• Mr. Shrimp Boat

    „An einem guten kalifornischen Morgen pflegte ich früh aufzustehen, Tee zu trinken und Gras zu rauchen. Nach einer Weile sagte ich meiner Frau, dass ich auf dem Weg in mein Büro sei. Ich schwang mich auf mein Fahrrad und fuhr die etwa einstündige Fahrt von meinem Haus in Venice in eine kleine South Bay Gemeinde. Am anderen Ende des Strandes befindet sich ein Surf-Food-Stand, mein liebstes Restaurant auf der ganzen Welt. Oft bestellte ich mir dort ein „Shrimp Boat“ – gebratene Krabben und Pommes frites mit Cocktail- und Remouladensauce. Ich ging so oft hin, dass mein Spitzname Shrimp Boat war. Dann bin ich zum Pier von Manhattan Beach gegangen, wo es ein winziges Aquarium mit einem falschen Hai gab. Das war eine meiner liebsten Fahrradtouren auf der Welt.“

    Ein Großteil seines neuen Albums ist ein Stückweit von seiner Heimatstadt angesiedelt, auf der Farm seines Onkels, gleich hinter der Grenze zu Indiana. Er verbrachte dort viele Ferien mit seinen Geschwistern und seinen Cousins. Später fing er an, auf dem Land zu arbeiten und bei der Kautabakernte zu helfen, bis sein Onkel in den 1980er Jahren, als neue Informationen auftauchten, die Tabak mit Krebs in Verbindung brachten, zur Weihnachtsbaumzucht überging. „Es war einer dieser Orte, an denen man sich auf eine magische Suchen nach den eigenen Weihnachtsbäume maxhen kann“, erklärt der Sänger. „Es waren keine Bäume in Reihen, sondern sanfte Hügel und Wälder. Ganz Charlie Brown.“

    In den Sommern seiner Collegezeit ging er allein in den Wald, trug dicke Kleidung und hatte ein aufgemotztes Sägeblatt dabei, um die Äste zu beschneiden. „Das war das Schwerste, was ich je gemacht habe“, sagt er. „Ich kam überall mit blutigen Kratzern zurück. Es war brutal.“ Der Spaß kam im Winter, als er die Bäume verkaufte. „Eine Familie in den Wald zu führen, entlang dieser Pfade, um zu sehen, ob sie den richtigen Baum für sich finden können. Und wenn das Kind seinen Baum gefunden hat und du ihn fällst, trägst du ihn auf deinem Rücken zu ihrem Lastwagen und bindest ihn fest. Das ist das Beste. Es ist der beste Job – bis auf den Teil im Sommer.“

    Wenn der Sänger über diese Zeiten spricht, tut er dies mit Zärtlichkeit. Er erzählt von langen Wanderungen über Hügel und entlang von Flüssen, vom Wandern auf Bahngleisen, vom Schlafen im Freien am Lagerfeuer. Es gab einen Bach und Wasserfälle und ein tiefes Schwimmloch, in dem, so behauptete einer seiner Cousins, vor langer Zeit ein Zug von den Gleisen abgekommen und ins Wasser gestürzt war. Unter ihnen, sagte der Cousin, liege ein Waggon voller Skelette. „Ich habe das geglaubt. Ich glaube es immer noch“, sagt er. „Wir versuchten, so weit wie möglich hinunterzuschwimmen, um zu sehen, ob wir den Waggon finden würden. It was crazy. It was terrifying.“

    (Laura Barton erzählt eine lange Story rund um das Leben und die neue Platte „Get Sunk“ von Matt Berninger (The National) in der Juliausgabe von „Uncut“. Sehr lesenswert, und hörenswert sowieso!)

  • Dreams so real und Blonde on Blonde

    Vor einigen Tagen fragte mich David Rothenberg, wen aus dem ECM-Kosmos ich denn noch gerne porträtieren würde. Mit Jarrett, DeJohnette, Reich, Garbarek kamen Begegnungen ja leider nicht zustande; daher wäre Gary Burton vielleicht der einzige der alten, der ersten ECM-Generation, der noch auf meiner imaginären Liste wäre, auch wenn ich alles andere als ein fundierter Kenner seines enorm umfang- wie einflussreichen Werks bin. 

