Die letzten Tage

Als ich vor 25 Jahren nach Berlin zog, war gerade das „Arsenal“, das in der Stadt jedem Filmmenschen vertraute und enorm wichtige „Kommunale Kino“ an den Potsdamer Platz umgezogen. Der Potsdamer Platz sollte ja, wie die Geschichte es in den 1920ern angefangen hatte, wieder der pulsierend-lebendige Mittelpunkt Berlins werden, an der Schnittstelle von Ost und West, Nord und Süd Berlins. In die 8. und 9. Etage des „Filmhauses“ frisch eingezogen: die Filmhochschule „DFFB“ ein (herübergekommen aus alten Westberliner Gebäuden am Theodor-Heuss-Platz), darunter die „(Freunde der) Deutsche(n) Kinemathek“, seit 1970 verantwortlich für die Sektion „Forum“ bei der Berlinale und eben für das Kino „Arsenal“ mit seinen großen Retrospektiven, Werken der gesamten Filmgeschichte, besonderen Gästen und Premieren und so weiter, darunter über mehrere Etagen das Deutsche Filmmuseum — gemeinsam verwalten die Organisationen auch das Filmarchiv der Deutschen Kinemathek, mit Werken aus allen Epochen des deutschen und internationalen Films. Im Erdgeschoss das Filmbuch-Fachgeschäft (kam später, ich weiß nicht mehr sicher, was in den 2000ern in den Räumen war) und die Bar „Billy Wilder’s“, und im Untergeschoss dann das Kino „Arsenal“ und die Studios der DFFB. Auch die Berlinale sollte vornehmlich am Potsdamer Platz stattfinden; immerhin gab es über Jahre dort die höchste Kinosaaldichte Europas (mit den 8 Sälen des mittlerweile geschlossenen CineStar, den 18 Sälen des Cinemaxx, zwei IMAX-Kinos, dem DFFB-Kinosaal, den beiden Arsenal-Sälen und während der Berlinale auch dem „Berlinale Palast“, während des übrigen Jahres ein Theater).

Das Arsenal war seit jeher der Ort, wo sich in Berlin die wahrhaft Filminteressierten zusammenfanden; das erzählt dir jeder. Als ich nach Berlin kam, hörte ich laufend Leute sagen, dass das neue Arsenal-Kino keinen Charme mehr habe, zu kühl und steril, man da nicht mehr gerne hingehe. Wie der gesamte Potsdamer Platz ja sowieso unter Berlin-Bewohnern unbeliebt war wie kein anderer Ort. Niemand in Berlin schien ihn je zu mögen – obwohl Berlin-Besucher ihn immer gleich besuchen wollten. Zwischenzeitlich ist von der lebendigen Atmosphäre, die vor 20 Jahren dort alltäglich war, nichts mehr übrig. 

Schon als ich 2004 als Regiestudent an der DFFB begann und über Jahre tagtäglich in den 8. und 9. Stock des „Filmhaus“ am Potsdamer Platz – mein zweites Zuhause für viele Jahre – ging, war bekannt, dass der Mietvertrag fürs Filmhaus und alle Institutionen nur für 20 Jahre, bis 2020 gelten sollte. Was danach geschehen sollte? Niemand wusste es. 

2020 war ich schon lange nicht mehr an der Filmakademie, aber sehr viele bleiben dieser Institution lebenslang verbunden, und ich besuche bis heute immer wieder mal die noch immer fast wöchentlich stattfindende Dokumentarfilm-Gruppe von Andres Veiel, der an der DFFB seit fast 20 Jahren der wichtigste und kontinuierlichste Dokumentarfilmregie-, ach was sage ich… der kontinuierlichste Regiementor ist. Und auch wenn das Angebot in erster Linie für die aktuell Studierenden gemeint ist, sind Ehemalige und Freunde jederzeit willkommen, auch um eigene Projekte in verschiedenen Stadien zu zeigen und zur Diskussion zu stellen. Gelegentlich trifft man Leute nach Jahren dort wieder.

2020 also wurde der Mietvertrag, der die DFFB laut Berichten ein Drittel ihres Jahresbudgets kostete, noch um eine Galgenfrist bis 2024 verlängert, und zwischen zahlreichen Direktorenwechseln wurde nach Wegen gesucht, wohin mit der Akademie. 

