„Freigewehtes on air“

Nur zwei Alben veröffentlichte der Pianist und Synthesizerspieler Rainer Brüninghaus als Bandleader, „Freigeweht“ (1981) und „Continuum“ (1984), und sie haben über all die Jahrzehnte hinweg nichts an Ausstrahlung verloren: „Freigeweht“ liegt nun in der ECM-Vinylserie „Luminessence“ mit tadelloser Pressung und Gatefoldcover vor, ergänzt von einem klugen Essay, der dieses kleine Meisterstück im Rückblick einordnet und verschiedene Facetten erhellt, etwa Spuren von Minimalismus in diesem sogenannten „kammermusikalischen Jazz“.

Aber was heisst schon „Kammermusik“ bei so vielen sperrangelweit geöffneten Aussichten!? Vielen wird es so ergehen, dass sie sich diese lyrisch-aufregende Musik wieder und wieder anhören, weniger, um sich wohligen Erinnerungen zu überlassen, oder analytisch den Geistern eines anderen Zeit nachzuspüren (das wären allenfalls Begleiterscheinungen): alle Beteiligten sind schlichtweg „on fire“, von dem Komponisten selbst, der das Understatement jedem virtuosen Fingerzeig vorzieht, über den Meistertrompeter und die Schlagzeuglegende, bis hin zur „wild card“ des Oboisten und Englisch-Horn-Spielers!

Für eine jüngere Generation von Hörern mag dieses Album eine Eintrittskarte sein, andere aussergewöhnliche Alben des ECM-Katalogs kennenzulernen, in denen Brpninghaus als Sideman seine diskret-vielschichtige Magie verströmt, etwa auf Eberhard Webers „The Colours Of Chloe“, „Yellow Fields“ und „The Following Morning“, oder Jan Garbareks „I Took Up The Runes“. „Freigeweht“ reiht sich da, ohne grosses Aufheben, nahtlos ein: einsame Klasse in bester Gesellschaft! (michael engelbrecht) P.S. Das Foto aus meiner „elektrischen Höhle“ zeigt „Freigehweht“ an zweiter Stelle von links.


Niklas Wandts Klanghorizonte sind nun nicht mehr nachzuhören. Das rege Echo rund um „Freigeweht“ spuegelt sich in rund zehn Kommentaren von Ingo, Niklas, Henry, Jan, und mir … (deshalb habe icn diesen Blogeintrag auf den 8. Februar transportiert.)


„Das minimal gehaltene Cover ziert eine Reihe von drei Fotos einer Papiertüte im Wind, eingefrorene zufällige Bewegungen, ausgeleuchtet in dramatischem Kontrast – das grelle Orange der Tüte gegen das strahlende Blau des Horizonts. Die Luftigkeit, die Transparenz kennzeichnet auch den Sound auf dieser Platte, eingespielt in einer recht ungewöhnlichen Quartettbesetzung. der kanadisch-britische Kenny Wheeler an Trompete und Flügelhorn und der Norweger Brynjar Hoff an Oboe und Englischhorn.“ (Niklas, in einem anderen Beitrag zu „Freigeweht“ . Siehe auch „Archive“)

10 Kommentare

  • Ingo J. Biermann

    Tatsächlich habe ich über einige Jahre hinweg mit Brüninghaus E-mails hin und her geschrieben, habe lange versucht, einen Termin für ein ECM-Interview mit der Videokamera mit ihm auszumachen, und immer wieder kam was dazwischen, wurde verschoben, abgesagt oder sonstwas passierte. Das Jahr 1980 ist bis heute das einzige in meiner 1969-bis-2019-Reihe, das noch nicht gedreht ist [eine Handvoll andere habe ich zwar gedreht, aber noch immer nicht (fertig) geschnitten, hab dann auch mehrfach versucht, DeJohnette zu interviewen, nie eine Antwort von ihm bekommen… dritte Option war Steve Reich, da kam auch mehrmals eine Absage, zuerst ungreifbar-euphemistisch formuliert, dann auf Nachfrage beim nächsten Versuch recht klar, dass er dem „keine Priorität einräumen“ werde].

