Die Sache mit der explodierten Aussicht

Ich weiss noch genau, wie ich 1986 Steve Tibbetts‘ „Exploded View“ auflegte, und das Album genau das mit mir anstellte, was „Northern Song“ und „Safe Journey“ zuvor besorgt hatten: Hörrausch mit Horizont! Ich war fasziniert , wie da Gitarre und Perkussion etwa ganz Anderes gelang, als selige Erinnerungen an wilde Zeiten und Jimi Hendrix zu produzieren. Als ich Steve und Marc Jahre später traf, nicht lang, nach dem Album „Big Map Idea“, früh in den 1990er Jahren, waren sie zu meiner Überraschung gar nicht gut zu sprechen auf „Exploded View“. Jene Zeit wäre voller innerem Aufruhr, Wirrnis, Trennung und Tumult gewesen, und die zwei schienen, nach dem spannenden wie in-sich-rigenden „Grossen Landkarten Ideen“ in einem ganz anderen „mindset“ angekommen zu sein.

Das mag so sein, aber ich fürchte, die Entstehung von „Exploded View“, das Hören und Wiederhören dieses Albums, war einfach mit viel zu peinvollen Erinnerungen befrachtet, als dass sie der Schallplatte in wenigstens gelassener Halbdistanz begegnen konnten. Ich vermeinteluftige Weite zu erinnern, zartes Filgran, natürlich auch Wildnis und Feuer. Nun ist die Scheibe irgendwann aus meinem Archiv verschschwunden, und selbst die CD-Ausgabe finde ich nicht mehr. Also bestellte ich gestern ein Exemplar via Discogs aus den Niederlanden. Und wenn das eingetroffen ist, beginnt mein privates Steve-Tibbetts-Festival. Über zehn Tage (das Wochenende auf dem Dortmunder Weihnachtsmarkt ausgenommen) werde ich mir jeden Tag mir seine ECM-Alben der Reihe nach zu Gemüte führen, von YR (das erst später bei ECM wiederveröffentlicht wurde) bis CLOSE. Und wenn ich dann Steve für das Radioporträt am 22. Januar noch ein paar Fragen schicken sollte, wird gewiss eine über „Exploded View“ dabei sein.

3 Kommentare

  • Hubert Mania

    Ich erinnere mich noch gut an den Moment, als ich einem Freund, der eher zu den fingerschnippenden BeBopFans gehörte, „Your Cat“ vorspielte, in der irrigen Annahme, er müsse doch von dem langsam sich aufbauenden Inferno ebenso entzückt sein wie ich. Und wie Tibbetts dann ab 02:48 die angedeutete Melodielinie am ausgestreckten Arm verhungern und das Auffüllen der Lücken deiner eigenen Fantasie überlässt – er sagt ja, nach der Aufnahme gehöre die Musik dem Hörer und nicht mehr ihm selbst – ist schlicht arschlässig. Als mein Freund sich mit dem Einsetzen des grandiosen Finales ab 03:37 noch immer nicht rührte und eine angestrengte Miene aufsetzte, wusste ich, dass Steve Tibbetts hier keinen neuen Freund gewonnen hatte. Dieses Erlebnis war der point of no return: ich glaube, ich habe seitdem niemandem mehr irgendeine Musik vorgespielt.

  • Michael Engelbrecht

    Haha. Ich hätte nicht so schnell aufgegeben, zumal ja zu meinem Beruf im Radio etwas Sanft-Missionarisches dazugehört. Im Privaten lassen sich zwar mit far out of mainstream Akteuren wie Tibbetts, Eno, oder Sanders rasch Seelenverwandte rausfiltern😉 … aber wenn ich verliebt war, dann liess ich es weniger gewagt angehen, waren Cohen, Young und die Beatles schon hilfreicher😉 der Sprung vom Bebop-Fan zu Tibbetts’s Musik ist schon etwas kühn.

  • Hubert Mania

    Sanft-Missionarisch. Das trifft auch sehr gut auf meine Zeit im Club zu. Da wir bemüht waren, alle möglichen Subgenres von Jazz im Konzert zu präsentieren, geriet ich häufig in Diskussionen mit der Braunschweiger Jazzpolizei – Leute, die den Miles ab Bitches Brew verachteten und die ECM schon mal grundsätzlich bäb bäh fanden, dieses ruhig fließende Zeugs, manchmal sogar ohne bass’n’drums. Unvorstellbar. Und dann kitzelt es dich natürlich, mal so einen Kracher wie „Your cat“ in die Gehörgänge eines dieser Vernagelten zu schrauben. Na ja, wir versuchten beide, in späteren Begegnungen nicht mehr auf die Möglichkeit gemeinsamen Musikhörens zu sprechen zu kommen.

    Ach ja, ich vergaß zu erwähnen, dass ich diesen Freund vor der finalen TibbettsNummer schon mit zweidrei Stücken aus David Torns „Best Laid Plans“ gequält hatte.

    Das YourCatErlebnis machte mir nur bewusst, was ich schon ahnte, aber mir nicht zugeben wollte: Musikhören mit einem Menschen an gleicher Stelle und zur gleichen Zeit war einfach nicht mehr mein Ding. Von da ab hab ich nur noch Kassetten, CDs, USB-Sticks verteilt.

    Verliebtsein und Musikvorspielen: Lachen ohne Ende. Das ist mir meistens missglückt. Verdammt, ich hab jetzt ein paar Minuten nachgedacht: Tatsächlich meistens misslungen. Weil ich natürlich das extreme Zeug vorgespielt habe, was mich wirklich geflasht hat. Und wenn sie nicht drauf steht, haut es sowie nicht hin mit ner Beziehung.

    Na ja, Moment: David Darlings Cello und Arvo Pärts Fratres – die Version mit den 12 Cellisten – sind eigentlich immer gut angekommen. Wenigstens eine Ausnahme, die die Regel bestätigt. Aber wenns im ersten Stock mit der Vorspielstrategie nicht hinhaute, konnte man immer noch die Treppe runter und in die Disco gehen, da fand sich dann eigentlich immer was zum gemeinsamen Abfahren.

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