen war. Er konnte also nicht legal nach Deutschland zurückreisen. Er löste dieses Problem „klassisch illegal“ durch eine Pro-Forma-Heirat, die ihm eine Greencard einbrachte.
Monika Hempel schildert alle diese Karriereschritt sorgfältig recherchiert, gut lesbar und sachlich geschrieben in ihrem Buch. Dabei räumt sie mit so manchem Märchen und schlecht recherchierter Falschinformation auf und macht Lust darauf, Nomis Platten wieder auszugraben oder den Streamingdienst des Vertrauens zu befragen. Es ist nur leider nicht viel, was man da finden kann, denn tatsächlich hat Nomi zu Lebzeiten nur zwei Alben machen können. Und obwohl diese immerhin in den Electric-Lady-Studios produziert wurden, hört man ihnen an, dass sie nicht viel kosten durften.
Nomi gehörte zu den ersten, die sich eine Aids-Erkrankung zuzogen — und das bedeutete in den frühen 1980ern das Todesurteil. Das hat sich heute geändert, aber wer sich an diese Zeit noch erinnern kann, weiß, was das hieß, umso mehr, wenn er einen solchen Fall in seinem persönlichen Umfeld miterleben musste. Da kommen verdrängte Erinnerungen unvermeidlich wieder hoch. Und während die Autorin die Lebensbedingungen Homosexueller in jenen Jahren erfreulich sachlich schildert, erspart sie uns von dieser Krankheitsphase nichts, insbesondere nicht die Reaktionen der Umwelt — da wurde in so mancher Familie oder WG das Essgeschirr in den Müll geworfen, kaum, dass der Aidskranke gegangen war. Man erinnert sich an die oft schwachsinnige Berichterstattung in den Medien und an solche Begriffe wie „Schwulenkrebs“. Da trägt es die Autorin gelegentlich ein bisschen davon. Aber es ist letztlich doch gut, wieder einmal daran erinnert zu werden, wie harter Tobak das damals wirklich war. Interessant nebenbei (was ich bis jetzt nicht wusste): Nomis Arzt- und Krankenhauskosten, die zu astronomischer Höhe aufgelaufen waren, konnte er selbstverständlich nicht begleichen; reich ist er mit seiner Kunst nie geworden. Die Kosten hat stillschweigend David Bowie übernommen.
Im deutschen Fernsehen erschien Klaus Nomi erstmalig bei Thomas Gottschalk in der Sendung „Na sowas!“ Ich meine mich auch an eine „Bios Bahnhof“-Ausgabe zu erinnern, in der er auftrat, bin mir da aber nicht mehr ganz sicher. Mit Sicherheit aber erschien Klaus Nomi in einer „Klassik-Rock-Nacht“ des Bayerischen Fernsehens, in der er mit Orchesterbegleitung unter Leitung von Eberhard Schoener Purcells „What Power Art Thou (Cold Song)“ singt, eine seiner Glanznummern, bei der er seinen Gesang optimal zur Geltung bringen konnte — und man sieht ihm an, wie angeschlagen er zu diesem Zeitpunkt bereits war. Die Halskrause diente dem Verdecken der typischen Kaposi-Sarcoma-Flecken, und die Showtreppe zu erklimmen fiel ihm offenkundig bereits schwer. Wenn man das weiß, ist dieser Auftritt schwer auszuhalten, aber er zeigt, wie unmittelbar Nomi sein Publikum fesseln konnte. Eberhard Schoener ehrte Nomi 1996 mit einer Kurzoper: „Cold Genius“. Klaus Nomi verstarb 1983 in New York.
Das Buch umfasst rund 280 Seiten inklusive einer teils farbigen Fotostrecke, einer Werkliste und genauen Quellenangaben und ist unbedingt lesenswert als eine Erinnerung an einen großartigen, leider unvollendet gebliebenen Künstler; gerade auch, da es sonst außer einem Dokumentarfilm von 2005 („The Nomi Song“ von Andrew Horn, durchaus sehenswert) nicht viel Material über Nomi gibt.
Monika Hempel:
Klaus Nomi — Stimme im Orbit
Verlag Andreas Reiffer 2024
ISBN 978-3-910335-44-8
Ein Kommentar
Michael Engelbrecht
Das ist lange her, dass ich sie Stimme gehört habe, aber, im Kontext von Pop, vergisst man sie nicht so leicht. Damals, also im Zündfunk zu hören, wo sonst, wenn man im Frankenland studierte und später im Bayerischen Wald arbeitete. Und dann hörte man von seinem Tod, von so vielenm die an HIV starben. Früh in den Achtzigern. Bios Bahnhof könnte passen, Biolek hatte ein offenes Ohr für Grenzmusiken, und einst auch das da noch völlig unbekannte Penguin Cafe Orchestra eingeladen.