„Medium Cool“ zum Zweiten

Es ist 2025. L.A. hat Besuch bekommen, gegen den Wunsch der Bürgermeisterin (s. Bild 1). 4000 Nationalgardisten und noch mal 700 Marines aus dem in der nahen Mojave-Wüste gelegenen Marine Corps Air Ground Combat Center in Twentynine Palms. Das sind mehr Soldaten, als die Vereinigten Staaten im Moment im Irak und in Syrien stehen haben – zusammengenommen. Dazu kommen dann auch die zwölf Black Hawks, die von einem der 34 Flughäfen des Bezirks Los Angeles operieren. (SZ am Wochenende)

It’s 1968, and the whole world is watching. With the U.S. in social upheaval, famed cinematographer Haskell Wexler decided to make a film about what the hell was going on. Medium Cool, his debut feature, plunges us into the moment. With its mix of fictional storytelling and documentary technique, this depiction of the working world and romantic life of a television cameraman (Robert Forster) is a visceral cinematic snapshot of the era, climaxing with an extended sequence shot right in the middle of the riots surrounding the Democratic National Convention in Chicago. An inventive commentary on the pleasures and dangers of wielding a camera, Medium Cool is as prescient a political film as Hollywood has ever produced. (Criterion)

„Es gibt so viel in diesem erstaunlichen Film zu verarbeiten, dass er sich perfekt für das Zeitalter des Heimkinos eignet, wenn wir ihn mehrmals hintereinander sehen und die vielfältigen Botschaften, die fachmännisch in seinen raffinierten und künstlerisch spannenden Oberflächenteppich eingewoben wurden, entschlüsseln und würdigen können, um dann zurückzugehen und das Gesehene völlig neu zu interpretieren. Jetzt ist es für mich einfacher denn je zu verstehen, warum Medium Cool mich als jungen und eifrigen Filmstudenten so beeindruckt hat. Der Film ist ein Paradebeispiel für das freigeistige und abenteuerliche gesellschaftspolitische Filmemachen der 60er Jahre, und in seiner Verschmelzung von Wahrheit und Fiktion – auf eine Art und Weise, die uns dazu veranlasst, die Art und Weise, wie wir späteres Filmmaterial betrachten, neu zu überdenken – ist er praktisch unvergleichlich. Er ist nach wie vor einer meiner absoluten Lieblingsfilme, der meiner bescheidenen Meinung nach das Prädikat „Meisterwerk“ voll und ganz verdient hat.“ (Slarek)

„Medium Cool ist ein Film, über den man Bücher schreiben könnte, wobei jede Szene ein eigenes, gewichtiges Kapitel verdient. Als ich mir den Film nach mehreren Jahren wieder ansah, war ich besorgt, dass ich ihn in meiner Erinnerung mythologisiert haben könnte, dass seine Qualitäten durch den Einfluss, den er auf mein jüngeres Ich hatte, überhöht wurden. Aber ihn noch einmal zu sehen, war fast genauso aufregend und vielleicht sogar noch aufschlussreicher als beim ersten Mal. All diese Jahre später, nach Tausenden von weiteren Filmvorführungen, erstaunt es mich am meisten, wie frisch, originell und einzigartig der Film immer noch wirkt und wie weitreichend und zielgerichtet sein soziopolitischer Subtext ist. Als junger Kameralehrling war ich so sehr auf das Aussehen des Films konzentriert, dass ich den Einfallsreichtum und den ironischen Witz des Musikeinsatzes sowie die Kreativität und Kraft des Schnitts und des Soundtracks nicht zu schätzen wusste. Aufgrund der Natürlichkeit der Darbietungen ist es stellenweise schwer zu sagen, welche der Darsteller professionelle Schauspieler sind – an einer Stelle wird der Schauspieler Sid McCoy (als Taxifahrer Frank Baker) von einem echten Polizisten ausgefragt, und beide fühlen sich wie echte Schauspieler an, eine von vielen Sequenzen, in denen sich Schauspieler und Laien auf unsichtbare Weise vermischen, was dem Film eine weitere Ebene hinzufügt, in der die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt, oder genauer gesagt, was wir als beides wahrnehmen.“ (Slarek)

