Eine andere Wetterscheide

Mir ist klar, warum ich EIGENTLICH keine Liste meiner Alben der Siebziger machen kann, es wären dreihundert Langspielplatten. Und wie viele von ihnen enthielten lessons of life and love, die widerständig blieben, egal, welche Narrheiten über einen kamen. Das war die beste Sozialisation, oder, um es in einer alten Sprache auszudrücken, die beste Schule des Herzens. Und das Herz schlägt links, bingo! Was sonst wählen am kommenden Sonntag ausser Grün, Die Linken, oder SPD. Ich verachte die Leute, die aus eigenem Frust den Gang zur Wahl verweigern und somit die neuen Nazis stärken.

Und, jaja, es ist alles andere als purer Eskapismus, in meinem Plattenregal in einem lang vergangenen Jahrzehnt zu stöbern, und eines dieser ewigen, erschütternden, herzschmelzenden, melodietrunkenen, geschichtsbewussten, umwerfenden Songalben jener wilden Dekade aufzulegen (ich nenne es spasseshalber die Nummer 12 meiner Top 300), zum wievielten hundertsten Male eigentlich!? Da wird auch der Geist von Versailles gestreift, jene Konferenz der Mächtigen, die den Boden mitbereitete für die Schrecken, die dann noch kamen. „Paris 1919“ heisst das unfassbare, unerschöpfliche Album, das erstmal daherkommt wie eine Soft Rock-Platte unserer besten Jahre (kein böses Wort gegen den Zauber von Al Stewarts „Year Of The Cat“, my number 301), und dann, mit der Zeit, alle möglichen Geister und Gespenster zum Tanz bittet. Es ist mir eine dunkle Freude, in diesen Tagen Mark Doyles brandneues Buch über John Cales „Paris 1919“ zu lesen. Hier folge ich den Wegen von John Cales Kindheit in Wales, hin zu seinen Jahren in New York und Los Angeles. Mark Doyle hat zum Glück keine track-to-track analysis im Sinn, denn er kennt das Phänomen, dass bestimmte Alben einen ein Leben lang begleiten, und nicht aufhören, zu überraschen. Fragt mal Jan Reetze!

Und jetzt mache ich doch eine Liste.
My 100 most beloved albums in the 70‘s.

10 Kommentare

  • flowworker

    Und wenn eine Liste der 70’s (ich widerspreche mir gerne), dann folgende: das, was jetzt kommt, sind die Platten der 70’s, die, als sie rauskamen, in den 70‘s, mich ohne Unterlass verzaubert haben. Was dabei auffält: es sind auch und zum Glück Platten dabei, denen später keine Denkmäler errichtet wurden. Hier geht es ja nicht um playing smart ass. Und all DIESE Platten sind unvergesslich, weil sie gleichzeitig Körper, Seele und Geist erreichten, sie brannten sich ein, sie leben noch immer. They sing my body electric. Kein ranking, dear friends. Das hier ist so‘n Bewusstseinsstromding😉🪘

    The Human Arts Ensemble: Under The Sun
    Soft Machine: Third
    Terje Rypdal: Odyssey
    Bo Hansson: Lord of the rings
    Bob Dylan: Desire
    Terje Rypdal: What Comes After
    Don Sugarcane Harris: Fiddler on the rock
    Chris Hinze: Mission Suite
    Leonard Cohen: Songs of Love and Hate
    Joni Mitchell: Blue

    Miles Davis: Live At Fillmore East
    Neil Young: After The Goldrush
    Neil Young: Tonight’s The Night
    Neil Young: On The Beach
    John Cale: Paris 1919
    Brian Eno: Taking Tiger Mountain (By Strategy)
    Jacques Brel: Das letzte Album
    Brian Eno: Discreet Music
    Keith Jarrett / Jack DeJohnette: Ruta and Daitya
    Brian Eno: Another Green World

    Keith Jarrett: Bremen / Lausanne
    Keith Jarrett: Belonging
    Byard Lancaster: Us
    Brian Eno: Music For Airports
    Jan Garbarek: Sart
    Volker Kriegel: The Missing Link
    Brian Eno: Before and After Science
    Paul Bley: Open, to love
    Keith Jarrett: The Survivors Suite
    Jan Garbarek: Witchi-Tai-To

    jan Garbarek: Dansere
    Dave Holland: Conference of the birds
    Anthoyn Braxton: New York, Fall 1976
    Leonard Cohen: New skin for the old ceremony
    Oregon: Distant Hills
    Ralph Towner: Diary
    Ralph Towner: Solstice
    Van Morrison: Veedon Fleece
    Weather Report: Mysterious Traveler
    Chick Corea: Return To Forever

