5-10-15-20-27
„Tell me lies later, come and see me
I’ll be around for a while
I am lonely but you can free me
All in the way that you smile“
Diese musikalische „Erinnerungspoesie“ beginnt in einem Wohnzimmer am Weissdornweg 9 in Dortmund im Jahre 1960, und endet im Marquee Club in London im Dezember 1982. Anders als bei Olafs Reise, gibt es hier keine Fortsetzungen. Und, Überraschung, es gibt ein kleines Rätsel: wer als erster in den Kommentaren den Künstler des weiter unten, vor dem Nachklang, platzierten Musikstückes errät, erhält ein im September erscheinendes Album als Cd frei Haus geliefert. Und als Download, ein Stück ais Byard Lancasters 1974er Album „Us“.
1960
Mit fünf Jahren ist das Leben noch in Ordnung. Meine Geburt war schwierig, und meine Traumata hielten sich, wenn es sie gab, in Grenzen. Aus irgendwelchen Gründen gab es für mich keinen Kindergarten, also sass ich morgens lange alleine auf einem roten Kissen neben dem Kohleofen und hörte leidenschaftlich gern Musik aus einem alten Radio mit grünem Auge. Grosse Freude: es gab Schlager, in denen ferne Welten vorkamen, Italien etwa, oder Mexiko. Ich mochte das Gebläse vom Kurt Edelhagen Orchester nicht sonderlich, und spielte damals Musikkrtiker.
1965
Die Welt änderte sich drastisch, als ich meine erste Single kaufte: Rock‘n‘Roll Music von den Beatles. John Lennon sang einen Song von Chuck Berry, und ich war verloren. Es folgten in jener Zeit, als jeder Tag eine Reise war, ich einem Blutsbruder fand, meinen BVB, und ich mich nacheinander in Frau Funke (Dortmund-Körne), Frau Sonnabend (Haus Westfalen, Langeoog), Margarete Scheibelhut und Jutta Kortmann (beide Mitschülerinnen in der Brüder Grimm Volksschule) verliebte, noch lange vor dem ersten Sex, die anderen ersten Male: ich hörte „You Really Got Me“, und es fuhr mir durch alle Sinne, ich hörte „All Day And All Of The Night“, und die Welt drehte sich doppelt. Ich hörte abends auf Radio Luxemburg das allererste Mal „Mr. Pleasant“ von den Kinks, kam aus meiner Begeisterung über Tage nicht heraus, und verschlang in der „Bravo“ alle Stories über die beste Band der Welt. In dem Sommer, in dem „Sgt. Pepper‘s Lonely Hearts Club Band“ erschien, hörte ich das Album in den grossen Ferien jeden Morgen zweimal hintereinander, mit einem vollen Teller Honig Pops.
1970
Ich bin 15 und so langsam geht es auf das Abitur zu, das sog. Erwachsenwerden. Ich entwickle mich zum Spezialisten für romantisch-unglückliches Verliebtsein und finde das erste Mädel für immer, als auf dem Plattenspieler einer Kellerparty mit bunten Lichtern „Lady D‘Arbanville“ vom Cat Stevens läuft. Sie ist mit einem Postboten verlobt, und ich beschliesse das zu ändern. Als ich einmal sturmfreie Bude habe, hören wir Iron Butterflys „In A Gada Da Vida“ mit voller Dröhnung. Ich gebe alles, aber mir fehlt „experience“. Zwei Wochen später serviert sie mich ab, mit einem nüchternen Brief aus Besancon, ich versinke in einer Hollywoodschaukel und lese „Vom Winde verweht“. Dann geht es Schlag auf Schlag: ein Freund bringt mich auf das Doppelalbum „Third“ von Soft Machine, und es wird zum Dauerbrenner auf meinem Plattenspieler. Wie ein Verrückter höre ich Robert Wyatts „Moon In June“, aber auch die anderen drei Seiten voller wildem Rock-Jazz-Gebrause. Ich bekomme die ersten ECM-Platten meines Lebens: „Ruta and Daitya“, „Sart“, „Bremen-Lausanne“. Da taucht auf der Rückseite stets der Vermerk auf „produced by Manfred Eicher“. Es betreten die Bühme meines Teenagerdaseins: der Free Jazz von John Coltrane, der „elektrische Miles“, und die Fernsehserie mit den Monkees. Ich war noch dreiviertelwegs Kind, als mir zu Weihnachten „Blue“ von Joni Mitchell in die Hände fiel. Musik kann nicht tiefer gehen. Preparations for life. Guten Sex habe ich nur mit Emma Peel, und es gefällt mir, wie sie mich auf den Rücken wirft und mir Fesseln anlegt. Mein Name ist Surrender. 1971 oder so, auf einer Ferienreise, sehe ich Neil Youngs „After The Goldrush“ in einem Plattenladen in Paigntn, und kann einen Tag später „Tell Me Why“ mitsingen.
