„Grosses Leeres Land“, und andere Traummusik
Es ist noch unklar, ob ich meine kommenden Klanghorizonte völlig ohne Interviewausschnitte, als eine Art Essay aufziehe, oder mit drei Interviewpartnern, die Angel Bat Dawid, Beatie Wolfe und Brian Eno wären. Ein kontrastreicheres Gespann lässt sich kaum vorstellen: Die aus ehrwürdigen Free Jazz Zirkeln Chicagos entstammende Angel mit all ihren „african roots“ und der Tendenz, jeden Auftritt in eine wilde Perfromance zu verwandeln, sowie der gewitzte „spirit“ von Beatie und Brian, das hätte was! Ohne Interviews würde – HIER! – eine alternative Playlist aktiv!
Heute Nacht träumte ich, dass Brian bei mir in einem Frankfurter Hotel zu Gast war. Ein offensichtlicher Tagesrest, denn ich beschloss, am kommenden Montag Brian und Beatie ggf. ein paar Fragen zu senden (über DGG / Verve). Nicht so leicht, mich und ohn da ei zu überraschen, zu gut kenne ich mich in Brians Gedankenwelt aus. Und so sassen wir in meinem sehr geräumigen Hotelzimmer, und ich war ein wenig ratlos. Brian hatte mir als Geschenk leuchtende alte Alben unter anderem von David Darling in Form kleiner Kristalle mitgebracht, die ihre Klänge nur preisgaben, wenn man sie in Licht tauchte. Trotz dieses Highlights verlief die Begegnung etwas schleppend.
NEW GHOSTS OF HIGHWAY 20
Nach dem Erwachen ging mir die Musik von „Lateral“ durch die Sinne. Ich hatte am Vortag der einstündigen Instrumentalkomposition gelauscht, nur Beatie an der Gitarre und Brian an den „synths“. „Lateral“ besteht aus acht Teilen „Big Empty Country“. Nüchtern gesagt: wie bei Discreet Music, Neroli, Lux, Thursday Afternoon oder Reflection (HIER mein alter „Manatext“ (oder sollte ich „Metatext“ sagen?) zu dem Album), passiert (scheinbar) nicht viel in diesen sechzig Minuten, aber das, was passiert, kann endlos faszinieren, zum Träumen einladen, immersiv sein, inspirierend, Vordergrund, Hintergrund, Mittelgrund. So umfangreich Brians Katalog der Ambient Music ist, er öffnet mit jedem dieser Album eine andere Soundwelt.
Weniger nüchtern formuliert, und nicht ganz in eigenen Worten: „Big Empty Country: was für ein Trip! Die meisten Reisen führen über eine gewisse Distanz, um ans Ziel zu gelangen, doch nur wenige packen den Ort, an dem man sich befindet, mit solch komplexer, unverschämter Herrlichkeit aus, dass man keinen einzigen Schritt tun muss, um ans Ende des Universums und zurück zu reisen.“
Gönnen Sie sich nun erstmal einen tiefen Atemzug! (eine kurze Pause)
Parallel erscheint am 6. Juni die nicht weniger fesselnde „Country Dream Music“ von „Luminal“ des Duos, mit den Gesängen von Beatie, den „background vocals“ von Brian, sowie allerlei Instrumenten. Wundersam tief und luftig!
WIDE OPEN SPACES
Eins noch: bei dem David Darling-„Kristall“ handelte es sich um „Cello“ mit dem Himmelblau aus einem Godardfilm. Damals, früh in den Neunzigern schickte ich Brian diese ECM-Produktion von Manfred Eicher, und er war begeistert!
Wie auch Tyran Grillo, der zu Cello schrieb: „…one of the most stunning albums ever to be released on ECM in any genre. Its fluid paths feel like home. Darling plows the improvisatory depths of his soul, given free rein in the studio to paint the negative spaces in between those clouds on the album’s cover, ever deeper, ever truer to the core of something alive. Most journeys might take you across some distance to get you to where you’re going, yet few will actually unpack where you are standing with such complex, unabashed glory that one need not take a single step to travel to the end of the universe and back. Cello is one such journey.“
Appendix:
ORANGE JUICE FOR THE EARS: BEATIE AND BRIAN (HERE!)
PLAY ON: ANGEL BAT DAWID IN ACTION (HERE!)in-depth reviews of Lateral (Big Empty Country) and Luminal will be posted at the end of May, in German and English.