    Nun wollte ich die Chance allerdings nicht ungenutzt lassen und schrieb ihm eine E-Mail. Und, erstaunlicherweise, schneller als irgendjemand sonst von all jenen, die ich kontaktiert habe, antwortete er innerhalb von nicht mal einer Stunde: Sicher, komm gerne vorbei. Sag einfach, wann, und ich trag’s in meinen Kalender ein. Also fuhr ich ihn zu Hause besuchen und habe ihm nun gerade ein paar Stunden lang zugehört. Er hatte sich sogar schriftlich vorbereitet und seine ECM-Diskografie und ein paar zentrale Eckdaten vorab notiert:

    Ich hatte ihm vorab mein Gespräch mit Carla Bley und Steve Swallow zu Dreams so real – Music of Carla Bley geschickt, und habe ihn dann auf Carlas „I didn’t like this one“ angesprochen. Für Gary war das eine neue Information, er gebe allerdings auch zu, dass er das Album selbst seit damals nicht mehr angehört habe. Er gab ausführliche Einblicke in seine Zusammenarbeit mit Manfred Eicher, von dem (und von Martin Wieland) er bei den zahlreichen gemeinsamen Produktionen unglaublich viel gelernt habe – weshalb er im übrigen später seine Alben allesamt selbst produzierte. Während seine zahlreichen Grammys hinter ihm im Regal standen, blieben seine Erinnerungen keineswegs ohne (selbst-)kritische Anmerkungen. Er schilderte faszinierend von seiner langen Karriere, erzählte auch recht offen von seinen zahlreichen bekannten Musikerfreunden und -kollegen.

    Eine Weile sprachen wir über noch aktive ü80-jährige Musiker, und Gary erzählte, wie ihn der Dylan-Film A Complete Unknown berührt habe. Er selbst kam just zur selben Zeit aus dem Mittleren Westen (Indiana) nach New York und baute sich zeitgleich wie Dylan seine Karriere dort auf. „I knew half the people in that movie“ – und er habe teils in den Jazzclubs auf der gegenüberliegenden Straßenseite gespielt, Dylan allerdings leider nie getroffen; einmal wurde ein Doppelkonzert mit seiner und Dylans Band angesetzt, worauf er geradezu hinfieberte, doch leider sprang Dylan dann ab. Gary erzählte auch, dass ihn Blonde on Blonde 1966 so begeistert habe, dass er zwei der Musiker für sein eigenes nächstes Album buchte. Die erzählten ihm dann viele beeindruckende Geschichten von den Studio-Sessions mit Dylan, etwa dass er einmal einige Stunden lang die Band draußen in der Gasse spielen und aufnehmen ließ, dann aber doch erkannte, dass das Ergebnis nichts taugte; oder die Situation, als Dylan eines Tages im Studio noch einen Song fertig schreiben wollte, die nach Stunden bezahlte Band und Musiker sechs Stunden warten im Studio warten ließ, während er den Song schrieb … und dann die folgenden sechs Stunden, bis sechs Uhr morgens, spielten sie Sad Eyed Lady of the Lowlands ein. Wie sicher müsse sich jemand seiner Kunst sein, kommentierte Gary, als junger Mann in Anwesenheit stundenlang wartender Musiker und Techniker solche Konzentration und Selbstsicherheit aufbringen zu können – und am Ende entsteht so ein zwölf Minuten langer Song?

    Auch erzählte Gary, wie er beim letzten Amerika-Konzert der Beatles war, mit zahlreichen Freunden, dann das Angebot bekam, die Band backstage zu besuchen, er aber meinte, „Ach, muss nicht sein, die Gelegenheit wird sich sicher noch einmal ergeben.“ Er beiße sich heute noch dafür in den Hintern. 

    Nun mache ich mich auf dem Weg zu einer neuen Red-Hook-Studioaufnahme mit Wadada Leo Smith und Amina Claudine Myers in Manhattan, ebenfalls ü80-jähriger Musiker/innen. Mein Interview mit Amina zu ihrem in Kürze erschienenen Soloalbum wird es Anfang Juni geben. Wadada (bald 85) kommt im Herbst übrigens zum letzten Mal auf Europatournee und spielt u.a. mit Jakob Bro, Marcus Gilmore und Thomas Morgan im Boulez-Saal. Ich habe natürlich direkt eine Karte gekauft. 

  • Radio on

    LISTEN!

    klanghorizonteplaylist in sequence: Flora / Luminal / The Jewel In The Lotus / Loose Talk / New Vienna / Luminal / Lateral (Big Empty Country) / special guest: Beatie Wolfe / Sprecherinnen: Christiane Nothofer & Nina Lentföhr / Tontechnik: Malte Wiegert / Redaktion: Thomas Loewner

    Die obige Version zum Anhören – einfach auf „LISTEN!“ klicken – (über die Deutschlandfunk-Audiothek) darf nur sieben Tage laufen, sie wird dann im Laufe der Zeit und an gleicher Stellle durch eine klanglich noch bessere Version ersetzt, und bleibt so erhalten.