Natürlich ändert sich im Laufe eines Lebens unsere ganz private Liste der „Lieblingsfilme“, ein Ausdruck, der übriges leicht verniedlichend wirken könnte und vielleicht besser durch „most mindblowing movies“ ersetzt werden sollte. Aber auch eine solche Aufzählung würde sich im Laufe der Zeit ändern. Ich habe „Medium Cool“ erst 2015 entdeckt, und anders als viele Filme aus alter Zeit, die keinen so grossen „impact“ mehr haben after all these years, hat dieser Film mich schlicht umgehauen – ergriffen, fasziniert, „reingezogen“. Beim ersten, zweiten, und nun beim dritten Sehen. Meine Masters Of Cinema-Ausgabe enthält den Film gleich zweimal, als DVD und als Blu Ray. Gerne verleihe ich die DVD – man könnte sie kreisen lassen, sie enthält auch, wie die Blu Ray, gelungene Extras. Dass er nun, anno 2025, zu meinen ganz persönlichen, sagen wir, „12 most mindblowing movies“ zählt, daran wird sich nie mehr was ändern! „,Medium Cool“ hat in meiner Welt den gleichen „magischen“ Stellenwert wie Julio Cortazars „Rayuela“ und „My Life In The Bush Of Ghosts“ von Brian Eno und David Byrne. (Michael E.)

15 Kommentare

  • Michael Engelbrecht

    Slareks langer Essay in CineOutsider beginnt so:

    I would imagine that pretty much every film enthusiast can pull together a list of titles that were instrumental in shaping their love affair with cinema. There are the ones that had a serious impact on us in our childhood or teenage years, those that we found ourselves drawn back to again and again, and those special films we encountered by chance that helped widen our perception of what cinema could offer. If you are studying film production, either as a student or self-taught movie-maker, there are also the films that open your eyes to the myriad of possibilities that the medium has to offer as a tool for creative self-expression. These are the titles from which favourite film lists are born.

    Such selections are inevitably personal choices, though the chances are that a good many of them will also have struck a similarly strong chord with others. There are no hard facts in the realms of film appreciation, but if enough opinions coincide then you will have a consensus, and it’s from this that movies go on to achieve cult or classic status. But it’s usually not the films on which we all seem to agree that are exciting to hear others enthuse about, but the ones we ourselves might never otherwise have seen. Such works will often provoke passionate outpourings, as those who have discovered a particular title seek to spread the good word. I am, of course, thinking retrospectively here, looking back to the days when reading or hearing about a film was one thing, but actually getting to see it was another, a time before the internet and even home video. Nowadays, if I wax lyrical to my fellow reviewers about a film, however obscure, there’s a pretty good chance they can lay their hands on a copy by the end of the week, probably within the hour if it’s available as a download or on a streaming service. Back then, you might only have one chance to see a particular title, a single screening at an independent cinema or on late night TV. The chance came and went in a single day and you missed it at your peril. If it did strike a chord then telling others about it would only frustrate them and you’d have to survive on your memories of that screening until the opportunity for a second viewing might randomly present itself.

  • Michael Engelbrecht

    Und Slareks Text geht so weiter:

    I can’t remember exactly where and when I first saw Haskell Wexler’s 1968 Medium Cool, but I distinctly remember the impact it had. I do know that I was in my third year of film school, by when I’d made camerawork my specialisation. Medium Cool is a film about a cameraman directed by a cameraman. A great cameraman, as it happens, one with a social conscience and the sort of left-leaning political beliefs that by this point in my life I was starting to embrace. And Medium Cool looked like no other film I saw during that period. For the first time I really began to appreciate how a narrow depth of field could be employed to isolate a character in frame, and how the use of extreme wide-angle lenses could bring an extra dynamism to energetically mobile handheld shots. This was a film that helped to redefine what I was learning about my chosen craft, but I remember even then appreciating that the film was so much more than a technical exercise. The problem was that the moment to see it had now come and gone, and no-one else on my course had managed to catch it, so I couldn’t even get into a debate about it with others. It was to be a another fifteen years until I was able to see it again

    Danach geht er die Filnstory
    nach und nach durch,
    und keiner sollte das lesen,
    ohne zuvor den Film
    ein erstes Mal gesehen zu haben.