Köln 75
Ich war eine halbe Stunde vor Kinoeinlass in der Bar des Apollo, und plötzlich strömten all die alten Menschen aus Kino 1. Mit und ohne Rolator, hustend, gebückter Gang, ein paar Rüstige bestimmt auch dabei, zwischen elegant und zottelig, ich gehöre ja nun auch zur Seniorengruppe, und das so geballt zu sehen, liess mich noch mal extra in dem Alter ankommen, in dem ich jetzt bin. Denn die kamen alle aus dem Dylan-Film, einige sichtlich bewegt. Und das war ich auch, als ich aus KÖLN 75 kam, zwei Stunden später.
Geschickt vermeidet es der Regisseur, in einem Film mit tollen Einfällen, exzellentem Drive, glaubwürdigen Zeitkolorit, grossartigem Schnitt, auch nur einen Ton aus THE KÖLN CONCERT zu servieren. Da wurde aus der Not, es nicht zu dürfen, eine Tugend gemacht. Wie er das anstellt, mit ganz anderer Musik aus jener Zeit – chapeau! Wir sind in Köln, und da bekommen wir auch das wilde Leben der jungen Vera zwischen Jazz und Psychedelik geliefert, incl. Can und Floh De Cologne. Und ein Ensemble, das spürbar grosse Lust hat, diese alte, verrückte, und weitgehend sehr wahre Geschichte zu erzählen.
Aber leider, leider: die Abwesenheit von Jarretts Spiel hätte konsequent durchgezogen werden müssen. Wenn dann nämlich in Lausanne ein „Jarrett-Imitator“ in die Tasten langt, wird die orginale Musik zum eigenen Klischee heruntergebrochen – und das ist doch überhaupt nicht nötig, in einem Film, der sich so mit allen Tricks zwischen Zeitreise, Drama und komödiantischem Überschwang bewegt. Auch in der wunderbar in Szene gesetzten Nachtfahrt von Lausanne nach Köln (Manfred Eicher ist schon gut getroffen!) klingt es verdächtig nach einem Nocturno a la Jarrett, aber natürlich nicht von Jarrett – die Szene hätte mit klavierbefreiter Melancholie gewonnen (zum Beispiel mit Brian Enos „Sparrowfall“ oder einem Stück aus Ralph Towners „Diary“).
KÖLN 75 ist famoses Kino, auch ein zweites Sehen wert – und wie dieser Genre-Mix Jazzhistorie en passant vorführt, allemal ein Extralob wert. Auf dem Weg in die City und zurück lief die lange erste Improvisation vom Original, in voller Länge in meinem Auto! Eine Woche vor jenem Ereignis, waren Keith und Manfred in Kronach bei „Rosato“ in der Aula eines Gymnasiums – diese herrliche Story hat uns Hans Dieter Klinger schon mal zum Besten gegeben. Das Hotel, in dem die beiden übernachteten, hiess „Sonne“. Sieben Tage später verweilte das Duo nahe der Alten Oper im „Hotel Engelbrecht“. Der Rest ist Geschichte! Und die von Rosato ist HIER nochmal nachzulesen!
All die freien Räume (ECM 1187)
Nur zwei Alben veröffentlichte der Pianist und Synthesizerspieler Rainer Brüninghaus als Bandleader, „Freigeweht“ (1981) und „Continuum“ (1984), und sie haben über all die Jahrzehnte hinweg nichts an Ausstrahlung verloren: „Freigeweht“ liegt nun in der ECM-Vinylserie „Luminessence“ mit tadelloser Pressung und Gatefoldcover vor, ergänzt von einem klugen Essay, der dieses kleine Meisterstück im Rückblick einordnet und verschiedene Facetten erhellt, etwa Spuren von Minimalismus in diesem sogenannten „kammermusikalischen Jazz“. Aber was heisst schon „Kammermusik“ bei so vielen sperrangelweit geöffneten Aussichten!? Vielen wird es so ergehen, dass sie sich diese lyrisch-aufregende Musik wieder und wieder anhören, weniger, um sich wohligen Erinnerungen zu überlassen, oder analytisch den Geistern eines anderen Zeit nachzuspüren (das wären allenfalls Begleiterscheinungen): alle Beteiligten sind schlichtweg „on fire“, von dem Komponisten selbst, der das Understatement jedem virtuosen Fingerzeig vorzieht, über den Meistertrompeter und die Schlagzeuglegende, bis hin zur „wild card“ des Oboisten und Englisch-Horn-Spielers! Für eine jüngere Generation von Hörern mag dieses Werk eine Eintrittskarte sein, andere aussergewöhnliche Alben des ECM-Katalogs kennenzulernen, in denen Brüninghaus als Sideman seine diskret-vielschichtige Magie verströmt, etwa Eberhard Webers „The Colours Of Chloe“, „Yellow Fields“ und „The Following Morning“, oder Jan Garbareks „I Took Up The Runes“. „Freigeweht“ reiht sich da, ohne grosses Aufheben, nahtlos ein: einsame Klasse in bester Gesellschaft!
