Psychoakustika (2) – für Rosato
Ich war ja fast noch ein Kind, vielleicht 15, 16, höchstens 17, und rührte mich nicht vom Fleck. Ich sehe das Zimmer im Notweg 11 noch vor mir, das Holzmobiliar, die Couch, das alte Radio. Es dauerte lange, bis mir diese Minuten, in den ich regungslos verharrte und mich daran erinnern musste, das Atmen nicht zu vergessen, wieder in den Sinn kamen. Viele Jahre später las ich eine Geschichte von Brian Eno, die mich zum Nachdenken brachte.
Es war der Moment, in dem ihm die erste oder zweite Velvet Underground-Platte in die Hände fiel. Er hörte sie, und es haute ihn um. Man könnte auch sagen, er fiel in eine tiefe Trance. Diese ganz andere Sprache von Rockmusik. Diese Verweigerung der abgegrasten Themen, die Klangfarbe Schwarz. Was immer in seinem Kopf passierte beim Lauschen, es wären allenfalls einige interessante Gedanken herausgesprungen für sein Notizbuch – das Bedeutsame war die unmittelbare Wucht der Musik, etwas, das sich nicht auf ordentlich geschliffene Gedanken reduzieren lässt.
Wie er später erzählte, habe er absichtlich dieses Album nie wieder gehört, um die Wucht des ersten Erlebens nicht zu mindern. So, und nur so, konnten die dunklen Lieder sich ganz tief einnisten, wie der Moment einer Liebe auf den ersten Blick, der nicht durch Wiederholung, Nostalgie oder den Verlust von „Nach-Erzählungen“ und „Zurück-Holen“ geschmählert wird.
Und so erging es mir, als ich aus Versehen an einem Sonntag mitten im Sommer (wie kann man sowas Beiläufiges erinnern?) ein Radioprogramm mit Neuer Klassischer Musik hörte (WDR 3), mittendrin von einem Musikstück kalt erwischt wurde, von einem Komponisten, den ich nie zuvor gehört hatte. Ich war Kinks- und Beatlesfan, ich liebte alle vier Seiten von Soft Machines „Third“, und vielleicht hatte ich schon ein paar frühe ECM-Platten. Mit fehlte alles Vorwissen, als ich mitten in Steve Reichs „Drumming“ versetzt wurde. Ich war fast noch ein Kind, meine Ohren waren in diese 15, 20 Minuten gross wie Scheunentore – and „Drumming“ put a spell on me!

Weder besorgte ich mir den Tonträger, noch machte ich mich schlau, was das denn nun für eine Musik war. Viele Jahre später traf ich Steve Reich zum Interview, „Music for 18 Musicians“ hatte uns alle begeistert, und wir „music lovers“ erfuhren bald, was es, an den Oberflächen, am modus operandi, an den musikästhetischen Hintergründen, mit „Drumming“ und Artverwandten auf sich hatte. Aber wie Brian bei den Velvets, scheute ich mich davor, irgendwann die CD aufzulegen, die immer noch irgendwo im Archiv rumliegt. Nie wieder könnte mich die Musik so kalt erwischen!
5 Kommentare
Michael Engelbrecht
Walter Bachauer und Steve Reich (1)
Walter Bachauer und Steve Reich (2)
Eine alte „Studiozeit“ im Deutschlandfunk
Steve Reichs „Conversations“
Alte Beiträge von Rosato und Jan Reetze! Durch all diese Texte bin ich natürlich ermuntert worden, das eine und andere alte Werk bald mal wieder auszugraben. Und ich werde „Drumming“ zum ersten Mal seit damals in voller Lönge – und im Dunklen – hören! 🎡
Alex
Ganz großes Stück Musik, das Wort mesmerisierend muss dafür erfunden worden sein.
Jan Reetze
Eines dieser wirklich unvergesslichen Konzerte: Steve Reich & Musicians, „Drumming“ live in der Hamburger Staatsoper.
Am naechsten Mittag war in Hamburg die DGG-Box mit dem Stueck in allen Plattenlaeden vergriffen. Es dauerte ungefaehr drei Wochen, bis sie wieder lieferbar war.
Olaf Westfeld
Spannend – wäre interessiert zu erfahren, wie Du das jetzt hörst,
Jan Reetze
@ Olaf: Ich habe das Stück schon lange nicht mehr gehört. Die unglaublich dichte Atmosphäre, die beim Konzert entstand (das übrigens wohl um 1985 stattgefunden haben müsste; seltsamerweise findet man im Web kaum Auftrittsdaten von Steve Reich vor 2000, und ich bin jetzt zu faul, meine alten Terminkalender auszugraben), die kann die Platte nicht wiedergeben und lässt sie auch nicht entstehen.
Die damals einzig erhältliche DGG-Aufnahme ging über vier LP-Seiten, und man musste die Platte immer dann umdrehen bzw. wechseln, wenn gerade ein Übergang zwischen den Instrumentengruppen stattfand — das ist störend, denn diese Augenblicke gehören zu den spannendsten Momenten. Für mich war „Drumming“ der Beginn einer faszinierenden Entdeckungsreise (die nächste Station war dann die „Music for 18 Musicians“, über die Hüsch mal sagte, sie sei für ihn so etwas wie ein Kirchgang), und ich bin noch heute neugierig, was Reich so treibt. Ich kannte bis dahin im „Mnimal Music“-Bereich nur Terry Rileys „A Rainbow in Curved Air“, das ich erstmals (auch völlig zufällig) in einer Kirche gehört habe, nämlich im Hamburger Michel, wo zwei Organisten mit dem Stück herumimprovisierten (der Michel hat drei Orgeln) und die ich mir dann als LP gekauft habe. Die liebe ich heute noch. Und dann kam irgendwann „Einstein on the Beach“, wieder ein neues Kapitel.
Die oben abgebildete Nonesuch-Aufnahme ist kürzer als die DGG-Version und etwas dynamischer im Klang. Klar, sie überrascht natürlich nicht mehr, aber wenn man sie nicht zu oft hört, dann hat sie noch immer nichts von ihrer hypnotischen Kraft verloren.