    Wire: Chairs Missing
    Wire: 154
    The Allman Bros Band: Live at the Fillmore East
    Eberhard Weber: The Colours of Chloe
    Eberhard Weber: Yellow Fields
    Brian Eno: Music For Films
    Eberhard Weber: The Following Morning
    Joni Mitchell: Hejira
    Keith Jarrett: Fort Yawuh
    Keith Jarrett / Jan Garbarek: Luminessence

    Bennie Maupin: The Jewel In The Lotus
    Julian Priester: Love, Love
    Joe Henderson: The Elements
    Don Cherry: Brown Rice
    Can: Tago Mago
    Marion Brown: Geechee Recollections
    Robert Wyatt: Rock Bottom
    Metedith Monk: Dolmen Music
    Steve Reich: Music For 18 Musicians
    Robert Wyatt: Ruth is stranger than Richard

    Neil Young: Comes A Time
    Kraftwerk: Mensch-Maschine
    Marion Brown: Sweet Earth Flying
    Marion Brown: Vistas
    Egberto Gismonti: Danca des Cabecas
    Dire Straits: Dire Straits
    Terje Rypdal: Whenever I Seem To Be Far Away
    Robert Fripp: Exposure
    Neil Young: Zuma
    Gavin Bryars: The Sinking of the Titanic

    Penguin Cafe Orchestra: Music From The Penguin Cafe
    Harold Budd: The Pavillion of Dreams (aber nur Seite 1)
    Paul Bley: Alone, Again
    Television: Marquee Moon
    David Bowie: Low
    Cluster & Eno
    Eno / Moebius / Roedelius: After The Heat
    Michael Rother: Flammende Herzen
    Jan Garbarek / Arild Andersen / Edvard Vesala: Triptykon
    Edward Vesala: Nan Madol

    John Martyn: Solid Air
    Talking Heads: More songs about buildings and food
    Talking Heads: Fear of Music
    Caravan: If I Could Do It All Over You…
    Jethro Tull: Thick As A Brick
    The Residents: Eskimo
    Dollar Brand: Good News from Africa
    Keith Jarrett: Sun Bear Concerts
    Art Lande / Jan Garbarek: Red Lanta
    Mahavishnu Orchestra: Birds Of Fire

    Chick Corea: Paris Concert
    Sam Rivers: Streams
    Codona: Codona (1979)
    Carla Bley: Tropic Appetites
    Julie Tippetts: Sunset Glow
    Paul Motian: Dance
    Holger Czukay: Ode To The Peak Of Normal
    Jackson Browne: Too Late For The Sky
    Peter Rühmkorf: Kein Apolloprogramm für Lyrik
    100: Miles Davis: Jack Johnson

    Bloody 70 + / – personal all time favourites of mine. Of course, there are albums i fell in love with later, like the stuff of King Crimson or Van Morrison’s Astral Weeks. But THESE lifers were most of those who came like a hurricane in those old days.. The desert island albums I forgot NOW, they will soundtrack me in the nights to come. Wie zum Beispiel die posthum in den 70‘s rausgekommenen Alben Live In Japan und Interstellar Space von John Coltrane oder Exodus von Bob Marley. Oder Seite 1 von Evening Star von Fripp & Eno. Oder Seite 1 von Arbour Zena von Keith Jarrett. Sicher meine meistgespielte Reggaeplatte on jenem wilden Jahrzehnt. (Die 100 mache ich noch voll.) Ähem, und zu den Spielregeln gehört, dass nur die Alben genannt sind, die mich im Sturm nahmen. So ein Album woe Alice Coltranes Journey in Satchidananda entdeckte ich mit der nötigen Ruhe erst viel später. Und viele Reggaewunderplatten brauchte auch, distributionstechnisch, ihre Zeit, bei mir zu landen wie etw das 12 Sterne Album LOVE AND PEACE von Dadawah.

  • flowworker

    Eine der berühmten „Japan-Pressungen“ wahrscheinlich. Mit dem Meister am Piano, also Paul Bley. Und Steve McCall wohl auch. Den Sound fand ich immer etwas verhangen, aber wer weiss, wie ein Remaster klingt!?

    Vista ist oberflächlich gehört, so was wie Easy Listening, aber ich liebe es. Mit einem Touch von Stevie Wonder, und eine Komposition von Harold Budd. Danke, Norbert, da fallen mir doch gleich zwei weitere Hammerplatten für meine HundertList ein😉

  • Norbert Ennen

    Lass mich raten: Eine von beiden ist The Pavilion of Dreams. NEU! Übrigens wurde erst später wirklich entdeckt von mir. Flammende Herzen waren Seelenbalsam. Tiefer Impact, muss sofort rein in die Liste, obwohl auf Zeit gesehen, NEU! den grösseren Zauber besitzt…

  • Jan Reetze

    Da warst Du schneller als ich. Das Cale-Buch ist auf dem Postweg, aber ich habe es noch nicht. Morgen ist Presidents Day, da gibt es keine Post, also frühestens Dienstag. Immerhin Zeit genug, sich noch die DeLuxe-Version von Paris 1919 anzuhören.