(Die Wiederveröffentlichung erscheint am 24. Februar. Musik: 10 / Klangqualität: 10 / Sequenz der Stücke: 10 / Fertigung und Gestaltung: 10 / Repertoirewert: 10)
Das schönste Buch des Jahres 2025
Vor wenigen Wochen versammelten sich renommierte Journalisten und verrieten dem Publikum der SZ ihren Favoriten unter den Erzählwerken. Elke Heidenreich begann ihren kleinen Text mal gleich mit dem Auftakt „Das schönste Buch des Jahres 2024…“ und sang eine präzise Lobeshynmne auf Samantha Harveys „Umlaufbahnen“. Ein Buch das es locker in meine Top 10 gebracht hat, und, ehrlich gesagt, meist sind die Tips von Frau Heidenreich für mich insofern aufschlussreich, weil ich ihnen besser nicht Folge leiste. Ist ja alles auch sehr relativ.
Über das Cover kann man natürlich streiten. Aber, ähem, ich habe gerade, vielleicht, also, ich sage „vielleicht“, das schönste Buch des Jahres 2025 gelesen. Es hat knapp 600 Seiten, ich habe es über weite Strecken „verschlungen“, einmal abends 110 Seiten am Stück gelesen, was nah an meinen persönlichen Leserekord kommt. Es pendelt raffiniert zwischen verschiedenen Zeiten und spielt sich zu zwei Dritteln in einer Gegenwart ab, die 1975 Gegenwart war. In einem Feriencamp. Die Boys und Girls, die da auftauchen (und Liz Moore versteht es, ihnen wahres Leben und Lebendigkeit einzuhauchen), sind also in dem Alter, in dem ich war, als ich im Würzburg anfing Psychologie zu studieren. My Generation. Sozusagen. Ich werde jetzt aber nicht gleich die Who und „Live at Leeds“ auflegen. Und diese Identifikationsebene hat auch nicht meine Urteilskraft getrübt.Hammerbuch. Familienroman (über mehrere Generationen), eigentlich gar nicht mein Ding, aber egal. Ein Kriminalroman mit Tiefgang. Kein Mysteryroman, wie der Titel suggerieren könnte. „Der Gott des Waldes“ ist eine Geschichte vornehmlich weiblicher Befreiungsakte, und deren Scheitern als Option (was nun auch nicht mein Thema ist, weil das oberflächlich als „Frauenbuch“ abgetan werdem könnte). Ist es aber nicht, oder nur wieder so eine falsche Fährte – in einem Buch voller falscher Fährten. Zudem bekommt man gleich auch noch einen epischen Kurs in „Survivaltraining“ geliefert. „Wenn du dich verlaufen hast, setz dich hin. Und schrei laut.“ Und, das muss ich nun auch einräumen, ich war so drin in dem Buch, dass ich als auf das furiose Ende zulief, ein paar mal eine wirklich schaurige Gänsehaut erlebte, ehrlich. Auf keinen Fall den Klappentext lesen. Erscheint im Februar bei C.H. Beck. In meinen Top 10 wird es locker landen. Ein Pageturner mit langem Nachhall, versprochen! (Aber ich kann ja viel erzählen.) P.S. Ende März ist Liz Moore auf der LitCologne.