    Beatie Wolfe‘s „Notting Hill solo talk“ can now be heard in the column TALK as part of our Monthly Revelations (June). Music of „Klanghorizonte“ by Beatie Wolfe & Brian Eno, Hisroshi Yoshimura, Bennie Maupin, Amelia Barratt & Bryan Ferry, and Keith Jarrett

  • Die Jahre mit dem Kollegen Karsten

    Als ich meine Feuertaufe im Deutschlandfunk zu bestehen hatte, im Oktober 1989, lang ist‘s her, war Karsten Mützelfeldt dabei – hinter der Trennscheibe. Ich hatte es geschafft, mit Steve Tibbetts toller „Collagen-Kassette“ aus Minneapolis, meine erste Radiosendung machen zu dürfen. Und der Chef der Jazzredaktion und Karsten schauten sich ein paar Minuten an, was ich da so fabrizierte. Bald war ich Teil des Teams, und wusste von Anfang an, dass Karsten ein wunderbare Kollege war – keine falschen Töne, keine Spielchen. Und wir kommten unsere Vorlieben im Jazz und anderswo bestens aufteilen. Da war z.B. seine Nachtsendung „Blue Midnight“. Da waren die Zeiten der „JazzFacts“ mit zahllosen Magazinen. Einmal kam Joe Zawinul in den Sender, und Karsten interviewte den Meister, ich glaube, gute zwei Stunden lang für ein tolles zweiteilige Porträt, das seine ganze Vita abdeckte. Bei solchen Meistern hatten wir immerzu Gesprächsstoff – wir beide lieben gleichermassen Joe Zawinuls Debut „Zawinul“. Wir begegneten uns auf Jazzkonzerten in Köln und Leverkusen, wir pflegten small talk, der von Herzen kam, und wir teilten drei hochunterhaltsame Jazzrückblicke in den vergangenen Jahren. Als er sein Loblied auf Keith Jarrett in Budapest sang, hörte ich sehr aufmerksam zu. Egal, wie sehr man sich als „teamplayer“ versteht, und das tuen Karsten und ich, das Schreiben und Hören der Musik geschieht oft, sehr oft im Privaten, und nichts kommt diesem schönen Alleinsein näher als nachts live auf Sendung zu gehen: allenfalls ein Kollege in der Technik, angenehme Beleuchtung, ein Mikro vor dem Mund, und das Rotlicht, wenn die Reise beginnt. Wir gaben den „nighthawk“ – wie es einst Donald Fagen zelebrierte auf seiner berühmten Platte. Zuletzt haben wir mit Karsten in einem Bistro in Köln seinen Abschied gefeiert. Seine Reise geht nun in Frankreich weiter, und er hat mir erlaubt, seine kleine Rede hier in unserer Radio-Kolumne zu veröffentlichen. Danke, Karsten für alles! Und das was einiges! Du wirst bald die Boule Kugeln auspacken, die Landschaften ringsum erkunden – play on, walk on! Zum Schluss lege ich HIER noch mal eine Schallplatte auf, von der ich sicher bin, dass sie unsere Liebe zum Leben und zum Jazz auf den Punkt bringt. Und stelle mir einen kleinen Jazzclub in New York vor, in dem wir uns auf einer Zeitreise treffen, früh in den Sechzigern, und diesen drei „cats“ lauschen. All night long, Mr. „Midnight Blue“! (Und wie wahr das alles ist, was du in deiner kleinen Ansprache bechrieben hast, die jeder nun in unseren „monthly revlelations“ (june) lesen kann, und die dann in das „blog diary“ wandert.)

  • Monthly Revelations (June)


    Archive: In memory of Hans Diete Hüsch / Binge: Adolescence (Netflix) / Radio: „Those were the radio days“ – Karsten Mützelfelds kleine Abschiedsrede“ / Talk: Beatie Wolfe‘s „Notting Hill Solo Talk“ / Prose: Jonas Engelmann: Gesellschaftstanz (Klangverhältnisse und Aussenseiter-Sounds) / Film: Nouvelle Vague / Album(s): Beatie Wolfe & Brian Eno: Luminal / Brian Eno & Beatie Wolfe: Lateral / Stereolab: Instant Holograms On Metal Films

  • Der Hüsch

    Am 6. Mai hätte Hanns Dieter Hüsch seinen 100. Geburtstag feiern können. Möglicherweise hat er das ja auch, wer weiß, wo. Als Christenmensch wird er da seine eigenen Vorstellungen gehabt haben, und wie er mehrfach erwähnte, hat er den lieben Gott ja gelegentlich getroffen — mit dem Fahrrad in Dinslaken. Klar, wie sonst.