    Deine Liste enthält ja fast alles, was in den Siebzigern überhaupt von Belang war. Ich wäre nicht in der Lage, das so aufzulisten — schon deshalb nicht, weil es mir beim Wiederhören so relativ alter Platten oft so geht, dass ich sie besser erinnere als sie heute tatsächlich noch sind. Aber es sind schon Schätzchen dabei … Gary Burton würde ich vermissen, einiges von Mr. Oldfield, Miles‘ Bitches Brew (oder war die schon vor 1970?), Van der Graaf Generator, Gong, The United States Of America, und noch so einiges …

    Und ja, wählen gehen. Muss von mir aus nicht links sein, Mitte ist auch okay, aber hingehen — is wichtich. Noch darf ich ja. Allerdings hat das Wahlamt in Hamburg mitgeteilt, dass die Briefwahlunterlagen erst ab dem 10. Februar versandt worden sind, ich bin gespannt, ob sie wohl noch so rechtzeitig hier ankommen, dass mein Wahlzettel es noch rechtzeitig bis zur Wahl in Deutschland schafft. Wenn nicht, könnte es Ärger geben, weil sich dann mit Sicherheit viele im Ausland lebende Deutsche um ihr Stimmrecht geprellt fühlen würden. Deutsche Bürokratie, ich liebe sie.

  • flowworker

    @ Jan, in zwei Teilen, erst das Private, dann das Politische:

    DAS PRIVATE

    Das sollte worklich keine guckmalwiecoolichwar Liste sein. Ich habe zwar all diese Platten als hoffentlich positiv Musikverrückter in dem Siebzigern entdeckt, aber nicht immer zur Verpffentlichung😅

    John Cales Paris 1919 erschien in meinem Abiturjahr 1973, und zu mir kam es wohl so um 1977 herum. And some ofthe records listed, they rest in peace meaning i rarely still listen to them, but they linger in warm memories…

    Die Luste hat mit heute schwere Einschlafproblem bereitet, mein Unbewusstes schien die 100er voll machen zu wollen…. also tröpfelten dann noch ein paar ins Bewusstsein, mnachmal musste ich gestern gucken, schon Siebziger oder noch Sechziger wie bei AQUALUNG, noch Siebziger oder schon Achtziger wie bei MELT.

    But such „hard work“ deserves an extra post!!

    Honestly, this list was my soulfood in the 70’s, and, with a smile and the time travel department in my mind I can say, i nearly replayed half of my teenager years and half of my twens in 34 years of Klangjorizonte 😉

    A propos Mark Doyle’s book: before I did not fell in sleep, i rushed through the first long years about Cale’s life in NYC and Los Angeles. I was stunned, i was blown away, the amount of great little stories, detail, profound reflection… this will probably be the favourite book of the 33 1/3 I read… please, let us both wrote a little review or deliver impressions…

    Maybe we wil disagree slightly or extremely, but that’s the fun of discourses.

    Ich kann gar nicht abwarten, doe tolle reissue von Domino 2024 aufzulegen heute, und habe mit heute, geflashz durch die Stories zur Beziehunh zwischen Nico und Cale fürhrtem dazu, dass ich mir sofort das Domino Remaster von tje Marble Index bestellt habe…. Es dauerte ungefähr bis in die frühen 80er, dass ich The Marble Index in mein Herz schloss…

    DAS POLITISCHE

    Klar, wie in dem alten Hüsch Lied würde ich mit allen demokratischen Parteien am runden Tisch sitzen können. Aber nicht mit den neuen Nazis und Demagogen.

    Ich bin doch auch dafür, als Gefährder Eingestufte auszuweisen, aber wenn du mit AfDlern darüber redest, kommt dann bei vielen gleich der faschistiche Zungenschlag ins Spiel. Die Story vom „gefährlichen Ausländer“. Und das volle Programm der Faktenverleugnung, vom Klimawandel bis sonstwohin. Da gibt es keinen echten runden Tisch, weil die Afd nicht auf Konsensfindung aus ist, sondern auf Machtergreifung.

    Wie Demokratier Schritt für Schritt ausgehebelt wird, kann man in den kommenden Jahren wohl gut beobachten. In der SZ war am Woxhenende ein langer guter Text zu diesem Thema, von Hilmar Klute: DER AUTOKRAT UND SEINE JÜNGER…

    HIER LESEN!

