Zwei Graphic Novels

Für ein Leseprojekt in einer 9. Klasse zum Thema deutsche Geschichte 1848 – 1945 lese ich gerade verschiedene Texte (Romane und Comics/graphic novels), die die Jugendlichen dann vorstellen sollen. Hier sind zwei davon, Reinahrd Kleins „Der Boxer“ (2012) und Luz‘ „Zwei weibliche Halbakte“ (2025).

Reinhard Kleins graphic novel basiert auf den Lebenserinnerungen von Hertzko Haft, die er gemeinsam mit seinem Sohn Alan zu Papier gebracht hat und die auf der Rückseite des Einbands zurecht als verstörend beschrieben werden. Hertzko Haft ist 14 als die Deutschen 1939 Polen überfallen und seine Heimatstadt Belchatov besetzen. Zwei Jahre später wird er in einem Zwangsarbeitslager interniert, kurze Zeit später kommt er nach Auschwitz. Dort wird er wegen seiner Statur von einem SS-Aufseher zum Boxer ausgebildet und muss von nun an jedes Wochenende gegen einen anderen Häftling kämpfen. Es sind Schaukämpfe auf Leben und Tod, die Deutschen bringen die Verlierer um. Ende 1944 werden die Lager um Auschwitz aufgelöst, die Häftlinge irren auf Todesmärschen durch Polen und Deutschland. Hertzko Haft gelingt im April 1945 die Flucht, auf der er einen SS-Mann und ein älteres Ehepaar umbringt. Nach Kriegsende führt er vorübergehend ein Bordell für amerikanische Soldaten, um dann in die USA zu emigrieren. Dort hat er eine kurze Karriere als Profiboxer, heiratet schließlich, wird Vater von drei Kindern und eröffnet einen Gemüseladen in Brooklyn. Zeitlebens kann er über die Kriegsjahre nicht reden, wird aber von den Dämonen seiner Vergangenheit gemartert; erst kurz vor seinem Tod berichtet er seinem Sohn seine Lebensgeschichte. Um ehrlich zu sein bin ich mir nicht sicher, ob diese – von Reinhard Kleist in sehr ausdrucksstarken schwarz-weiß Zeichnungen erfasst – für 14jährige nicht etwas zu düster ist; vielleicht eher etwas, um es für Unentschlossene in der Hinterhand zu haben.

Ein preisgekrönter Comic aus Frankreich in deutscher Übersetzung, dessen Autor vor 10 Jahren dem Anschlag auf Charlie Hebdo nur entgeht, weil er an dem Tag Geburtstag hat und deswegen zu spät zur Redaktionssitzung kommt. Seitdem steht Luz unter Polizeischutz. „Zwei weibliche Halbakte“ erzählt von der deutschen Geschichte zwischen 1919 und 1946 (wobei die letzten Ausläufer der Handlung in der Gegenwart enden) aus der Perspektive des titelgebenden Gemäldes von Otto Müller. Man sieht also was sich unmittelbar vor dem Bild abspielt – und sonst nichts. Aus dieser reduzierten Sicht stellt Luz geschichtliche Ereignisse prägnant dar. Das Bild steht lange im Atelier des Malers, bis der es an einen Anwalt und Kunstsammler verkauft, der nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten Selbstmord begeht. Die Sammlung muss verkauft werden, damit die Familie Deutschland verlassen kann, wird dann beschlagnahmt, und das Bild „Zwei weibliche Halbakte“ landet auf der Ausstellung für „entartete Kunst“. Dort betrachten es sowohl pöbelnde Nationalsozialisten, aber auch Kunstliebhaber. Und dann geht die Geschichte weiter – heute kann man das Gemälde in Köln im Museum Ludwig sehen; die Erben des Kunstsammlers wurden zu Jahrtausendwende entschädigt. Die Bilder sind in gedeckten Farben gemalt, von denen einige leitmotivisch wiederholt werden. Immer wieder nutzt Luz die bildliche Tiefe, um im Hintergrund weiteres Geschehen zu zeigen. Ich habe „Zwei weibliche Halbakte“ sehr gerne gelesen. Für meine Schüler*innen ist der Fokus auf „entartete Kunst“ sicher etwas speziell, zudem müssen sie in der Lage sein, sich den Kontext beim Lesen zu erschließen – aber das schaffen einige bestimmt ganz gut.

7 Kommentare

  • Michael Engelbrecht

    So verstörend die Inhalte sein mögen, sie sind durch und durch aufklärerisch. Und was bekommen 14-Jährige heute nicht alles mit an verstörenden Realitäten, aber eben in der Regel ohne pädagogische Begleitung!? Wenn sich da Fragen zum Heute aufdrängen, kann die Lektüre einen kritischen Geist sogar für manche „Verstörungen der Gegenwart“ gleicht mit „schulen“!

