• Geld und Gefühle – „Anora“ und Sean Bakers ungestümes Kino

    Anora is closer in spirit to the portrayals of sex work by great Japanese filmmakers such as Kenji Mizoguchi and Mikio Naruse, which find their protagonists resoundingly challenged and yet generally unbowed, and to Federico Fellini’s „Die Nächte der Cabiria“ (1957)—an avowed influence for Baker—in which Giulietta Masina’s betrayed and abandoned prostitute turns to the camera with an expression of tearful resilience in the famous final shot.“ (Es gibt keinen Ersatz für die grosse Leinwand, aber immerhin ist Sean Bakers herausragender Film derzeit bei „prime“ zu erleben. m.e.)

    „Sollten künftige Zivilisationen eine Lehrstunde darüber benötigen, was es bedeutet, als Subjekt des fortgeschrittenen Kapitalismus zu leben, könnte man als Beweisstück A einfach das Kino von Sean Baker präsentieren. Jahrhunderts ist die unausweichliche Kulisse und häufig auch der erzählerische Motor dieser Filme, die Quelle ihres beißenden Humors und ihrer klaren Menschlichkeit. Geld spielt eine große Rolle in diesen Geschichten aus der Schattenwirtschaft. In Take Out (2004) versucht ein Zusteller ohne Papiere an einem einzigen Tag so viel Trinkgeld zu verdienen, dass er die Kredithaie, die ihm auf den Fersen sind, auszahlen kann; die Handlung von Starlet (2012) kommt in Gang, als eine Darstellerin in einem Erotikfilm mehrere Bündel Bargeld in einer Thermoskanne aus einem Hinterhofverkauf entdeckt. Bakers Filme sind kinetisch und ungestüm, getrieben von der permanenten Betriebsamkeit ihrer Protagonisten, vom Fälschungsverkäufer in Prince of Broadway (2008) bis zur alleinerziehenden Mutter, die in The Florida Project (2017) kurz vor der Obdachlosigkeit steht. Im Mittelpunkt dieser Filmografie, die unermüdlich rund um die Uhr läuft, steht die Figur der Sexarbeiterin, die jederzeit mit dem Tauschwert von Beziehungen und der Last der sozialen Schande zurechtkommt – berufliche Risiken, die die Titelfigur von Bakers achtem Spielfilm, Anora (2024), mit Überschwang und Souveränität meistert, bis sie es nicht mehr tut.“

    HIER findet sich der komplette, sehr lesenwerte Essay von Dennis Lim (Criterion Magazine).

  • Ritt über die Gezeiten

    You can always come back, but you can’t come back all the way

    Es ist ein grosses Geschenk, auf einer Insel zu sein, die die 60er/70er Jahre nicht so erlebt haben wie wir Cocacola Kids. Wenn der Künstler Jürgen Klauke sagt, auf Lanzarote ist die Landschaft die Kultur, stimme ich ihm zu. Unsere Kultursozialisation ist eine andere, eine westwärts geprägte. Ich kann mich zum Beispiel in die calles begeben und a la Brinkmann Gedichte an den Ecken laut vortragen. Die street events sind hier vollkommen unbekannt. Ich habe an den Bushaltestellen Plakate aufgehängt und die Bevölkerung eingeladen, doch Gedichte in den endlosen Wartezeiten auf das Papier zu schreiben. Es wurde gut aufgenommen, die Plakate sind engbeschrieben. Ich wollte zweierlei damit bezwecken. Einmal wollte ich herausfinden, ob die Herreños überhaupt Gedichte schätzen und was für Inhalte sie haben, sprich, wie sind siegepolt. Es zeigt sich eine klare Tendenz zum Politischen hin, überhaupt nicht zum Romantischen, das Preisen ihrer schönen Insel überwiegt. Es ist auffallend zu sehen, wie sich die Wartenden mit den Gedichten beschäftigen, sie fotografieren sie ab bzw. unterhalten sich darüber. Ich werde also weiterhin das Geschriebene sammeln und mich dann auf die Strasse begeben und die besten Gedichte laut vortragen. Ich habe noch ein anderes Projekt vor, das ich in einer meiner besuchten europäischen Kulturhauptstädten kennengelernt habe. Dort wurden Schwarzweiss Fotos gezeigt, die die untergegangenen Tanteemmalädchen festgehalten hatten. Hier werden zunehmend kleine Supermärkte von den grossen Haifischen geschluckt. sie heissen jetzt Superdinos. in den abgelegenen Pueblos gibt es kleine Tiendas, in denen man fast alles kaufen kann auch Bocadillos und Cortados, sie haben grossen Charme. Man geht gebückt durch die Eingangstür und sieht sich in dem halbdunklen Sammelsurium um. Joseph Beuys hätte solche Orte als mystisch bezeichnet. Ich werde sie dokumentieren. Meine Inspiration kommt also aus meiner Vergangenheit, die voll von Kulturpaketen ist, aus denen ich jetzt auf dem Lavaisland auspacken kann. (Lajla N.)