    Es geht los im Amiland, auf allen Ebenen…

    Vertreter einer der weltgrössten Machrichtenagenturen dürfen nicht mehr zu allen Veranstaltungen im Weissen Haus. Wenn man dem neuen Umgang mit Qualitätsmedien verfolgt, die nicht regierungstreue Trumpisten sind, kann einem schon schlecht werden. Ob da genug Gegenwehr stattfinden wird?!

    Eine schlechte Entscheidung von DER SPIEGEL, eine kritische Olaf Scholz Story aufs Titelbild zu bringen, statt als Coverstory knallhart mit den neuen Faschisten aufzumachen. Eine Woche vor der Wahl sollte man als Magazin mit politischer Verantwortung klüger agieren.

    Eine meiner geschätzten politischen Sendungen im ZDF: Die Heute Show. Unbedingt die letzte Folge gucken😉

    Ich hoffe, deine Unterlagen werden rechtzeitig kommen.

    Das Private und das Politische

    Wenn die beiden eins werden könnten, das wäre das Ende der Sehnsucht, schrieb Peter Handke einmal. Das ist, wenn man länger drüber nachdenkt, nicht soooo sinnstiftend. Ich hole meine Lieblingsplatte von Peter Rühmkorf heraus, Kein Apolloprogramm für Lyrik, mit Naura und Weber. Ein ganz tolles Teil, und meine Nummer 99 in meinen ungerankten Top 100😉🌠

  • Michael Engelbrecht

    Und nochmal, weil mir das wichtig ist, eine Einladung, den Artikel DER AUTOKRAT UND SEINE JÜNGER aus der SZ zu lesen:

    Der ganze Text:

    Wenn es eine griffige Wendung gibt, die zeigt, wie verführerisch die Magie des unerbittlichen Machtanspruchs ist, dann ist es diese: vom ersten Tag an. Es liegt eine alttestamentarische Wucht darin, zu sagen, vom ersten Tag an wird Amerika in das Goldene Zeitalter eintreten. Vom ersten Tag an werden jene, die den Sturm auf das Kapitol juristisch verfolgt haben, gefeuert. Vom ersten Tag an werden Menschen, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben, in ihre Herkunftsländer abgeschoben. Es wurde Abend, es wurde Morgen: der erste Tag. Und Gott sah, dass es gut war. Good Job.

    Friedrich Merz, der immer etwas hilflos dem Eindruck entgegentreten möchte, von Trump fasziniert zu sein, leitete mit dieser Formel seinen tragischen Coup im Deutschen Bundestag ein. Vom ersten Tag an werde er als Bundeskanzler ein faktisches Einreiseverbot verfügen. Es liegt einiges Unheil in dieser Formel, weil sie den Wunsch nach Kompromisslosigkeit in die Zukunft verlängert. Wer am ersten Tag Nägel mit Köpfen macht, wird in den folgenden Tagen, Wochen und Jahren darin nicht nachlassen. Hätte Merz seinen Satz mit Wahrhaftigkeit unterlegen wollen, hätte er sagen müssen: Vom ersten Tag an werde ich versuchen, in der künftigen Koalition einen Asylkompromiss auszuhandeln, der den Zustrom bremst und zugleich mit deutschem und europäischem Recht in Einklang steht.

    Aber solche – zugegeben mühseligen – Feinheiten haben spätestens seit dem Amtsantritt von Donald Trump an Popularität verloren. Der Sturm, den der amerikanische Präsident über Organisationen, Ministerien und Universitäten toben lässt, will vor allem Sturm sein. Er soll ohne Rücksicht und Argumente alles abräumen, was der neuen Staatsidee zuwiderläuft. Mit der gleichen Methode will Trump jetzt auch den Krieg in der Ukraine beenden, in direkten Verhandlungen mit Putin, am besten im Schnellverfahren, während die Europäer frustriert am Spielfeldrand stehen.

    Der Krieg wiederum, den Donald Trump gegen sein eigenes Land entfesselt hat, ist auf den ersten Blick ein Krieg gegen seine Gegner und deren Agenda. Es ist aber auch ein Krieg gegen das, was die westlichen Gemeinschaften ausmacht: die Komplexität gesellschaftlicher Errungenschaften; die Ausdifferenzierung von Geschlechteridentitäten, von sozialen Gruppen und Ethnien; die selbstverständliche Akzeptanz gesundheitspolitischer Standards. Gegen jeden Anflug von Distinktion soll die harte Faust des Erretters stehen: Amerika wieder groß zu machen, bedeutet, alles kurz und klein zu schlagen, was nicht eindeutig und ohne jeden Zweifel diesem Zweck dienlich ist.