  • Olaf Westfeld

    Unbedingt. Eine Gefahr beim Geschichte in der Schule ist, dass es schnell zu dem Fach, in dem es so viel Grausamkeit gibt, wird – und es deswegen einige vergrault… das möchte ich vermeiden, ohne dabei eine flauschige Decke über die Gräueltaten auszubreiten. Von daher bin ich mir nicht ganz sicher, wie ich mit „Der Boxer“ verfahre – ob der kritische Geist nicht besser mit anderen Büchern geschult wird.

  • Lajla

    Olaf, hast du denn vor, die Fakten des Zweiten Weltkriegs anhand eines Geschichtsbuchs und mit Kartenmaterial zu erklären? “ Der Boxer“ ist harte Kost, ich würde es vorschlagen und die einzelnen Episoden auf die Schüler verteilen. Also nicht das ganze Buch nur von einem vorstellen lassen.

  • Olaf Westfeld

    Auch eine Idee, das aufzuteilen… aber ich glaube auch, dass „Der Boxer“ nicht geeignet ist.
    Zum Hintergrund: Ich werde Anfang Januar mit der 9. Klasse eine Epoche Geschichte haben, also jeden Tag 105 Minuten, drei Wochen lang. Die Überschrift ist „Von Bismarck zu Hitler“, wobei ich die letzten Jahre den Nationalsozialismus immer recht kurz behandelt habe, weil der in der 12. noch mal Thema ist – und dann haben die Jugendlichen ganz andere Möglichkeiten, die Thematik zu verarbeiten.

    Da ich aber merke, dass es zunehmend notwendig wird, die Jugendlichen an der Stelle aufzuklären (und es auch zunehmend nötig ist, die Jugendlichen an das Lesen von Büchern heranzuführen), die Idee, dass sie verschiedene Bücher vorstellen und so die Geschichte in Form von Geschichten in das Klassenzimmer kommt. Immer zu zweit oder dritt, von den ‚Klassikern‘ (Anne Frank, Rosa Kanninchen, Klaus Kordons Trilogie der Wendepunkte, Damals war es Friedrich,…) zu etwas neueren Büchern (Bücherdiebin…) oder eben Comics/graphic novels. (Da habe ich gerade noch ein sehr geeignetes gelesen: Columbusstraße von Tobi Dahmen.).
    Soweit die Idee. Gerne noch Fragen stellen oder Hinweise/Büchertipps geben, vielleicht wird dann noch eher ein Plan draus.

  • Martina Weber

    Im Geschichtsunterricht mit Graphic Novels zu arbeiten, überrascht mich. Interessant finde ich es schon; „Der Boxer“ erscheint mir auch sehr brutal und möglicherweise zu verstörend. Ich weiß nicht, ob Jugendliche in dem Alter aktuelle Nachrichten verfolgen und ob insofern die brutale Gegenwart einen neuen Maßstab setzt, was man Jugendlichen zumuten kann. Erstaunt bin ich aus methodischer Sicht, weil die Graphic Novels aus der Gegenwart stammen. Wäre es nicht angebracht, auch mit Quellentexten zu arbeiten, die aus der entsprechenden Zeit stammen? Können Graphic Novels also generell für den Geschichtsunterricht geeignet sein? Das sind die Fragen, die ich mir als erstes stelle. Oder sind die Graphic Novels eher als Ergänzung gedacht?

  • Olaf Westfeld

    Die historischen Romane und graphic novels sollen neben den historischen Quellen stehen. Sie sollen das Geschehen illustrieren – damit die Schüler*innen Beispiele bekommen, wie es gewesen sein könnte, das Vergangene soll verlebendigt werden. Das muss natürlich kontextualisiert werden. Ich suche auch nach gut/seriös recherchierten Texten.

  • Martina Weber

    Da „Der Boxer“ auf Lebenserinnerungen basiert, ist es ein künstlerisch aufbereitetes historisches Material. Da diese Tatsache kontextualisiert wird, finde ich dann auch, dass es für den Unterricht passt.
    Krass die Geschichte, dass Luz wegen seines Geburtstags zu spät zur Arbeit kommt und deshalb überlebt. Ich finde das Herangehen mit beiden Graphic Novels letztlich ganz klasse. Es macht den Geschichtsunterricht anschaulich und alltagskonkret und bewegt sich weit weg von dem, wie der Unterricht zu meiner Zeit war.

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