  • Eppendorfer Morgen mit Marianne


    „Es scheint, als seien die Klassiker in Ungnade gefallen, würden nicht mehr in der Schule gelehrt, sondern zugunsten von Fähigkeiten verdrängt, die der Technokratie dienen. Marianne Faithfull gehört vielleicht zu der letzten Generation, die mit der Wertschätzung klassischer Poesie, oder überhaupt von Poesie, aufgewachsen ist. In She Walks in Beauty liest Faithfull die romantische Poesie von Lord Byron, W. B. Yeats, John Keats, Alfred Lord Tennyson und anderen, unterlegt mit Ambient-Arrangements von Nick Cave-Kollaborateur Warren Ellis und einem besonderen Gastauftritt von Brian Eno, um das Ganze abzurunden.

    Faithfulls souveräne Rezitation der Romantiker wirft ein wichtiges Licht auf die Dichter, die auf dem Papier fast schmerzhaft altmodisch und traditionell erscheinen und die dunkle, revolutionäre Magie verbergen, die sich hinter ihren vertrauten Reimen verbirgt.“ (PopMatters, from 15 albums to fall in love with poetry)

  • monthly revelations (may)

    album eiko isibashi antigone
    film oslo stories: liebe
    prose west end jürgen ploog
    talk jan and erik on manafon variations
    radio playlist in motion
    binge high quality tv
    archive chick corea piano improv. vol. 1

  • das 27. Mana Musik Rätsel

    Als ich gestern von meiner Reise in die alte Heimat zurückkehrte (ich empfehle jedem mit gutem Sinn für Humor und enttraunatisierte Kindheitsstories den gestrigen Post in Ruhe zu hören („Zurli erinnert sich“)), entdeckte ich zweimal die gleiche CD unter meinen Neuheiten, das famose spoken word Album von Amelia Barrett und Bryan Ferry. Wer als erster die die folgenden Fragen richtig beantwortet, erhält per Post eben diese, sowie eine ECM-Cd. Die Antworten ausschliesslich an meine alte Mailadresse: micha.engelbrecht@gmx.de Und nun geht es los. Gefragt wird nach fünf Albentiteln (bitte nur mitmachen, wenn daheim auch das Medium CD gehört wird)… der Gewinner wird hier im Text bekanntgegeben, natürlich nur mit Namen! Musik aus allen fümf Alben lief, mitunter öfter, in den Klanghorizonten über die Jahre, und alle genannten Platten finde immer noch sehr, sehr gut. Lifers! Wobei das von Roxy seine high rotation doch ein paar Jahrzehnte hinter sich hat…

    Wie heisst das einzige ECM-Album, bei dem der Pianist Herbie Hancock mitwirkte?
    Wie lautet der Titell des Albums, bei dem Brian Eno zwei Songs der Beatles und Kinks singt?
    Wie heisst das erste Album, bei dem Bryan Ferry ohne seinen „Paradiesvogel“ dastand?
    Wie lautet der Titel des einzigen Albums, bei dem Eberhard Weber und Mal Waldron dabei waren?
    Wie lautet das Album, bei dem Steve Tibbetts ein Stück von Led Zeppelin covert?