    Nach einigen Versuchen habe ich mit Brüninghaus dann ein E-Mail-/Word-Dokument-Interview gestartet (konkret zu diesem Album, 1980 aufgenommen), das bis heute noch immer unvollendet ist. Bemühungen um ein Treffen während seines letzten Berlin-Besuchs (Garbarek-Konzert war in der Philharmonie, fünf Minuten von hier) führten auch ins Leere (zum Konzert bin ich letztlich nicht gegangen, weil es doch arg teuer war).

    Vielleicht findet ja wenigstens das schriftliche Interview zu „Freigeweht“ irgendwann zu einer Form. Ende April treten Garbarek und Brüninghaus tatsächlich schon wieder in der Philharmonie auf. Vielleicht versuche ich ihm dann vorher doch noch einmal zu schreiben. Vielleicht hat er danach diesmal Lust drauf.

    WItzigerweise habe ich auch einige Male mit dem Fotografen des Covers, Christian Vogt, ein sehr interessanter Fotograf, Mails geschrieben; er lebt in Basel hatte auch zwei Mal veruscht, einen Besuch bei ihm zu organisieren, passte dann aber leider auch nie; er hat einige sehr besondere ECM-Coverfotos geschossen, u.a. mehrere von/für John Surman („Upon Reflection“, Withholding Pattern“, „The Amazing Adventures Of Simon Simon“ und auch „Words Unspoken“), „Making Music“ (Zakir Hussain), Jarrett „Dark Intervals“ und „We Begin“ (Art Lande & Mark Isham).

  • flowworker

    Ja, wirklich besondere Fotos! Sie kommen mir nämlich fast alle vor Augen, wenn ich die Titel der Alben lese. Zum Beispiel „The Amazing Adventures Of Simon Simon“ – das hatte auch Humor, eine eher seltene Eigenschaft bei Ecm-Coverbildern😉

    Viel Glück mit Raumer B. Hier in dem Klanghorizonten hat er ja ein bisschen was erzählt zu Freigeweht… (Michael)

  • Olaf Westefeld

    Ja, alles sehr einprägsame Fotos. „We Begin“ hat mir mal einer vor der Nase im Plattenladen weggeschnappt, keine Ahnung wie die Musik ist, das Cover ist großartig.
    Schöne Sendung, guter Bogen von dem barocken Jazz über die Klanglandschaften zu den „Freigeweht“ und dem Köln Konzert.

  • Jan Reetze

    „Freigeweht“, wirklich ein traumhaft schönes Album, danke für die Wiederveröffentlichung, ebenso für die Vorstellung in den Klanghorizonten.

    Noch heute bin ich Michael Rüsenberg dankbar dafür, dass er mir damals für meine Diplomarbeit ein Interview mit Rainer Brüninghaus (von 1985) zur Verfügung gestellt hat. Ohne dieses Interview wäre ich wahrscheinlich nie auf „Continuum“ von Brüninghaus/Stockhausen/Studer aufmerksam geworden, und ohne wiederum dieses nicht auf „Freigeweht“. Und das wäre dann wirklich schade gewesen.

  • Michael

    Ja, Freigeweht war auch für mich eine Wiederentdeckung … mehr als die Besonderheiten an sich wie Synthi und Oboe, empfinde ich die Kompositionen und das Zusammenspiel der vier Musiker überragend, und jeder einzelne gibt alles!

    In meiner Besprechung ließ ich eine Sache aus, die ich dann Ende März in den Horizonten angefügt hätte: all die herrlichen Titel von Radspuren bis Freigeweht … so hätten damals auch Stücke von Roedelius und Cluster heißen können … aber, nun gut, dann haben wir jetzt zwei schöne Besorechungen….