Der Dezember stand im Arsenal ganz im Zeichen des Abschieds. Jeden Tag gab es besonders kuratierte, einmalige Filmvorführungen mit Gästen und Einführungen. Die Berliner Film- und Cineastenwelt traf sich dort. Dirk von Lowtzow, Sänger und Texter von Tocotronic, erwähnt in seinem 2020/2021 verfassten Corona-Tagebuch, das er über 365 Tage von seinem 50. Geburtstag an am 20. März 2020 geschrieben hat, immer wieder das Arsenal-Kino und den Potsdamer Platz. Ein Film, über den er in seinem Buch schrieb, wurde Anfang Dezember noch einmal gezeigt, Dirk las zur Einstimmung die Passage aus seinem Buch. Am vorvergangenen Wochenende wurde Ulrike Ottingers achtstündiger „Taiga“ gezeigt, viele Besucher kamen. In den Pausen gab es mongolisches Essen. Nun hat das Arsenal seine Pforten geschlossen, und alle sind wehmütig. Ob das neue Arsenal, das Anfang 2026 auf dem Gelände eines ehemaligen Krematoriums („Silent Green“) in Wedding eröffnet wird, wieder den Charme haben wird, den das Arsenal am Potsdamer Platz hatte, fragen sich einige.

Die Institutionen des Filmhauses werden in alle Winde zerstreut. Die DFFB landet in Zwischennutzung im Berliner Außenbezirk Adlershof, wo keiner der Studenten freiwillig hingehen würde. Und auch die Dozenten nicht. Später zieht die DFFB in einen Neubau in Wedding oder Moabit. 

Letzte Woche der letzte gemeinsame Abend der Veiel-Gruppe im 9. Stock des Potsdamer Platzes. (Die weiteren Treffen finden in der Akademie der Künste statt.) Die Büros sind bereits ausgeräumt, Ende der Woche werden alle Türen verschlossen. Manche der anwesenden Studentinnen hatten 2013 hier zu studieren begonnen und machten noch einmal Fotos von sich vor der Fensterfront, wie damals, bei Studienbeginn. Ein ehemaliger Kommilitone, der gemeinsam mit mir 2004 angefangen hatte und mit dem ich im Winter 2004 einen gemeinsamen Dokumentarfilm im ersten Studienjahr gemacht habe, kam auch vorbei. Auch wir machten ein Foto von uns, wo wir einst Jahren tagtäglich zu mittag aßen, auf der Terrasse der 9. Etage, von der vor zehn Jahren ein depressiver Student in den Tod sprang und auf der einer der Direktoren, so geht die Legende, zur Provokation seinen Hintern entblößte und deshalb rausgeworfen wurde. 

Ich ging ein letztes Mal die Gänge ab, in denen ich so viel Zeit verbracht habe. Meinen letzten Besuch im Arsenal hatte ich am vorletzten Abend, bei einer Vorführung eines persönlichen Dokumentarfilms eines israelischen Filmemachers, den er 2011 gemeinsam mit einem palästinensischen Freund gedreht hatte. Er bricht beim Publikumsgespräch nach dem Film in Tränen aus, sagt, er hätte nie für möglich gehalten, dass sich sein Land so entwickelt, habe abgewunken, als ihm palästinensische Freunde damals von genau dieser Angst erzählten. Er sagt, er erkenne sein Heimatland nicht wieder. Er lebt seit bald zwei Jahren in Lissabon. Es versteht die Welt nicht mehr. Er hofft, dass er im neuen Arsenal wiederkommen darf und dass sein Besuch als letzter Gast des alten Arsenals kein böses Omen sei.

5 Kommentare

  • Michael Engelbrecht

    Ergreifend. Auch, weil du es so zurückgenommen erzählst!

    Das Wort „Kinosaaldichte“ war mir neu, uns ich musste gleich an meine Jugenzeit in Dortmund denken, da waren auch etliche Kinos auf recht engem Raum in der City, die zwei Programmkinos etwas am Rande der City, zwei weitere Programmkinos in den Aussenbezirken.

    Und natürlich denkt man bei Lesen deiner Ausbildungsorte an die eigenen. Meine waren in Würzburg, sie waren durchaus verstreut, was dem Studium der Psychologie die Assoziation von „Schule“ nahm.

    Du erzählst, dass der Ort am Potsdamer Platz anfangs so nüchtern und ohne Ausstrahlung wirkte, aber all das, Charme, eine Art, daheim zu sein, eine Art von „power spot“, entwickelte sich mit der Zeit neu – und jetzt wird es in alle Winde verstreut, sozusagen.

    Vielleicht entwickelt sich ab 2026 rund um „Silent Green“ eine neue grosse Geschichte. Immerhin hat Roger Eno dort schon mal ein tolles Solokonzert gegeben, „This Floating World“ … aber bis dahin, und darüber hinaus, wird der Verlust wohl Spuren hinterlassen… eine gewisse Leere… noch mehr Erinnerungen, die mit dem Ort verknüpft sind… Träume… das eine oder andere Buch.

  • ijb

    Tatsächlich bin ich eigentlich kein Mensch von Nostalgie und Wehmut, wenn sich Dinge ändern. Ich begrüße normalerweise vielmehr derartige Veränderungen als Aufbruch und als Chance für Neues, für die Zukunft.
    Besonders wehmütig war ich nicht an diesem Tag oder Ort; aber ich fand diese Stimmung um mich herum bemerkenswert.