  • Martina Weber

    Der Film ist inzwischen bei mir angekommen. Zu viel möchte ich vor dem Anschauen nicht wissen. Heute, nach dem Seminar, bin ich zu müde. Über den DVD-Spieler kann ich die DVD nicht abspielen, wegen unpassendem Ländercode. Aber über das externe Laufwerk des Notebooks funktioniert es. War das bei dir auch so? Ich habe auch die Widescreen Collection.

  • flowworker

    Ich habe die Englische Edition … also Löndercode 2 … nimmt jeder dvd und blu ray player an…

    Mache hier demnächst ne Filmvorführung mit sechs Gästen vor großer Leinwand … damit ist meine Höhle voll ausgelastet … Split Eis statt Popcorn. 😄

  • Martina Weber

    Ich habe natürlich auch die englische Edition. Mein DVD-Spieler weigert sich. Da hießt es: Falscher Regionalcode.
    Ich habe in meiner inzwischen ganz hübschen DVD-Sammlung vielleicht drei oder vier DVDs, die das Gerät nicht abspielt. Das ist schon noch ok. Ich schaue Filme natürlich lieber über den Fernseher als übers Notebook. Ich habe sehr viele Filme nur auf Englisch; einige davon spielt das Gerät nicht ab. Ich erkenne kein System darin.

  • ijb

    Hast du vielleicht nicht die englischer Version, sondern die amerikanische?
    Üblicherweise sind nordamerikanische DVDs mit Ländercode 1, englische mit dem europäischen Ländercode 2.

    https://praxistipps.chip.de/dvd-diese-laendercodes-gibt-es_123529

    Der Fehler passiert häufiger mal (ist mir auch schoin passiert).

    Siri Hustvedt meinte einmal, dass sie zu Hause ein Gerät mit LC1 und eines mit LC2 haben. Wenn man viele Filme schaut und internationale DVDs kauft, da einige Filme nicht überall erhältlich sind, ist das wohl eine praktikable Lösung.

  • flowworker

    Ingo , Martina hat ja nun den Film. Soll ich dir auf Leihbasis für zwei Monate die dvd senden, garantiert Code 2 ….

    Und hättest du zwei Otöne für mich von Amina Claudine Myers für meine vorletzten Klanghorizonte ever ? 🌈

    Richard Williams‘ wunderbare Besprechung befindet sich auf The Blue Moment ….

  • Martina Weber

    Wir haben schon zwei DVD-Spieler hier 🙂
    Der zweite hat die Information gegeben, dass die DVD den Ländercode 1 hat. Der erste hat sich nur geweigert und den Ländercode nicht verraten. Wie gesagt hatte ich das Problem schonmal. Normalerweise kann ich diese DVDs übers Notebook und einen angeschlossenes Laufwerk problemlos anschauen. Für die paar DVDs mit Ländercode 1 kaufe ich mir keinen dritten DVD-Spieler. Betroffen ist auch die wunderbare DVD über das Leben von Maja Deren (In the Mirror of Maja Deren) und zwei weitere DVDs aus meiner Serie „Die Verweigerung des amerikanischen Traums“, deren Titel ich hier natürlich nicht verrate. Medium Cool schaue ich heute oder morgen.