Richard Dawsons „Endspiele“
„Nach The Ruby Cord, einem 80-Minuten-Album, das in einer halluzinatorischen VR-Zukunft spielt, konzentriert sich Richard Dawson hier auf kleinere Dinge: nämlich auf das alltägliche Trauma von Familien am unteren Ende der Mittelschicht. Dennoch ist sein Songwriting so kraftvoll und bewegend wie eh und je, mit all den düster-komischen Anklängen, für die er bekannt ist. Auch musikalisch ist End Of The Middle zurückgenommen, in seiner Sparsamkeit vom frühen Neil Young inspiriert, mit markanten Free-Jazz-Holzbläsern, die Dawsons romanhafte Erzählungen beleuchten. „Gondola“, ‚Bullies‘ und ‚Removals Van‘ deuten ganze Welten an, bevor ‚More Than Real‘ in tränenreichem Technicolor schließt.“
So die kleine Besprechung von Tom Pinnock in der Februarausgabe von UNCUT. Einige von uns kennen diesen Song-Exzentriker seit Jahren, jetzt legt er einen Songzyklus vor, der in anderer Weise als Wim Wenders‘ „Perfect Days“ von dem japanischen Regisseur Ozu inspiriert ist. Ich wittere hier auch mehr als einen „touch of Beckett“ und erinnere mich, wie wir bei unserm Englischlehrer einst Becketts „Endspiel“ lasen und interpretierten!
Ich habe das Album bereits hören können – ein Songvideo („Polytunnel“) habe ich in meinem „Echo“ auf Enos Songseminar verlinkt. Dass die lyrics kleine Welten kreieren, in einer dem „normalen Alltag“ entnommenen Sprache, die durch ihre Kombination mit überraschenden Wendungen eine besondere Kraft entfaltet, ist ein wirklich gekungener Kunstgriff von „songwriting“. In comment 1 die lyrics des Liedes „Gondola“. Dieses Lied, in dem eine frei flottierendes Klarinette wundersam herumgeistert, endet mit folgender Strophe – und einer etwas anderen Venedig-Impression!
Meine Träume starben wie Delphine in einem Netz.
Ich konnte nie nach Venedig fahren
und wie viele Sommer habe ich noch vor mir?
Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich eine Oma bin.
Jen hat gerade ihre Fahrprüfung bestanden.
Ich werde ein paar tausend Pfund
in ein Auto investieren
und mit ihr in den Urlaub fahren –
„making memories“, bevor es zu spät ist.
Da sind wir nun, unter der Rialto-Brücke,
zusammengekauert in einer Gondel.Ich möchte HIER noch einen weiteren Song aus „End Of The Middle“ vorstellen. Am besten nicht einfach kurz reinhören, und schnell entscheiden, sondern vielleicht erst mal die lyrics im Vorfeld lesen (das Original, und eine rasche Deepl Übersetzung folgt in Kürze in Comment 2), und dann den Song in Ruhe aufnehmen. Richard Dawson gehört zu den interessantesten „Leftfield“-Songschreibern Englands, ein sympathischer Coldplayfan wird rasch die Flucht ergreifen, und auch mit der Stimme müssen sich (man muss natürlich gar nichts) manche ggf. erstmal anfreunden. Dann aber könnte – ich sage „könnte“ Dauerhaftes entstehen.
Es ist schon toll, was Domino seit Jahr und Tag publiziert (zuletzt das editorische Mammutmeisterstück „G stands for Go-Betweens, Vol. 3“, ein Boxset, der schneller ausverkauft als besprochen wurde), auch Robert Wyatt (in manchem ein Seelenverwandter von Robert Wyatt) hatte da in seiner letzten Schaffensphase eine Hafen gefunden. Und von wem stammte das Album des Jahres 2024 in den Ohren von drei, vier Flowworkern?! Bingo! Und sonst, anno 24: John Cale, Julia Holter, Jon Hopkins, Hayden Thorpe, Bonny Prince Billie (bald eine neue Scheibe) und und und…. Nochmal zurück zu Richard Dawson am 14. Februar erscheinendem Album, das auch eine Brücke schlägt zu Michael Leighs Filmen, zu den alten Erzählungen von Alan Sillitoe – wer erinnert sich noch (auch eine Verfilmung gab es) an „The Lonliness of The Long-Distance Runner“. In den Worten von Richard: . “It zooms in quite close-up to try and explore a typical middle class English family home,” Dawson said in a statement. “We’re listening to the stories of people from three or four generations of perhaps the same family. But really, it’s about how we break certain cycles. I think the family is a useful metaphor to examine how things are passed on generationally.”An Acrobat‘s Heart