    Ein „Kalenderblatt“ im Deutschlandfunk machte mich auf seinen 100. aufmerksam. Der wäre mir sonst entgangen — seltsam genug, denn dieser Künstler, der mit „Kabarettist“ nur sehr unvollständig beschrieben ist, hat mich durchs Leben begleitet wie sonst wohl nur Kurt Tucholsky, Kraftwerk, Jefferson Airplane und Creedence Clearwater Revival. 

    Etliche Jazzmusiker der 1960er und 1970er waren politisch denkende Personen und hatten keine Probleme damit, ihre Meinung klar zu äußern. Allerdings blieb diese dann meist eher im kleinen Kreis. Kombinationen aus Kabarett und Jazz waren eine seltene Angelegenheit. Einer machte aber den Schritt, mit Jazzmusikern zu arbeiten, und das war der Kabarettist, Autor, Liedermacher, Radiomoderator und der die Väter der Klamotte zum Leben erweckende Hanns Dieter Hüsch. Er spielte die LP Typisch Hüsch ein; meine erste Platte von ihm.

    Mit Jazzern aus der ersten Reihe – Peter Baumeister, Gerd Dudek, Pierre Favre, George Gruntz, Volker Kriegel, Günter Lenz und Eberhard Weber – war dies eine Mischung aus Liedern, gesprochenem Wort, freien musikalischen Kontrapunkten, Gedichten und improvisierter Musik. Philosophische Fragen wechselten sich ab mit Themen wie Vietnam, Kriegsdienstverweigerung, Folter, Fragen an die Väter, das Leben als Minderheit, Alleswisser, die Bedeutung von Solidarität, Kirche, selbst Umweltverschmutzung war bereits ein Thema. Typisch Hüsch ist noch heute ein reinigender Regen für den Kopf.

    Die Platte bescherte Hüsch allerdings eine Menge Ärger, und er erlebte das nicht zum ersten Mal – das war in der Tat typisch für ihn. Hüsch war nie jemand, der mit der Masse lief. Viele seiner Kollegen und das (weitgehend studentische) Publikum sahen das Album als „nicht links genug“ an, sie warfen ihm vor, er kratze an den ideologischen Grundfesten der Studentenbewegung, und überhaupt hätte er ein ganz anderes Album machen müssen. 

    All dies war nichts Neues für Hüsch. Er war seit 1946 Kabarettist, sowohl solo als auch mit einer Gruppe namens „Arche Nova“, und er verfügte über ausreichend Routine, um mit Publikumsreaktionen aller Art umgehen zu können. Im Jahr 1968 auf der Burg Waldeck kam es allerdings deutlich heftiger: Dort wurde er nach nur zwei Songs von der Bühne gebuht. Das Publikum wollte beinharte Agitation, nicht Humor, Ironie und gelegentliche Selbstzweifel: „Ich musste ja dann mein ‚Konzert‘ abbrechen, mich auf ein Stühlchen setzen und Rede und Antwort stehen, und jeder kleine Politkacker wollte von mir wissen, warum ich immer so unterhaltend sei und mein poetisches Vermögen nicht mehr in den Dienst von Fortschritt und Aufklärung stelle, und ich sei ja doch mehr ein spätbürgerlicher Formalist und kein revolutionärer Volkstribun.“ Franz-Josef Degenhardts Lied „Zwischentöne sind bloß Krampf im Klassenkampf“ kam bei diesem Publikum besser an, aber das konnte nie Hüschs Motto sein.

    Nach Typisch Hüsch verließ Hüsch das Pläne-Label, seine Familie und Deutschland – einesteils wegen der Angriffe auf ihn, die sich in der Folge auch in anderen Städten fortgesetzt hatten, zum anderen aber auch, weil er sich in die Schweizer Schauspielerin Silvia Jost verliebt hatte. Ein daraus resultierendes gemeinsames Programm der beiden hieß Faux Pas de Deux (1974), aus dem Hüschs traumhaft-verträumtes „Abendlied“ stammt. Er griff dieses Stück auch in späteren Programmen immer wieder einmal auf.