    Ich erinner mich wie das Album damals bei mir in Arnschwang am Ende der Welt ankam, und ich weiß noch wie mich damals schon die Titel der Stücke zum Schmunzeln gebracht haben … und wie ich dachte: „hier bei mir im bayerischen Hinterland ist auch alles freigeweht .. “

    Damals waren Uwe Gudrun Hansjörg und ich ein tolles Quartett – Freunde, verdammt Gute Freunde – vor 10 Wochen saßen wir alle beisammen bei Gudrun und Hansjörg in der Eifel, nahe Daun, wir hörten Beth Gibbons und Madar von Brahem, wir verbrachten ein Superwochenende mit tiefer Herzlichkeit – und niemand ahnte dass Gudrun danach so bestürzend erkranken und sterben würde … gestern die Wiesenbestatttung … ein strahlend sonniger Tag … sadness wins, love never dies.

  • radiohoerer

    Ich finde es wirklich schade, dass hier niemand etwas über die erste ECM-Scheibe von Egberto Gismonti sagen möchte (siehe Foto). Es stimmt, „Dança das Cabeças“ ist sein Duo mit Nana Vasconcelos, aber für mich ist die Erinnerung an sein Konzert zu den Leipziger Jazztagen Ende der 70er Jahre. Dort spielt er erst auf seiner 10-saitigen Gitarre und dann auf einem Flügel. Ich glaube, ich wie viele andere kannten Egberto damals noch gar nicht. Wir alle waren im Saal gebannt von seinem Spiel, und es war absolut still im Zuschaueraum. Alle hingen an seinen Saiten und seiner Musik, und es war einfach magisch. Noch heute ist Egberto eine feste Größe in meiner Musikwelt.

  • Michael Engelbrecht

    Gut, dass du Danca Des Cabecas nun erwähnt hast. Ich besitze das Album, seit es erschien, und habe es erst vor einer Woche wieder gehört. Grandios. Unvergessen meine Begegnung mit Egberto in den 90’ern. Wir sassen in einem Hotel in Köln und ich wollte für Michael Nauras Klang- oder Jazzlaboratorium 90 Minuten zu Gismonti machen….

    Er erzählte von den Zeiten, die er mit Nana am Amazonas verbrachte, es war ein wunderbarer Moment, dieser Story zu lauschen.. aber kaum hatte er angefangen zu erzählen, kam ein Freund von ihm und ich drückte die Stoptaste… dann ging es weiter mit der magischen Story von Farben und Menschen und Rhythmen und der wilden Natur, den Abeneteuern, …. leider hatte ich vergessen, wieder auf Start zu drücken… auf einmal realisierten wir das, und nein, das konnte er nicht wiederholen, diesen Erzählrausch… und so kam es nie zu der gepanten Radiostunde. Wir brachen das Gespräch ab.

    Aber dieses Album ist wahrlich noch viel viel fesselnder als seine Story. There’s no replacement for deep listening.

  • radiohoerer

    Hallo Michael.

    Danke für die schöne Geschichte.
    Ich habe die LP von Danca Des Cabecas. Alt und abgenutzt steht sie neben seiner Solo-LP im Regal.
    So sehen sie aus, wenn sie oft gehört wurden und es müssen die Erstveröffentlichungen sein.

  • Niklas

    Hallo miteinander!

    Wunderbar zu verfolgen, was für Erinnerungen, Assoziationen, Gedanken sich hier entspinnen anhand einzelner Platten! Die „Freigeweht“ begleitet mich für meine Verhältnisse auch schon ziemlich lange, generationsangepasst 2008 in irgendeinem Blog in recht schlechter Auflösung gefunden und dann irgendwann als schon ziemlich abgestoßene Vinyl auf dem Flohmarkt…

    In der Tat war auch meine Terminfindung mit Rainer zum Interview ein langwieriges Unterfangen, umso schöner, dass es dann noch geklappt hat.

    Aus diesem Interview habe ich für WDR 3 Jazz noch eine komplette Sendung über Rainer gemacht, mit einigem mehr an Material. Schaut mal hier, wenn’s euch interessiert:

    https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/jazz/audio-freigeweht-von-keyboarder-rainer-brueninghaus-100.html

    Beste Grüße!
    Niklas

  • flowworker

    Es gibt eine Platte \ Cd, die ich damals so fortlaufend gehört habe wie, angeblich, Pat Metheny, The Following Morning von Eberhard Weber, mit Brüninghaus‘ fesselndem Keyboardspiel.

    michael

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