1975 / 1976
Ein regnerischer Herbsttag, ich gehe von meinem Studentenwohnheim, wo ich mit David Webster im Winter davor jeden Abend dem weissen Album der Beatles gelauscht hatte, (andächtig), zu einem Würzburger Plattenladen, und hole meine Bestellung ab. Auf Mikal Gilmore im Downbeat ist Verlass, ein Seelenverwandter. Ich transportiere das Album in einer Tüte durch strömenden Regen: im Zimmer 513 wartet die schönste Frau Gelsenkrichens auf mich. Ich bin im siebten Himmel, und in den ersten Sekunden des ersten Liedes, „Burning Airlines Give You So Much More“, gesellt sich der achte Himmel dazu. Das ist der Anfang meiner Geschichte mit Brian Eno, und „Taking Tiger Mountain (By Strategy)“ gehört alsbald zu den drei Platten „on endless repeat“, die unsere Liebe „soundtracken“, neben Eberhard Webers „Yellow Fields“ und Bob Dylans „Desire“.
1980 / 1982
Meine Würzburger Studentenjahre enden in vielen Betten, und im John Lilly-Wassertank, so nenne ich meine Badewanne in der WG. Ich bin ganz allein und bekomme ein Päckchen aus London: „Possible Music“ vin Jon Hassell mit Brian Eno, sowie „The Plateaux Of Mirror“, von Harold Budd und Brian Eno. Hohe Dosierung. Ich gerate in einen Zustand tiefer Versenkung und schaffe es gerade noch, meinen Wassertank vollaufen zu lassen. Die kommenden vier Stunden verbringe ich darin, lasse immer warmes H2O nachlaufen und schwebe davon. Das Leben ist ein Traum. Ich trete meine erste Stelle als Psychologe an in der Fachklinik Furth im Wald für Alkohol- und Medikamentenabhängige. Für ein Kind des Kohlenpotts ist die Welt von Bergeinöden, Grasfilzing und Arnschwang eine bizarre exotische Welt, leergefegt von allen Träumen des Exotischen. Meine grosse Liebesgeschichte mit C. ist Vergangenheit, aber es ist nicht so, dass es nicht noch eine Steigerung gibt in Sachen Rausch und Melancholie. BANG BANG BLUE. Mein „survival kit“ besteht einzig und allein aus meiner Plattensammlung, mit der ich mich am Ende der Welt einrichte. Regelmässig trudeln Pakete von „jazz by post“ ein. ECM, Eno, die Talking Heads, der Zündfunk. Als der Vorhang im Nördlichen Bayerischen Wald fällt, 212 Romanseiten später, folge ich dem Rat eines Kollegen, und fliege um die Weihnachtszeit nach London, lebe in einem Hotel in Hampstead, hören John Peel und stromere stundenlang durch die Heide von Hampstead Heath. An einem Abend bin ich Im Marquee Club in Soho, um Jah Wobble and The Invaders Of The Heart zu erleben. An dem Abend geht mein Leben zuende, und es fängt gerade erst richtig an.