    Dazu kommt allerdings auch, dass Bodo, der die letzten Jahrzehnte an der DFFB eine überaus wichtige Konstante war, im Wesentlichen als Studienleiter, gerade auch durch die zahlreichen Direktorenwechsel und Phasen, in denen es mal wieder keinen Direktor gab und er kommissarisch diese Rolle übernahm, gerade vor einem halben Jahr in Rente gegangen ist. Er sieht noch immer mindestens zehn Jahre jünger aus, und es fällt schwer zu glauben, dass er jetzt in Rente ging. Er hat den Laden wirklich über die Jahre, jedenfalls die 20 Jahre, die ich mehr oder (später) weniger direkt miterlebt habe, zusammengehalten wie sonst niemand. Das wissen viele zu schätzen. Die DFFB ist daher, alles zusammengenommen, mittlerweile endgültig eine andere Institution als zu jener Zeit, als ich noch dort aktiv war.
    Wenn ich die Abende mit Andres Veiel und den derzeit aktiven Studierenden dort besuche, viele in ihren Zwanzigern, merke ich auch, wie anders die Menschen heute sind, die dort studieren, nicht nur (aber auch) weil es sich noch einmal deutlich internationaler anfühlt als bereits in meinem Studienjahr (wo auch bereits die Mehrheit meiner Regie-Mitstudierenden auf die eine oder andere Weise einen nicht-deutschen biografischen Hintergrund hatte).

    Bodo treffe ich witzigerweise immer wieder bei Konzerten; er geht seit Jahrzehnten zuverlässig zu jedem Berlin-Konzert von John Cale und Lucinda Williams. (Er war im Januar 1980 sogar unter den Besuchern des berühmten Joy-Division-Konzerts in Berlin.) Ich traf ihn aber auch schon bei Mark Turner. Oder eben im Arsenal-Kino mehrmals in letzter Zeit.

    Das Silent Green besuche ich in der Tat sehr gerne; die sind dort durchaus bemüht, einen lebendigen Ort für Kultur zu kreieren (vor Ort sind auch Musik-„Instituionen“ wie das Label !K7) ; die Konzerte sind wirklich immer sehr besuchenswert, egal ob international bekannte Musiker/innen oder mehr junge Newcomer, die kaum jemand kennt. Zuletzt sah ich dort Cassandra Jenkins, im Frühjahr die Einstürzenden Neubauten bei ihrem „kleinen“ Konzert für die Fans, früher auch schon Franck Vigroux, demnächst Rosie Lowe und vermutlich These New Puritans.
    Es ist allerdings ein Ort, der für viele nicht besonders nahe liegt. Wenn man aus Neukölln, Kreuzberg, Schöneberg, Friedrichshain kommt (wo ja eher das „Zielpublikum“ lebt), ist es recht weit. Von uns aus auch schon mindestens eine halbe Stunde. Ich mag den Ort gerne, aber es wird Zeit brauchen, bis man ihn mit Kino assoziiert.

    Mit dem Potsdamer Platz hatte ich persönlich nie so ein „Problem“, wie viele andere Leute es oft anmerken. Ich hab mich manchmal gefragt, ob da durch meine Zeit an der Akademie quasi zu einer Art Lokalpatriot wurde… Ich war ja sehr froh, dass ich dort studieren durfte; zahlreiche bewerben sich dort erfolglos. Und die an unterschiedlichen Filmhochschulen Studierenden entwickeln auch irgendwie alle schnell eine spürbare Identifikation mit ihrer jeweiligen Institution, mit der man sich auch immer wieder mal von den anderen abgrenzt.
    Der Potsdamer Platz diente mir vielleicht über die Jahre auch immer als eine gewisse Konstante, einfach auch, weil ich dort Jahrzehnte lang fast immer ins Kino ging (das CineStar hatte 8 Säle mit Originalfassungen, wurde vor wenigen Jahren leider dichtgemacht), mindestens einmal die Woche. Später habe ich als Berlinale-Mitarbeiter auch viele Jahre direkt in den Kinos am Potsdamer Platz gearbeitet. (Seit ein paar Jahren nun anderswo in der Stadt.)

  • flowworker

    Also, keine Frage, ich würde Wehmut empfinden, und vieles von deinen Erinnerungen hat mich autimatisch an meine Orte erinnert, die Studentenjahre in Münster und Würzburg, die „Kinosaaldichte“ in Dortmund zwischen meinem 16. und 19. Lebensjahr…. memories flooding.

    Frei von Wehmut bin ich da nicht, zumal ich zuletzt ein halbes Jahr den besten Freund meiner Kindheit gesucht habe, um am Ende von seinem Tod zu hören. Einmal, im Juli oder so, habe ich ihn um drei Höuser verpasst… das tut weh.

  • ijb

    Ja, durchaus, das ist natürlich dann noch einmal eine andere Hausnummer. Sicherlich würde ich das dann ähnlich empfinden.

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