    Jedenfalls scheint die Gelegenheit für die großen Vereinfacher im Augenblick günstig zu sein. Die Amerikaner machen es gerade vor, wie man die Rigorosität als politischen Allzweckreiniger handhabt. Trump beabsichtigt mit seinen Dekreten, ihm feindlich erscheinende Weltanschauungen auszuradieren. Und er möchte zeigen, dass er jede noch so kleinste Abneigung gegen wen oder was auch immer sofort in Amtshandlung verwandeln kann. Das reicht von der Anweisung, künftig nur noch zwei Geschlechter anzuerkennen, bis hin zum Befehl, in der Gastronomie ausschließlich Strohhalme aus Plastik zu erlauben. Trumps Begründungen sind zynische Parodien auf die Kultur der Rechtfertigung von politischem Handeln: „Ich glaube nicht, dass Plastik einen Hai beim Essen beeinträchtigt.“ Was soll man darauf noch entgegnen? Außer dass man sich wünschte, Trump würde sich künftig nur noch mit Strohhalmen und Zahnstocherregelungen beschäftigen, damit der Schaden für die Welt überschaubar bleibt.

    Beinahe täglich kann man dabei zuschauen, wie sich mächtige Unternehmen vor Trump in den Staub werfen

    Von politischen Akteuren, die aus der Niedertracht politisches Kapital gewinnen, geht eine starke Faszination aus. In den USA ist sehr eindrucksvoll zu sehen, wie der quasi bedingungslose Machtanspruch Trumps und seiner Leute auch die – einstigen – Gegner auf die Knie wirft. Beinahe täglich kann man dabei zuschauen, wie sich mächtige Unternehmen vor dem neuen Präsidenten in den Staub werfen: Banken fahren ihre Klimaschutzprogramme herunter. Meta, die Muttergesellschaft von Facebook und Instagram, verzichtet künftig auf seinen Diversity-Vorsatz. CNN verbannt seinen trumpkritischen Reporter Jim Acosta auf einen späten, quotenschwachen Sendeplatz, woraufhin Acosta seine Kündigung einreicht. Auf der Internetseite der obersten Gesundheitsbehörde steht es unverblümt: „Die Website der CDC wird derzeit geändert, um den Executive Orders von Präsident Trump zu entsprechen.“ Die Liste ist unvollständig, denn Angst und vorauseilender Gehorsam sind in Amerika als Fortsetzungsgeschichte zu haben.

    Am Beispiel der amerikanischen Öffentlichkeit lässt sich dieser Tage sehr schön zeigen, dass autokratische Systeme ihre Kraft aus der freiwilligen Unterwerfung ihrer sämtlichen Organe beziehen. Das ist übrigens auch ein Weckruf für jene Optimisten, die immer davon reden, die Demokratie sei stark genug, ihren Feinden zu widerstehen. Die Stärke der Demokratie war immer ihre Kompromissfähigkeit, ihre Nachgiebigkeit und die von ihr ausgesprochene Einladung an alle, an ihr mitzutun. Diese Stärke scheint nunmehr ihre große, gefährliche Schwäche zu werden. Denn es tun seit geraumer Zeit auch diejenigen mit, die im Konsens und im Aushandeln von Kompromissen Teufelswerk sehen und ihr Ziel, das demokratische System fundamental zu verändern, scheinheilig als Politikwechsel deklarieren wollen.

    Die als Staatsräson obszön verkleidete Absicht, den Konsens über die demokratische Kultur aufzukündigen, ist auch in Deutschland längst in gefährlicher Machtnähe angekommen. Die kaltschnäuzige Alice Weidel, deren ökonomische Kompetenz kürzlich von Wirtschaftsfachleuten eindrucksvoll zerlegt worden ist, verengt das, was sie Politik nennt, auf eine simple Programmatik: Dem Land geht es nur besser, wenn alle, die ihm nicht von Geburt an zugehören, weggeschickt werden. Die kalte Lust, mit der Alice Weidel auf dem AfD-Parteitag das Wort Remigration geradezu gebetsartig in seine Silben zerlegt, zeigt, dass selbst die Unerbittlichsten von ihrer neuen, legitimierten Kühnheit überwältigt sind.

    Robert Habeck, der Kanzlerkandidat der Grünen, hat recht, wenn er sagt: „Weil wir auf einer höheren moralischen Ebene stehen, unterschätzen wir die Kraft autoritärer Systeme.“ Doch zugleich wollen wir nicht wahrhaben, wie diese Kraft auch auf diejenigen wirkt, die diesen Systemen ablehnend gegenüberstehen. Es entsteht ein Sog aus den rasch aufeinanderfolgenden Ungeheuerlichkeiten, und mit der Häufung wahnwitziger Ankündigungen und Direktiven wächst die Gewöhnung an das Abweichende.