    In St. Gallen schrieb Hüsch sein wohl komplexestes, surrealstes, verstörendstes, bitterstes und gleichzeitig poetischstes Bühnenprogramm, Enthauptungen, das nach seiner Uraufführung in Basel im Jahr 1971 als Doppel-LP auf dem Intercord-Label erschien. 

    Der Titel kann auf die Art und Weise bezogen werden, wie sich Hüsch in Deutschland behandelt fühlte, ebenso aber auch als das abstrakte Gegenteil von Behauptungen – vielleicht steckt ein bisschen Zen darin.

    Drei Jahre später kehrte Hüsch nach Mainz zu seiner Frau und seiner Tochter zurück, die ihn wieder aufnahmen. Dass sein Verhalten den beiden gegenüber kein Heldenstück gewesen war, hat er in seiner Autobiografie („Du kommst auch drin vor“, erschienen 1990) und so manchem Text verarbeitet.

    Für sein erstes Bühnenprogramm nach der Rückkehr spielte ihm die Hamburger Jazzrockband Altona einige Backings ein. Sie sind auf dem resultierenden Doppelalbum zu hören (Nachtvorstellung, 1975, in nicht sehr geglücktem Kunstkopf-Stereo im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg mitgeschnitten). 

    Mir ist die Platte schon deshalb nicht egal, weil ich selbst unter den Klatschern im Publikum saß; das erste Mal, dass ich Hüsch live erlebte. Es folgten etliche weitere Male, bis zu seinem letzten Bühnenprogramm „Wir sehen uns wieder“, 1997 in der Hamburger Musikhalle. 

    Hüsch spielte für den Rest seines Lebens hauptsächlich Soloprogramme, oft an bis zu 250 Abenden im Jahr. Wenn es überhaupt ein Programm gibt, das er als „sein wichtigstes“ ansehen würde, dann dürfte es Das neue Programm von 1981 gewesen sein — „für Frau und Tochter, Freunde und Feinde“, wie der Untertitel lautete. 

    Unter Stehlampen sitzen wir
    Und warten auf das Kopfnicken
    Der Katastrophe.

    — die Schlusszeilen aus dem Eingangslied.

    Obwohl er ein durchaus passabler Pianist war, wurde eine kleine Philicorda-Orgel zu seinem Markenzeichen („Mein Bühnenbild“, wie er zu sagen pflegte). Dieses Instrument konnte er nicht nur für Klangakzente und liegende Akkorde einsetzen, es diente ihm auch als Tisch für seine Manuskriptblätter, von denen er seine Texte locker abzulesen pflegte. Am Ende besaß er fünf dieser Orgeln, die strategisch über Deutschland verteilt waren.

    Hüschs Platteneinspielungen gingen von Wortplatten ohne Publikum über Livemitschnitte bis hin zu einer von Kai Rautenberg arrangierten Bigband-Platte (Abendlieder; 1976), die es (wie die meisten seiner frühen Platten) leider nie auf eine CD geschafft hat.

    Dabei blieb er dem Jazz immer treu, auch die Philicorda-Klangakzente und -Akkorde sind meist alterierte Jazzakkorde. Hüsch konnte in seinen Bühnenprogrammen witzig, verrückt, versponnen, manchmal albern, aber auch philosophisch, satirisch und politisch sein, wobei Politiker mit Namensnennung eine seltene Erscheinung waren („Mein Kabarett ist mir zu schade dafür“). Hüsch hatte einen messerscharfen Blick für die Kleinigkeiten des Alltags, aber nie wurde Brüllkomik daraus. Er besaß Charisma; er erschien auf der Bühne und hatte den Saal. Er konnte die Zuschauer mit erlesenem Quatsch zum Lachen bringen, sie mit einer einzigen Wendung, mit einer einzigen Zeile zu Tränen rühren und sie im nächsten Augenblick wieder auffangen. Der Spiegel schrieb über ihn: „Hüschs Genius, sein Ansehen und Erfolg beim Publikum bestand darin, dass er von Beginn an seinen Texten eine besondere, auf Gefühl bezogene Rhythmik und eine intensive, teils spontane Interaktion gab, also all die Elemente, welche man auch in der Jazzmusik spürt. Er grenzte sich und sein Werk damit schon früh von anderen Kabarettisten ab und konnte diesen eigenen Stil in der Folge weiterentwickeln.“