    And the winner is…. Lorenz Edelmann…. hier die richtigen Antworten:

    1. The Jewel in the Lotus
    2. 801 live
    3. Stranded
    4. The Call
    5. Big Map Idea


  • Die gute alte Singerhoffstraße – Zurli erinnert sich

    Zurlis Erinnerungen beim Abwandern unseres alten Schulweges

    Es gibt diverse Wege, sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit zu begeben. Aber besonders lohnend ist es, einmal oder mehrmals die alten Wege, die nie ausgetreten sind, neu zu gehen. Mein Glückfall, dass mein alter Kamerad Zurli dabei war. The last time I walked this way was in 1965. unser alter Schulweg in Dortmund-Hombruch. Mein Mitschnitt ist, ungefiltert, knappe zwanzig Minuten lang – und selbst beim dritten Anhören musste ich herzhaft lachen. Und der trockene Humor von Zurli ist ansteckend. (Nächster „Einakter“ im Sommer: „Remembering Weissdornweg in the 60‘s“)

  • Hawkwind‘s magic first album


    Deshalb liebe ich auch das erste Hawkwind-Album. Es ist sowohl von der Unschuld der Psychedelia als auch von der (Vor-)Erfahrung des Punk geprägt. Unglaublicherweise neigen viele Hardcore-„Hawkfans“ dazu, es zugunsten der späteren Alben auf Charisma (!) abzutun, und das ist eine Schande. Denn Hawkwinds gleichnamiges Debüt war anders als alles andere, was sie jemals wieder aufnehmen würden. Zunächst einmal war der Gesamtsound so organisch und dünn wie ein filigraner Moosschleier, während er Stimmungen vermittelte, die so verwirrend nach dem Jenseits griffen und dabei genauso scheiterten wie das primitive Coverbild.

    (from Julian Cope‘s Head Heritage)

  • Re-packaged Passengers

    (highly recommended for my analog friends: we will soon meet in Hamburg, guys!)

    If you are like me and haven’t thought about Passengers and Original Soundtracks 1 in a long time, now might be the time to revisit this fine “new” album. Hearing it on vinyl for the first time, the music opens up in a fresh manner, compared to the relatively sterile sound of the original 1995-era CD. I love having this music spread out across four album sides, which allows us to better appreciate the song sequencing without it all getting lost as a mushy, hour-long digital playlist. Stopping to flip each side gave my brain a chance to take it all in, and better appreciate what I just heard. 

    Sonics-wise, there is no contest compared to the CD — the new vinyl edition of Original Soundtracks 1 sounds bold, round, and punchy, with loads of low-end, subsonic-style dance-beat vibes percolating beneath without sounding tubby-thumpy flaccid. Yet it’s not all boombox-car low-end here, as there is lots of nice midrange and high-end sparkle.

    In closing, I’ll summarize that this new 180g 2LP vinyl reissue is like hearing Passengers and their Original Soundtracks 1 anew for the first time. If you love Brian Eno and U2’s work together, you probably need this one in your vinyl collection, ASAP.

    (Mark Smotroff, Analog Planet)

  • creedence

    Rock’n’roll is not lazy”

    John Fogerty on turning 80, playing Glastonbury and reclaiming his Creedence catalogue 

    John Fogerty: still full of energy and fire

    DAVID MCLISTER

    HAPPY 80th Birthday, John! What was it like to celebrate onstage at New York’s Beacon Theatre?

    That was a wonderful and heartwarming thing, certainly one of the highlights of my life, to be celebrating a birthday with my family and fans at the same time. But I must say that turning 80 is not only a landmark, it’s a bit shocking. I don’t look a day over 79! 

    I believe you poured yourself some champagne on stage?

    Yeah – I don’t remember if I drank it or not, though. I kind of have a rule about that, but certainly I was saluting my audience. 

    You’ve re-recorded many of your old classics forLegacy: The Creedence Clearwater Revival Years , staying faithful to the original arrangements. After years of legal issues, was that an important part of reclaiming these songs?

    Very much so. Those old Creedence records always said: “Arranged and produced by John Fogerty.” I never thought I’d be required to go over that territory again in such a specific way, but here I was doing, say, “Proud Mary”, recreating each part that I thought I knew so well. But after 55 years, you’re not going to remember every little molecule. 

    Sometimes I’d listen to a guitar lick on “Up Around The Bend” or “Green River” and say, “Oh my goodness! How did I ever do that?” So in some cases it meant I had to relearn and then practise a lot. It was so much fun. Of course, a lot of that stuff is just ingrained in my DNA. 

    Taylor Swift has done a similar thing with her back catalogue. Did you find that inspiring?