    Warum nicht ein bisschen Elon Musk probieren?, fragt Christian Lindner mit dem Wagemut des Gescheiterten. Könnte uns nicht ein Hauch Milei guttun? Gerade in Europa wird ja viel über Überregulierung geätzt und gespottet – die Verkürzung von klimapolitischen Maßnahmen auf ihre grotesken Details macht sich immer gut als Heranwanzungstechnik an eine ohnehin schon dauerentrüstete Wählerschaft.

    Erst kürzlich noch machte sich Friedrich Merz über die Vorschrift lustig, dass Plastikverschlüsse mit den Flaschen verbunden sein müssten. Haha, da sieht man mal, wie bescheuert die in Brüssel sind! Das eigentliche Vorhaben, nämlich weniger weggeworfene schädliche Plastikverschlüsse in Pelikan-Hälsen, wird gar nicht erst zur Sprache gebracht. Aber vielleicht beeinträchtigt ein Plastikverschluss ja auch den Pelikan nicht beim Essen.

    Die Zerstörungskraft des Autokraten bringt Redaktionen an den Rand der Erschöpfung: Und wo bleibt die Einordnung?

    Es gehört zur Wahrheit dazu, dass die Lust an der entfesselten Zerstörungskraft von Autokraten auch die Redaktionen der Zeitungen, Sender und Internetportale ergreift. Jedem abwegigen Einfall, jeder abenteuerlichen Ankündigung von Donald Trump wird ein Nachrichtenwert zugeordnet. Selbst ein Gaukler mit jahrzehntelanger Jongleurserfahrung würde im Bällehagel niedergehen, wenn er sein Material derart unökonomisch handhabte. Zu viele Invektiven entgehen der journalistischen Einordnung. Dadurch entsteht ein nachrichtlicher Wildwuchs, bestes Rauschkraut für Populisten und Obskuranten. Als ein Reporter den gewählten Präsidenten fragte, ob er ausschließen könne, Grönland unter Umständen auch militärisch zu begegnen, und Trump mit „Nein“ antwortete, ging diese Nachricht als Mega-Alert durch die Welt. Würde man die Kühnheit wagen, kühl und trumpisch zu denken, müsste man fragen: Was soll er denn auf diese Frage antworten, ohne sein Portfolio als Trump aufzugeben? „Nein, machen Sie sich keine Sorgen, das kann ich wirklich ausschließen“? Wir haben die Sprache und die Attitüde der Unerbittlichen noch nicht ganz begriffen.

    Die Unerbittlichkeit ist eine enge Verwandte der Kompromisslosigkeit, die sich als Stärke ausgibt, in Wahrheit aber das Gegenteil ist. Sie ist auch mit der Rache verwandt, dem unwiderstehlichen Wunsch, es denen, die einem den Weg zu dieser Macht verbauen wollten, heimzuzahlen. Donald Trump hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass ein Großteil der Energie, die er auf seine zweite Amtszeit zu verwenden gedenkt, für die Verfolgung seiner Feinde vorgesehen ist.

    Die Lust an der systematischen Zerstörung der politischen und der administrativen Ordnung – in den USA kommt sie in Gestalt der Komödie daher. Der Milliardär Elon Musk, eine Art Anti-Robin-Hood, nimmt von den Armen, um den Reichen zu geben. Er hat die Hand auf alle Finanzströme des Landes gelegt und treibt Donald Trumps Gier nach Eroberung und Kolonisierung auf eine satirische Spitze. Trump möchte Grönland, den Panamakanal und Kanada eingemeinden. Musk möchte auch den Planeten Mars zu einer Art amerikanischen Bundesstaat machen. Das ist sozusagen die parodistische Fußnote zu Trump.

    Mit all diesen Plänen wollen Trump und seine mad men vor allem eines signalisieren: Mit uns geht es raus aus den behäbigen Gefilden von Vernunft, Übereinkunft und Berechenbarkeit. Den Auftrag des Wählers sehen sie in der maximalen Erfüllung der abgefahrenen Autoritäts- und Herrschaftsfantasien: Aus der in der amerikanischen Gesellschaft durchaus vorhandenen Abneigung gegen Latinos machen sie ein gigantisches Abschiebeprogramm. Den in den Staaten ohnehin schon immensen Mangel an Kenntnis und Bildung machen sie zum Programm beim Feldzug gegen Kulturinstitute und Hochschulen. Um die Verwirklichung all dieser Abrissfantasien auch personell zu spiegeln, werden statt mehr oder weniger klug abwägender Fachpolitiker psychisch auffällige Maniacs an die Spitze der Ministerien gestellt.