  • Martina Weber

    Inzwischen habe ich „Medium Cool“ gesehen. Über die Kommentare hier auf dem Blog bin ich nur drübergehuscht, und, ja, es ist ein sehr kritischer Film, wie man ihn im US-Mainstreamkino vermutlich kaum zu sehen bekommt. Wie ich es allerdings aufgrund deiner, wenn auch bewusst rudimentären Skizzierung geahnt habe, steht das Dokumentarische viel zu stark im Fokus, und vor allem sind die sehr langen dokumentarischen Passagen (da gäbe es einiges an Kürzungsmöglichkeiten) viel zu wenig in die Handlung und in die Charaktierisierung der Hauptfiguren eingebunden. Mindestens eine sogar ausgesprochene Hintergrundinformation auf dem Journalisten-Flur hätte man ganz anders nutzen können. Ich sage hier natürlich nicht, was ich meine. Auch wenn es dramatische Eskalationen zu sehen gab, war die Spannungskurve des Plots ziemlich mau. Ich glaube, erst ab Minute 40 fing der Plot an. Robert Forster in seinen Enddreißigern zu sehen, war fein; allerdings überzeugte er mich mit seinen schauspielerischen Leistungen in Tarantinos „Jackie Brown“ (was am Sonntag übrigens auf ARTE läuft, weitaus mehr. Nun, seine weibliche Gegenspielerin (Jackie Brown) ist auch ein ganz anderer Frauentyp als Eileen in „Medium Cool“. Als Vergleich hatte ich schon „Zabriskie Point“ aus dem Jahr 1970 herangezogen. Denn auch hier werden dokumentarische bzw. dokumentarisch wirkende Passagen mit einer Handlung von zwei Hauptfiguren verbunden. In „Zabriskie Point“ tragen diese dokumentarischen Szenen jedoch zur Charakterisierung der Personen bei, sie konstituieren deren Persönlichkeit geradezu, und es sind vielfältige Ebenen. Ich erinnere da nur an den Anfang des Films, wo wir minutenlang einer Diskussion von Studierenden zuhören. Vor vielen Jahren habe ich aus einer Szene, die Sprengkraft hat, ein Bild fotografiert und ein manafonistisches Rätsel daraus gemacht. Wer den Film gesehen hat, würde das Foto erkennen. Damals hatte Rosato das Rätsel gelöst. Ich habe den Link gesucht, es aber nicht gefunden. „Zabriskie Point“ ist in den USA sehr kritisiert worden. Es war ja auch kein Amerikaner, der den Film gemacht hat, sondern Antonioni.

  • Michael

    Das wurde auch mal Zeit, hier was Kritisches zu lesen zu Medium Cool …

    Ich habe das ganz anders erlebt, und was dir als Schwäche erscheint, gehört für mich zur Magie des Films.

    Du erinnerst dich an das interessante Buch von Geoff Dyer zu Stalker. So eins würde ich gerne zu Medium Cool lesen … every scene worth diving into it ….

  • Martina Weber

    Ja, und bei Two-Lane-Blacktop war es dann eher umgekehrt 😉

    Bei „Merry-Go-Round“ von Jaques Rivette geht es mir wiederum so, dass für mich genau das die Magie ausmacht, von dem andere sagen würden, dass es im Film nicht funktioniert. Insofern kann ich deinen Gedanken nachvollziehen, wenn auch nicht nachempfinden. Ich werde „Medium Cool“ nochmal mit Audiokommentar anschauen. Mehr Material gibt es auf meiner amerikanischen DVD nicht.

    „Zona. A Book about a Film about a Journey to a Room“ (gibt es auch auf Deutsch, aber der Titel ist nicht so gelungen): so viele nachdenkenswerte Gedanken. Ich habe z.B. diese zentrale Passage auf Seite 172 f. mit gelbem Buntstift markiert: „In any case the whole idea of the Room is a joke. Perhaps out deepest wish in life is that there could be a place like this, a Room where our deepest wish comes true. Extrapolating from that, we don’t want to get to the point where we discover that we discover that we actually don’t want this Room to exist.“

    Gibt es noch irgendwann deine Liste der 12 wichtigsten Filme deines (ganzen?) Lebens? Schriebst du nicht, Medium Cool sei Teil dieser bisher noch imaginären (?) Liste?

  • flowworker

    Ja, aber solch eine Liste ist apeziell, weil sich die persönlichen Lieblingsfilme prinzipiell mehrfach im Leben ändern. Es gibt Filme, die mich 1977 ungehauen haben und heute langeweilen. Aber wenn icn so eine volatile Liste machen würde, sähe sie im Moment so aus, eingedenk ihrer Wirkung auf mich und ganz sicher nicht ihres cineastischen Kunstwertes:

    1) Mulholland Drive
    2) Paris, Texas
    3) Goldrausch
    4) Absolute Giganten
    5) Manhattan
    6) Silverado
    7) Der unsichtbare Dritte
    8) Medium Cool
    9) Amores Perros
    10) Lovers Rock
    11) The Duke Of Burgundy
    12) Wer die Nachtigall stört

  • Martina Weber

    Natürlich ist so eine Liste speziell und immer etwas in Bewegung. Ich habe gestern schon meine 12-er Liste gemacht und poste sie als eigenen Beitrag, weil das hier sonst untergeht. Von deiner Liste schätze ich sehr die Nummern 1, 2, 4, 7 und 9. Ich habe sie jedoch nicht in meine Liste aufgenommen.

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