    This project was a secret for a while. We were trying to keep it under the radar until we could announce it in an official way, so that it didn’t just trickle out by rumour. And I was very much lobbying for this record to be called “Taylor’s Version”. I just thought it was kind of funny, because she re-recorded her earlier albums and I certainly had similar reasons for doing that. And there’s an added joyfulness to all of this since I got my publishing back a few years ago. Being free and emotionally secure enough to do this record is a sign that my re-engagement with my own music was complete.

    “I was trying to be the best in the world”

    Thinking back to your younger self, how do you account for CCR’s incredibly prolific run of hit singles and albums?

    After “Suzie Q” was a hit at the end of 1968, I decided I didn’t want to be a one-hit wonder. So I got busy and just took it on. I thought my bandmates were going to do the same thing, but it didn’t work out that way. I realised that if I was really going to go forward, it was up to me. So I’d stay up every night, until three or four o’clock in the morning, writing songs like a maniac. Then I’d show up for a noon rehearsal the next day. I was trying to be the best in the world. 

    You play Glastonbury this month, 18 years since you last appeared at the festival. What can people expect this time around?

    I’m very much looking forward to it. I want to play a great rock’n’roll set. I have a wonderful band that includes my two sons, Shane and Tyler. We’ve been playing together for some time now and we all really enjoy it. Rock’n’roll is not lazy. It’s got to be fearsome and aggressive, full of energy and fire. And that’s exactly what I’m going to do. 

    ROB HUGHES

    Legacy: The Creedence Clearwater Revival Years is released by Concord on August 22

  • Inside Brian‘s Studio

    THE ZANE LOWE INTERVIEW


    Es wird mal wieder Zeit für ein Brian Eno-Interview, und mir würden genug Fragen einfallen, auf deren Antwort ich selbst neugierig wäre. Nicht so leicht, mögen manche denken, denn seit der Zeit des Internets gibt es zahllose Interviews mit Eno, zur Musik, dazu, wozu Kunst da ist, zu Gaza, dem aufkommenden Faschismus in den USA. Meine aufregendste Zeit muskalischer Entdeckungen liegt tatsächlich in den Zeiten vor der Erfindung des Netzes, in der analogen Ära.

    Damals stolperte man über Neuerscheinungen, oder man benutze gewisse „Kanäle“, um auf dem Laufenden zu bleiben. So ging ich in der zweiten Hälfte der Siebziger Jahre in Würzburg regelmässig zu Montanus, um die neuesten Ausgaben des Jazz Podiums und des Melody Maker durchzustöbern. Was heute allgegenwärtig ist, musste damals ausgekundschaftet werden. Nur wenige Magazine halfen da, die eine und andere Radiosendung.

    Heute ist der Blick auf die neuen Klänge der nahen Zukunft geradezu gleichgeschaltet – und sehr oft mit einem Blick zurück verbunden. Mit einem Schmunzeln merkt Brian Eno im Gespräch mit Zane Lowe an, dass damals, als Roxy Music am Start war, die Geschichte des Rock‘n‘Roll gerade mal 16 Jahre jung war, wenn man die Stunde Null bei Bill Haley ansetzt. As time goes by.

    Meine einzige Roxy Music-Story ist die, um die mich viele beneiden, die Fans der ersten Alben der Band sind, die ursprünglich mit dem Anspruch auftraten, „anti-hippie“ zu sein, und dem allzu schnell kodifizierten „styling“ der Hippie-Kultur unverbrauchte Mythen und Fantasien entgegenzustellen. Nun war ich um 1991 herum (oder Jahre später) in seinem alten Haus in Maida Vale, als er mir nebenbei mitteilte, dieser Raum hier, in dem wir sassen, wäre damals der Übungsraum von Roxy Music gewesen, wo sie wie verrückt die Stücke ihres ersten Albums einstudiert, entwickelt, geprobt hätten.

    Ja, ich nahm es zur Kenntnis (Roxy gehörte nie zum Soundtrack meines Lebens), und war froh, ihm in seinem Arbeitszimmer über die Schulter zu schauen, als er ein am DX-7 entwickeltes Stück für „The Shutov Assembly“ den letzten Schliff verpasste. Ein absolutes Lieblingsalbum. As time stands still. (m.e.)