    Es sind exakt jene Gestalten, die das Establishment aus den administrativen Reihen verbannt hat – Komparsen aus Freakshows, Höllenpersonal. Ihre Aufgabe: Maß und Vernunft sollen demonstrativ verabschiedet werden. Ihre Botschaft: Nur ein komplett entfesselter Minister, ein von allen bisher gekannten Übereinkünften befreiter FBI-Chef kann den dunklen Traum von der unerbittlichen Heimzahlung erfüllen. Die US-Armee ist dafür da, die Friedenssicherung in der Welt zu garantieren?

    Und wenn Donald Trump zeigt, dass er nur kurz bei Putin durchklingeln muss, um nach den Papierstrohhalmen auch den Krieg in der Ukraine abzuschaffen, weiß die ohnehin schon fassungslose Weltöffentlichkeit: Was früher Politik war, wird künftig eine Art Overlord-Gameshow sein. Krieg und Frieden sind dann Begriffe aus der halblegalen Geschäftswelt.

    Möglich, dass die Monstrosität dieser neueren Machthaberei selbst die kühnsten Träume der wütendsten Trump-Wähler übersteigen wird.

    Die Verführung, niedrige Instinkte im hohen politischen Geschäft zur Entfaltung zu bringen, ist gewaltig, und Trump ist für deutsche Politiker wie Friedrich Merz und Markus Söder inzwischen ein mehr oder weniger heimliches Role Model. Jeder von ihnen nimmt sich von Trump, was er zur schrillen Neuauskleidung seiner abgenutzten Berufsbiografie benötigt: Merz die Verachtung für Kompromisse, die Diffamierung sozialer Gruppen (Paschas, zahnarztterminschnorrende Kriegsflüchtlinge, Kreuzberger, die angeblich nicht zu Deutschland gehören). Und Söder die ostentative Geschmacklosigkeit und den gehobenen Finger gegen jede Art von Distinktionskultur.

    Im Flugzeug wird ein Low-Carb-Essen angeboten? Söder postet ein Schnitzel, und im nächsten Video sieht man ihn einen Big Mac essen. Bei einem Besuch an der Grenze zu Österreich raunt er von „bösen Wanderern“ aus dem Ausland: der Griff in die schwarze Trickkiste des Obskurantentums und der düsteren, durch knabenhaften Filmkonsum angereicherten Metaphern – gute alte Trump-Schule.

    Ein entfesselter Politiker mag die Magie des Augenblicks auf seiner Seite haben. Wenn er freilich seine Rolle als Volksvertreter darin sieht, vor allem den Volkszorn zu vertreten, am besten noch gegen das Establishment, das er selbst repräsentiert, ist das Eis schon brüchig. Die Rigorosität politischer Absichtsbekundungen ist eine Einladung zur Denkfaulheit, bei der das Handeln dem Abwägen vorausgestellt wird.

    Das Maß ist voll, sagte Friedrich Merz. Er habe es mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren können, dass die Politik nach den Morden in Aschaffenburg nicht ins konkrete Handeln komme. Einen solchen Satz herauszuhauen, braucht es nicht viel. Der Verweis auf das eigene Gewissen macht sich immer gut. Aber zum Gewissen eines Politikers in der Demokratie gehört es nun einmal, das Gefühl hinter die Abwägung zu stellen und sehr gewissenhaft zu prüfen, ob eine politische Entscheidung Bestand in der Realität hat. Das Volksempfinden, die Stimmung und die zunehmende Neigung, Ungnade vor Recht ergehen zu lassen, kann nur die Handlungsvorlage von Demagogen und Populisten sein.

    Wer seine Hand nicht gegen die Demokratie erheben, sondern auf die Demokratie und ihre verletzliche und kostbare Gestalt legen möchte, sollte deshalb eines beherzigen: Das Maß ist nie voll, sondern muss immer wieder neu definiert und angelegt werden – gegen die Gier, die Dummheit und gegen die Maßlosigkeit. Jede neue Regierung sollte das tun. Am besten vom ersten Tag an.

    XXXXXXXXX

    P.S. good night, America! Wo, bittesehr, soll der Glaube an eine Wende herkommen? Die Amis, die Trump gewählt haben, wussten, WAS sie gewählt haben. (M.E.)

  • Jan Reetze

    @ Micha: Als Guckmalwiecoolichbin-Liste habe ich die Übersicht nicht aufgefasst. Nur sind 100 Platten aus zehn Jahren im Grunde schon keine Auswahl mehr, sondern eine Liste dessen, was man damals kennengelernt hat. Wenn ich die Aufgabe hätte, so eine Liste zusammenzustellen, fiele mir entweder gar nichts ein oder, je länger ich nachdächte, immer noch weitere.

