„Alte Hasen“ stellen grosse Jazzalben der 2020er Jahre vor (1) – „Call On The Old Wise“ (2023)

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Wieder mal gab das Label ECM vor ziemlich genau zwei Jahren einem Pianisten Raum, dessen Solospiel sich vom Gros seiner Kolleginnen und Kollegen abhebt. Anders als die meisten improvisierenden Pianisten orientiert sich der 35-jährige Israeli Nitai Hershkovits auf „Call On The Old Wise“ nur zu einem geringen Anteil an der amerikanischen, auf Blues, Swing und Musicals basierenden Traditionslinie. Wesentlich stärker lässt er sich von den europäischen Romantikern und jüngeren Komponisten der „klassisch“ genannten Musiksparte sowie von Film- und Evergreenkomponisten inspirieren. Oder, in seinen eigenen Worten:

„Es ist, als spiele ich mit mehreren Musikperioden gleichzeitig, aber in einer Art Augmented-Reality-Umgebung … Für mich ist das Album wie eine Reise, bei der man von einem Augenblick auf den anderen mehrere unterschiedliche Erfahrungen macht.“

Mit dem Titel „Call On The Old Wise“ meint er nicht die große Riege der Komponisten, sondern seine einstige Klavierlehrerin Suzan Cohen, der er einen Dialog aus Wellenbewegungen und Melodiespritzern widmet. Ein elegisches „Enough To Say I Will“ und die sanften „Mode Antigone“ und „Of Trust and Remorse“ folgen.

Wer jetzt noch glaubt, Hershkovits Temperament würde irgendwann noch explodieren, täuscht sich: Er bleibt bei langsamen Tempi, lässt sich zwischendurch auch – wie in „Majestic Steps Glow Far“ – auf Kinderlied-einfache Melodien ein und bleibt beim Zarten, Weichen. Selbst der Blues „River Wash Me“ wirkt durch das feingliedrige Spiel mit der Dynamik hell und schwebend.

Neben 16 Eigenkompositionen umfasst die Einspielung auch zwei fremde Werke: Das verträumte „Dream Your Dreams“ von Molly Drake und ein die Blütenblätter einzeln auffächerndes „Single Petal Of A Rose“, das auch Duke Ellington als zurückhaltende, differenzierte Ballade aufgeführt hat. Mit dem auf einer hüpfenden Figur beruhenden „Of Mentorship“ und das erneut Wellenbewegungen mit einer rhythmisch akzentuierten Melodie verknüpfende „For Suzan“ erweist er seiner Klavierlehrerin noch zweimal die Referenz. Sie hat es verdient.

Werner Stiefele

(Wer Nitai Hershkovits live erleben möchte, kann dies im Musikbunker Aachen am 23. November – wer sich auf die Reise machen möchte, melde sich bei mir.)

3 Kommentare

  • flowworker

    Aus einer Email von RS

    „Ich habe mich sehr gefreut, dass Du bei Nitai Hershkovits an mich gedacht hast. Wirklich grossartiges Album.

    Gestern Abend hat hier in Bad Homburg ein wirklich guter Pianist im traditionellen New Orleans Stil aufgespielt, .Erfrischend und belebend, technisch brillant.

    Dein Foto von Sylt könnte als Cover für eine ECM-Hülle Verwendung finden!

    Von Anouar Brahem habe ich übrigens mehrere CDs, die fast alle Trance-induzierend wirken. Ich mag sie alle.

  • flowworker

    My revisited list of my favourite 18 albums of 2023, with Nitai:

    01. P.J. Harvey: I Inside The Old Year Dying
    02. Fire! Orchestra: Echoes
    03. Natural Information Society: Since Time Is Gravity
    04. Mette Henriette: Drifting
    05. The Necks: Travel
    06. Nitai Hershkovits: Call On The Old Wise
    07. Palle Mikkelborg / Jakob Bro / Marilyn Mazur: Strands
    08. Jan Bang / Eivind Aarset: Two Last Inches Of Sky
    09. Roger Eno: The Skies, They Shift Like Chords
    10. Lankum: False Lankum
    11. Alabaster DePlume: Come With Fierce Grace
    12. Craven Faults: Standers
    13. Blur: The Ballad Of Darren
    14. Thandi Ntuli with Carlos Nita: Rainbow Revisited
    15. Paul St. Hilaire: Tikiman Vol. 1
    16. Rickie Lee Jones: Pieces Of Treasure
    17. The Gurdjieff Ensemble: Zartir
    18. Arooj Aftab / Vijay Iyer / Shahzad Ismaly: Love In Exile

    (m.e.)

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