    Musik spielte in und für Hüschs Programmen immer eine wichtige Rolle. Seine Kollegin Magdalena Thora (heute unter dem Namen Leni Stern als Jazzgitarristin unterwegs) aus der TV-Serie „Goldener Sonntag“ (wenn die lief, durfte mich niemand anrufen) gab ihm eines schönen Tages den Tipp, sich einmal die Musik Steve Reichs anzuhören. Die faszinierte ihn dann derartig, dass er Reichs Musikstrukturen buchstäblich zu komplexen Minimal-Texten verarbeitete, die eine ähnliche Wirkung wie die Musik hatten; besonders deutlich etwa in „Hagenbuch und seine Freunde“ von 1981. Der erste dieser „Hagenbuch“-Texte war entstanden, während im Hintergrund Steve Reichs „Six Pianos“ lief, und irgendwie übertrug sich der Aufbau dieses Stücks auf den Text. Für die ohne Publikum im Studio eingespielte LP Hagenbuch hat jetzt zugegeben (1978) gab er Konstantin Wecker den Auftrag, sieben Reich nachempfundene Klaviermusiken zu schreiben, die als Brücke zwischen den Geschichten dienen.

    Zwischen 1979 und 1983 ging Hüsch mit „Hagenbuch“ und der Lars Reichow Bigband auch auf Tournee. „Insoweit Hüsch Kabarettist ist, mag es nicht überraschen, dass er auch mit der Musik operiert, ohne die Kabarett ja nicht denkbar ist. … Aber was noch interessanter ist: Er geht über die bekannten Formen hinaus, erweitert sie, sprengt sie bis in die Bereiche des Experiments mit Klängen der Moderne und Techniken der Collage“, schreibt der Konzertbeobachter Gerd Lisken über diese Auftritte. 

    In den heutigen Kabarettsendungen im Fernsehen wird man Beiträge wie die von Hüsch nicht mehr finden. In den Siebzigern gab es eine Reihe wie die „ZDF-Matinee“, in der am Sonntagvormittag manchmal recht bemerkenswerte Dinge gesendet wurden, die heute unvorstellbar wären, etwa einen vollen Auftritt von John McLaughlins Mahavishnu Orchestra. 1978 sendete das ZDF in dieser Reihe live aus der Mainzer Universität Hüschs sehr abstrakte Collage Und das Herz schlägt wie ein blinder Passagier. Ich sah es zu Hause. Was wir Zuschauer natürlich nicht wissen konnten: Während der Pause erhielt die Uni einen Anruf aus dem Krankenhaus, dass Hüschs Frau Marianne verstorben war. Alle hinter der Bühne waren zunächst ratlos, ob man ihm das mitteilen sollte. Man kam schließlich überein, dass man das nicht verheimlichen könne, er würde es sonst ohnehin merken. Hüsch, angesichts der Live-Situation, zog den zweiten Teil des Programms durch. — Freunde, die Welt hat kein Dach über dem Kopf (auch das ein Satz aus einem seiner Programme).

    Den Lungenkrebs hatte Hüsch gerade überstanden, da erwischte ihn im November 2001 ein Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte. Hanns Dieter Hüsch, „der Mann, der den Jazz in Worte fasste“, verstarb im Jahr 2005.

    Beim Herumgooglen nach der obenerwähnten „Kalenderblatt“-Sendung übrigens stieß ich auf ein Buch:

    Herausgegeben von Malte Leyhausen versammelt der Band rund fünfzig Erinnerungen von prominenten und weniger prominenten Mitmenschen an Hanns Dieter Hüsch, unter anderem von Lioba Albus, Jürgen Becker, Henryk M. Broder, Matthias Brodowy, Katja Ebstein, Okko Herlyn, Franz Hohler, Margot Käßmann, Jürgen Kessler, Renate Künast, Manfred Lütz, Jochen Malmsheimer, Harald Martenstein, Manfred Maurenbrecher, Arnulf Rating, Lars Reichow, Mathias Richling, Nikolaus Schneider, Georg Schwikart, Kai Magnus Sting und vielen anderen. Viele dieser Texte sind lesenswert, auch wenn mir das Buch im letzten Viertel ein wenig zu evangelisch wird. Aber auch das war Hanns Dieter Hüsch. Und wenn der Jubilar den lieben Gott schon in Dinslaken getroffen hat, dann kann man das wohl hinnehmen.

    Malte Leyhausen (Hg.):
    Hanns Dieter Hüsch zum 100. Geburtstag
    Erinnerungen von Freunden und Bewunderern
    Mit Illustrationen von Jürgen Pankarz
    Hamburg 2025, ISBN 978-3-7693-2783-0
    274 Seiten 

    Hüschs Platz ist verwaist und wird es wohl bleiben. Und mein Lieblingszitat von ihm ist und bleibt:

    Wenn man bedenkt, dass das Ganze nichts auf sich hat.