1973-1982 (1985)
Nachklang: Auf einen Blick, meine unvergesslichsten Konzerte aus diesen Jahren, ohne Rangordnung, alles Initiationen, die Ohren gross wie Scheunentore. Jah Wobble (London, 1982) / Byard Lancaster Trio w/ Steve McCall (Paris, 1974) / Dave Pike Set w/ Volker Kriegel & Eberhard Weber (Dortmund, 1971) / Keith Jarrett Quartet w/ Dewey Redman, Charles Haden, Paul Motian (Nürnberg, 1976) / Julie Tippetts with Ovary Lodge (Moers 1975) / Frank Lowe Group (Moers, 1974) / Jan Garbarek-Bobo Stenson Quartet (Münster 1974) / Brötzmann – Van Hove – Bennink (Würzburg, 1975) Oregon (Münster 1974) / Neil Young w/ Crazy Horse (Nürnberg, 1982) / King Crimson (Nürnberg, 1982) / Gary Burton Quintet w/ Eberhard Weber und Pat Metheny (Aschaffenburg, 1976) / Anthony Braxton Quintet (Dortmund, 1980) / Zbginew Namyslowski Group (Würzburg, 1974) / und ein Nachzügler: Leonard Cohen (Gruga Halle, Essen, 1985, an meinem 30. Geburtstag)
13 Kommentare
Olaf Westfeld
Klang im Klang…
mindestens ich würde sehr gerne eine Fortsetzung lesen – second season!
Michael Engelbrecht
Klang im Klang, ein schönes Bild dafür, wie man ein Leben in Musik erzählen kann…😅 dein post von vorgestern beginnt mit dem 30. Geburtstag, und meine Story endet damit, wenn man den Nachklang dazurechnet.
Nein, keine Fortsetzung. Dafür hört diese Story ja mit einem Knall auf🥁 (wenn man den Nachklang nicht dazuzählt)
1989 wurde meine Musik ein öffentlicher Raum. Und alles wurde geprägt in diesen frühen Jahren.
Olaf Westfeld
Ich finde, das Ende ist nen perfekter Cliffhanger …😉
Michael Engelbrecht
Ach, du meine Güte, ich bekam gerade eine Email, die vorsichtig besorgt fragte, ob ich im Dezember 1982 einen Suizidversuch unternommen habe. Nein, nein, andere Sachen…. ich hatte damals zwar Werther’schen Liebeskummer, aber in solchen Fällen zum bessere Lösungen parat als Goethes Protagonist.
… und so eine Story lebt eben in erster Linie von Auslassungen. Ich habe an dem Abend, passend für das alte Soho, nach sexual healing gesucht, und eine extrem verwirrende wie verwandelnde Erfahrung gemacht.
Michael Engelbrecht
So viel zum Cliffhanger🪂
Martina Weber
Von wem ist denn nun das Musikstück, das du vor dem Nachklang eingefügt hast? Oder wird das auch ein Cliffhanger? 😉
Michael Engelbrecht
No cliffhanger
S. anfang: Und, Überraschung, es gibt ein kleines Rätsel: wer als erster in den Kommentaren den Künstler des weiter unten, vor dem Nachklang, platzierten Musikstückes errät, erhält ein im September erscheinendes Album als Cd frei Haus geliefert. Und als Download, ein Stück ais Byard Lancasters 1974er Album „Us“.
Lorenz
Sam Gendel?
Michael Engelbrecht
Nope.
Michael
Es stammt von einer demnächst erscheinenden Platte von Thurd Man Records.
Olaf hat es gefunden 🌈
Olaf Westfeld
With a little help from shazam.
Olaf (Ost)
Bin schon sehr gespannt auf das Ganze. Aber man kann ja in dem großen Oevre schon mal querhören.
S reinste Namedropping. Au backe.
Michael Engelbrecht
@ Olaf Ost: meine „Serie“ endet 1982. 😅 der Rest ist zu bekannt.