    Das Cale-Buch ist auch heute noch nicht da, desgleichen die Wahlunterlagen. Ersteres werde ich verschmerzen können (es ist nun für morgen angekündigt), und letzteres: mal sehen. Es ist ja völlig klar, dass mein Stimmzettel nicht bis zum Wahltermin in Deutschland sein kann. Ich habe keine Vorstellung, wieviele stimmberechtigte Deutsche außerhalb Europas leben und ob deren Zahl ausreichen würde, die Wahl noch zu beeinflussen. Bei den Ergebnissen der großen Parteien ist es sicher nicht ausschlaggebend, aber wenn eine Partei (wie aktuell gerade die FDP) haarscharf unterhalb der 5-Prozent-Hürde entlangschrammt, dann können ein paar hundert Stimmen schon einen Unterschied machen. Von solchen Fragen wird es dann abhängen, wann das endgültige Wahlergebnis verkündet werden wird.

    Dass im übrigen die AfD keine Partei der Mitte ist, ist ja eh klar. Und dass man sie nicht wählen sollte, auch. Wenn allerdings Merz (unabhängig jetzt mal von dem kapitalen Bock, den er da neulich mit seiner Aktion geschossen hat) auf Demos bereits als Nazi bezeichnet wird, dann scheint mir da auch etwas verrutscht zu sein. Was man aber tun sollte: Man muss die AfD als Symptom ernstnehmen. Einfach ignorieren oder zur Hölle wünschen hilft nichts. Sie hat zwar meiner Ansicht nach keine Lösung für nichts, aber in den Augen vieler Wähler steht sie für etwas. Da müssen die bürgerlichen Parteien herausfinden, was das ist und ob das möglicherweise berechtigt ist.

    Nicht zu vergessen: Wir haben es mit einem internationalen Phänomen zu tun. Auch die Demokraten in den USA müssen irgendwie zur Kenntnis nehmen, dass die Wahl Trumps nicht nur darauf zurückgehen kann, dass die Bevölkerung bescheuert ist und man sich jetzt einfach beleidigt in den Schmollwinkel zurückziehen darf, sondern dass das ein Signal ist: Hallo, hier läuft etwas schief. Ihr macht etwas, das wir nicht wollen.

    Wahnisnning unbequem, das. Aber so funktioniert Demokratie. (Gegen einige der Anordnungen Trumps liegen inzwischen übrigens schon mehr als 20 Klagen vor. Immerhin also, ein bisschen tut sich schon.)

  • flowworker

    @Jan: schon eine Liste des PrivatErgreigendtsten, was idamals zu mir kam. Das andere war auch immens an yzahl hinzerliess aber nicht annähernd solchen Eindruck. Fela kannte och svhon, war damals nicht meins. Genauso. King Crimson, due ich erst mit DISCIPLINE wirklich lieben lernte… und dann eückwärts erkundete … wie etliches anderes. Es gab auch Grosses von FMP, abes es zündete nicht so, die Platten, wie die Konzerte von Brötzmann Van Hove Benning. SCHWARZWAHLDFAHRT käme bei mir auf 150. und so geht es weiter … schon eine private „Verdichtung“.

  • Michael Engelbrecht

    Ich habe meine Reiselektüre für Sylt gefunden, den Nachfolger von Arno Franks tollem „Seemann vom Siebener“. Und jetzt also „Ginsterburg“. Unglaublich gut findet Rezensent Bernhard Heckler (schreibt „Perlentaucher“) Arno Franks geschichtsträchtigen Roman, dem es gelingt, die historische Breitendimension und „Komplexität“ mit der Konkretion einzelner alltäglicher und berührender Momente zu verbinden. Auf drei sich abwechselnden Zeitebenen, 1935, 1940 und 1945, geht es um die fiktive deutsche Stadt Ginsterburg und verschiedene ihrer Bewohner: um Lothar etwa, am Anfang noch ein sensibler Junge, der keine Fische töten kann und noch als Kampfpilot, der er später wird, zweifelt; aber auch um den Vorzeige-Nazi Otto Gürckel, der sich angesichts der vielen Gas-Suizide von Juden in Wien „Gedanken“ über den Energiemarkt macht. Wie Frank in diesem „Kaleidoskop“ solche Gegensätze in prägnanten alltäglichen Szenen nebeneinanderstellt und wirken lässt, findet der Kritiker genial, aber das müsse man auch „erst mal aushalten“. Für Heckler ein Buch, in dem einem die deutsche Geschichte sehr nahekommt, auch die „Banalität des Bösen“ ruft der Kritiker hier auf. Ein brillantes, sehr greifbares Stück Erinnerungskultur, mit tausend Echos in unserer Jetztzeit der neuen Nazis, die über permanent gestreute Lügen die grossen Probleme unserer Zeit auf eine primtiven Nenner bringen.

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