    *

  • “to the sea“

    SONG

    Das neueste Album von Louis Philippe & the Night Mail, The Road to the Sea, ist eine Schönheit. Ich wusste schon immer von seiner Vorliebe für Brian Wilson und die Beach Boys, und dass er in der Vergangenheit unter anderem mit Sean O’Hagan von den High Lamas und Stuart Moxham von Young Marble Giants zusammengearbeitet hat, gibt eine gewisse Vorstellung von seiner Ausrichtung. Wir haben also Sonnenschein-Pop, Chanson, einen Hauch von Barock (vielleicht mit einer Anspielung auf die Left Banke) und offene Ohren im Allgemeinen, vielleicht mit einer Spur von Francis Lai und Paddy McAloon, aber auch mit einer starken Persönlichkeit, die für Frische sorgt. Dieser Worte stammen von Richard Williams, und wem der obige Song gefällt, mag Richards Besprechung nebenan in seinem Blog „The Blue Moment“ lesen.

  • Sunday Morning Story

    Sunday Morning

    Ich kann gar nicht sagen, wie gerne ich mal wieder auf den Kanaren landen würde, natürlich auf Lanzarote (sollte es da noch mal warm werden!), mit ein wenig Insel-Hopping, damit wir uns am besten alle mal wiedersehen. Eine verrückte Fantasie, dass Freunde und Teilhaber von FlowFlow dort zusammenkämen, jeder mit ein paar „desert island discs“ im Gepäck. Gerne könnte auch unsere Pflegetochter dabei sein. Keine Ahnung, wie viel Wochen oder Monate sie noch bei uns sein wird, da kann alles sehr schnell, oder unheimlich langsam geschehen, nichts wäre schöner, als zu erleben, dass ihre Eltern endlich aus Afghanistan geholt werden, die dort eine eine neue Demokratie mitgestalteten, bis der unorganisierte Aufbruch der Deutschen und der Amerikaner alles über den Haufen warf, und man es versäumte, Tausende von Unterstützern unter den Afghanen mitzunehmen, die für die Taliban Freiwild wurden.

    Es war einmal vor langer Zeit, da war Afghanistan ein freies und freizügiges Land, ein Hippieparadies zudem. Einer meiner Lieblingsschriftsteller, Ernst Augustin, arbeitete dort in den Fünfziger Jahren als Psychiater, ehe er dauerhaft in München landete und seine Lebensgefährtin fand, nachzulesen im bezaubernden Roman „Raumlicht“. Als ich ihn besuchte, auch schon ein Vierteljahrhundert her, machte ich es mir in seinem Wohnzimmer gemütlich, das wie eine Kajüte mit Bullaugen eingerichtet war und zu imaginären Schiffsreisen einlud. Genug Abenteuerromane füllten ein Regal, darunter auch die Südseeabenteuer von R.L. Stevenson. Hauptthema war seine furiose Sage mit viel fernem Orient, „Mahmoud, der Schlächter“. Nur etwas für die harten Augustin-Fans!


    Wir sprachen viel mehr über „Der amerikanische Traum“, eine hinreissende Geschichte über ein geträumtes Leben im Angesicht des Todes, mit wilden Detektivgeschichten In USA und Lateinamerika, und Lee Morgans „The Sidewinder“ als Soundtrack. Wer die Klanghorizonte noch hat, aus den Neunziger Jahren, mit ein, zwei Passagen des Interviews, bitte melden! Der Lohn: Lee Morgans Platte! Augustins Romane sind voller Reisen, wie der eines liebeskranken Psychotherapeuten nach London in den wilden, wilden Siebzigern. Ich verschlang den herrlichen Roman „Eastend“, in dem auch die launigen Selbsterfahrungsgruppen jenes Jahrzehnts auftauchen, früh in meinen Studentenjahren in Würzburg, gleich zweimal hintereinander, und vielleicht ahnte ein mir unbekannter, hellsichtiger Teil meines jüngeren Hippie-Ichs, dass mir einmal, im Dezember 1982, das gleiche Schicksal beschieden sein würde. In einem früheren Leben das alles, aber die Musik von damals begleitet mich noch heute.