I met her back then in Munich (in the summer of 2000), and she told me, at one point, about sensitive moments in the production. Once, in the morning, she felt her energy waning, couldn’t make the appointment, everything was up in the air. Manfred Eicher carefully knocked at her door. Helpful words, encouragement. It ended well. Fortunately. By the way, she never got together with Brian Eno (they would have made an interesting pair in the studio), but once, early in the seventies, he lent her a wonderful pair of old horn loudspeakers, she fell in love with their sound and never gave them back.In meinem Jahresrückblick tauchen ungewöhnlich viele Frauenstimmen auf, aus lang vergangener wie heutiger Zeit, Julia Holter, Laurie Anderson, Feliciá Atkinson, Jessica Pratt (you miss something between „Twin Peaks“ and „deep, deep mood music“ if you miss Jessica‘s „Here In The Pitch“), Beth Gibbons, Joni Mitchell, Anne Briggs, Annette Peacock. All diese Alben haben für mich etwas Unwiderstehliches, und ich kann nie anders, als sie am Stück zu hören. Vor Tagen lauschte ich wieder einmal Laurie Andersons „Hörspiel“ über den letzten Flug von Amelia Earhart, und war so gefangen von ihrem stimmlichen Vortrag, dass ich Raum und Zeit um mich vergass, in ihrer alten Klapperkiste, auf ihrer allerletzten Reise.
Und am Tag darauf kam Annettes letztes Songalbum bei mir an, das im Jahr 2000 entstand. Erstmals nun als Schallplatte, genauer gesagt, als Doppelalbum, in der ECM-Reihe „Luminessence“. Makellose Pressung, exzellenter Sound (was ja nun keine Überraschung ist). Neben ihrem Gesang ist Annette am Piano zu hören, allein das Cicada String Quartet begleitet sie. Jan Erik Kongshaug sitzt am Mischpult, und Manfred Eicher ist der Produzent im Rainbow Studio. (Those were the days.)
Einst, in ihren jungen Jahren, war sie eine so eigensinnige wie sinnliche Erscheinung. Viele Männer hielten Hof, Timothy Leary war einer von ihnen. Obwohl mir ihre skurrile „Annette Peacock Paul Bley Synthesizer Show“ als Album stets ein Rätsel blieb, das vielleicht nur Konrad Heidkamp und das Liebespaar Bley – Peacock entschlüsseln konnten, waren ihre Soloalben durchweg wagemutige, auf seltsame Art zugängliche, wundervolle, ja, genau, wundervolle Trips, die nie einem einzigen Stil treu blieben und brisantes Fremdgehen betrieben zwischen Funk und Free Jazz, Blues und Elektronik, Avantgarde, Rock und ganz und gar unklassischem Songwriting.
Wie betörend ihre Kompositionen sein konnten, brachte Paul Bley etwa auf „Open, To Love“ zu Gehör, allein am Klavier. Jahrzehnte später Marylin Crispell mit „Nothing Ever Was, Anyway – Music of Annette Peacock“. Für das kammermusikalische Szenario von „An Acrobat‘s Heart“ (mit einem Hauch von Folk, den ich nie ding- und ortfest machen kann), gab es einmal mehr keinen Vorläufer unter ihren eigenen Alben, und unter anderen sowieso nicht. Klappt man das Gatefold-Cover auf, finden sich die lyrics, die wider allen Mainstream-Empfindsamkeiten, Liebesdingen und Erinnerungen auf den Grund und Abgrund gehen – die Bilder der Worte so elementar, so klar, und doch kaum zu fassen. Fragile Sphären, unzerbrechlich!
Ich traf sie damals in München, und sie erzählte da auch von sensiblen Momenten der Produktion. Einmal, morgens spürte sie ihre Energie schwinden, konnte den Termin nicht wahnehmen, alles hing in der Luft. Es nahm ein gutes Ende. Zum Glück. „An Acrobat’s Heart“. Mit Brian Eno ist sie übrigens nie zusammengekommen (das wäre auch ein interessantes Paar im Studio gewesen – die „Annette Peacock Brian Eno Synthesizer Show“ hätte ich zu gerne erlebt), aber einmal, früh in den Siebzigern, lieh er ihr ein wunderbares Paar alter Hornlautsprecher, sie verliebte sich in ihren Sound, und rückte sie nie wieder raus.
(monthly revelations, „Archive“, January 2025)