    In den zwei Wochen in Hampstead hörte ich nachts die Sendungen von John Peel, und zwei Platten von Magazine und den Flying Lizards gesellten sich damals zu meiner Seelennahrung. Ich kaufte sie in einem Plattenladen in Notting Hill, wo mir ein gewisser blutjunger Robert Forster über den Weg lief. Lange Jahre vor meiner Radiozeit. Viele Jahre danachwar ich öfter in Notting Hill, um Brian Eno in seinem Studio zu besuchen, der in alter Zeit mal ein Pferdestall war. Ein Kollege von mir traf Brian dort vor für ein Interview in der Juliausgabe von „Uncut“. Das ist von Bedeutung für die Pointe dieser leicht zerfaserten Kurzgeschichte. Vorgestern waren wir nämlich bei Ulrike und Tobi, der einen prächtigen Pizzaofen hat, und der Abend ging über Hölzchen und Stöckchen und landete bei dem Song „Suddenly“ (den ihr HIER nochmal hören könnt), und der als erste Single des Songalbums „Luminal“ von Brian und Beatie bereits überall zu hören ist.

    Ein Song, der in unsere Nachbarschaft zum Hit wurde, als ich ihn auf der feinen Sonos-Box im Garten spielte. Jung, alt, und mittelalt begeisterten sich dafür, ohne Ausnahme. Als wir Tage später bei Ulrike und Tobi waren, lag die Story von dem Song auch irgendwann auf dem Tisch: rasch wurde „Suddenly“ aufgelegt, auf zugegeben mickrigen Lautsprechern. Aber es reichte, dass Tobi sich an seine jungen Jahre mit wilder Musik erinnerte, und keine Minute des Songs war vergangen, da fühlte er sich an was erinnert aus alten Zeiten, aus sehr alten Zeiten, und dann liess er den Namen des Songs fallen: „Sunday Morning.“ (Ihr könnt ihn ganz oben „anklicken!)

    „Oh“, sagte ich, „spannend, The Velvet Underground, die Platte mit Nico und Banane.“ Wir hörten das Lied im Vergleich. „Tobi, ich staune!“ Nicht, dass da eine grosse Nähe zu der Melodie, oder den Harmonien war, und doch: Stimmung, Getragenheit, ja, das war was! irgendwas! Ich schmunzelte, irgendwie hatte Tobi eine Fährte aufgenommen. In meinen Interviewfragen, die noch unbeantwortet sind, habe ich Beatie Wolfe darauf angeosproch, ob Lou Reeds „Set Me Free“, das Brian Eno sowieso über alles liebt, hier oder da Pate gestanden habe bei. An „Sunday Morning“ hatte ich nicht gedacht.

    Wenn das mit dem Interview für die Klanghorizonte noch was werden soll, müssen die Antworten von Beatie spätestens morgen nachmittag eintreffen. Dennoch, einen Clou gibt es schon. Also: ich erhalte gestern Abend die Online-Ausgabe von „Uncut“ (july edition), und darin gibt es das ausführliches Interview von Tom Pinnock mit Brian, über Stock und Stein und Jahrzehnte springend. In der einleitenden Passage beschreibt Tom Pinnoch das Ambiente, das ich nur zu gut kenne aus meinen Besuchen. Beatie ist auch zugegen. Das ist vielleicht drei Wochen her. Also, lieber Leser, lies und lausche, diese eine Passage:

    „Eno has a lot on. He has been at his west London studio since shortly after 6am. His new collaborator Beatie Wolfe is here too, working on some of their music in his studio room, with its speakers resting on breezeblocks, and an original Velvet Underground & Nico LP, the yellow banana exposed, propped up like a talisman.“ („Brian hat eine Menge zu tun. Er ist seit kurz nach 6 Uhr morgens in seinem Studio im Westen Londons. Beatie Wolfe ist ebenfalls hier und arbeitet an ihrer Musik in seinem Studioraum, in dem die Lautsprecher auf Windschutzscheiben ruhen und eine Original-LP von Velvet Underground und Nico, deren gelbe Banane offen liegt, wie ein Talisman aufgestützt ist.“) Chapeau, Tobi!

  • “Arcanum“

    Das vierköpfige Quartett, bestehend aus zwei Norwegern – Arve Henriksen (Trompete und Elektronik) und Trygve Seim (Saxophon) -, dem schwedischen Bassisten Anders Jormin und dem finnischen Schlagzeuger Markku Ounaskari, setzt seine beträchtlichen Ressourcen geschickt ein, indem es das Gleichgewicht zwischen Komposition und Improvisation ständig verschiebt und dabei ein Mosaik aus 16 individuellen Miniaturen schafft, die das nordische Jazzideal einer transparenten, zeitlosen und fast schwerelosen Schönheit voll und ganz erfüllen. Vielleicht ein zukünftiger Klassiker. (Richard Williams, Uncut, July 2025)