Americana
Der Autor dieses Buches, Thomas Kraft, hat sich schon mit Radio-DJs, der Punk-Bewegung und so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Leonard Cohen, den Beatles oder Klaus Kreuzeder beschäftigt und ist auch sonst sehr umtriebig. Nun hat er sich ein Genre vorgenommen, das aus der US-Countrymusik entstanden ist und diese seit einigen Jahren mehr und mehr vereinnahmt: Americana.
Wenn in Deutschland heute von den USA die Rede ist, dann ist es offenbar Standard geworden, sie als mindestens „tief gespalten“ darzustellen, als ein Land, in dem es bei gleichzeitiger religiöser Verblendung sozial und politisch an allen Ecken brennt, in dem Chaos, Schießereien, Rassismus und Polizeigewalt die Städte beherrschen. Drunter tun wir’s nicht.
In dieser Hinsicht lässt sich auch dieses Buch nicht lumpen: „Ein zerrissenes Land im Spiegel der Country Music“ soll uns vorgestellt werden. Auf 30 Seiten Einführung über „Country und Politik“ folgen konsequent nochmal rund 30 Seiten über „das zerrissene Land“, wie es der Autor sieht. Und da fehlt nichts, von „Black Lives Matter“ bis zu Trump, von 50.000 Obdachlosen in Los Angeles bis zu der Behauptung, in Washington sei eine weiße Durchschnittsfamilie 81-mal (!) reicher als eine schwarze. (Man überlege vielleicht kurz, wer in Washington lebt.) Seite um Seite folgt eine soziale Katastrophe der nächsten, das Elend ist himmelschreiend, die Dramaturgie dieser beiden Kapitel folgt der alten Drehbuchweisheit: „Mit einem Erdbeben beginnen und dann langsam steigern“. Man ahnt ja, was der Autor will, aber irgendwann fragt sich auch der gutwilligste Leser, weshalb die Menschen, wenn doch alles so trostlos und schrecklich ist, nicht scharenweise nach Kuba oder Mexiko fliehen.
Das Problematische an solchen US-Darstellungen ist immer, dass sie stimmen, aber trotzdem ein falsches Bild liefern. Denn obwohl das fast alles richtig ist, sind die USA noch immer eines der freiesten, offensten und kreativsten Länder der Welt. Wie kommen also solche Schlüsse zustande?
So: Es werden deutsche Maßstäbe an die Lebens- und Denkweise der US-Amerikaner angelegt, und das geht fast zwangsläufig schief. Man meint in Deutschland immer, man wisse ja, „wie der Ami so tickt“ — aber man weiß es nicht. Die USA haben eine völlig andere kulturelle Prägung als europäische Länder — aber wie anders, das lernt man nicht in einem oder zwei Studiensemestern oder ein paar Urlaubsreisen. Das braucht Jahre. Ich lebe seit jetzt 17 Jahren in den USA, und noch immer kann mich dieses Land täglich überraschen.
Man muss sich klarmachen, dass genau diese Widersprüche, diese sozialen und politischen Probleme der Motor sind, der die USA voranbringt. Sie lösen die Kreativität aus, weil man weiß, dass kein Politiker und keine staatliche Stelle kommen und sie lösen wird, sondern dass man sie selbst lösen muss. Während in Deutschland für jeden Gullydeckel „die Politik“ zuständig ist, hält man sich hier die Politik lieber vom Leib. Dieses riesige Land, das schon innerhalb seiner eigenen Grenzen so vielfältig ist wie kaum ein anderes, ist in ständiger Veränderung und Bewegung, und das funktioniert, weil alle seit je damit zu leben gelernt haben, dass sie ein Teil dieses Prozesses sind.
Diese Anmerkungen sollen nun aber niemanden davon abhalten, Thomas Krafts Buch zu lesen. Je länger man nämlich darin liest, desto mehr wird fast beiläufig deutlich, was eigentlich die ursprüngliche Quelle der Country-Musik gewesen ist. Oder sagen wir: was eigentlich die Themen waren, die die Country-Musik geprägt haben. Weshalb sie in den USA entstanden ist, und weshalb sie nur hier entstehen konnte. Es war der Alltag, aber keineswegs der stets heile Alltag. Den gab es nie. Es waren und sind genau diese obengenannten Themen, die ihren Einfluss eingebracht haben, und trotzdem schließt es Kommerzialität nicht aus. Eine Sängerin wie etwa Loretta Lynn hat das immer gewusst, hat es nie ausgeklammert, und genau das hat ihren Erfolg ausgemacht. Das Volk, wie schon Brecht festgestellt hat, ist nämlich keineswegs so tümlich, wie man es ihm gern unterstellt.
Wenn man das im Hinterkopf behält, dann wird das vorliegende Buch von diesem Punkt an hochinteressant. In Kapitel 3, betitelt „Americana“, schildert Thomas Kraft auf rund 150 Seiten die Geschichte der Country-Musik, ihre Wurzeln und ihre Entwicklung bis heute. Hier wird dann auch deutlich, weshalb diese Musik mehr als fast jede andere originär amerikanische Musikform immer ein Spiegelbild der US-Gesellschaft gewesen ist. Dabei holt der Autor weit aus, es werden nicht nur die Country-Stars im engeren Sinne vorgestellt, Leute also wie Hank Williams oder Johnny Cash, sondern auch Künstler, die aus anderen Ecken kommen, von der Creedence Clearwater Revival über Tom Petty bis zu Bob Dylan, von Willy Nelson, die Highwaymen über Doug Sahm und sein wunderbares Sir Douglas Quintet bis hin zum Tex-Mex. Auch die Arbeit einiger Produzenten wird berücksichtigt, erwähnt seien Daniel Lanois oder Owen Bradley. Da ergibt sich eine umfassende Genrebezeichnung wie „Americana“ fast von selbst. Und der Witz ist, dass das alles zusammenpasst: Musikindustrie, Kommerz, die hochkommerzielle Grand Ole Opry, die Glitzeranzüge und überdimensionalen Stetsons, Johnny Cashs Folsom Prison, die Blue Ridge Mountains, der Mississippi, die nicht ausgesprochene Scheidung („D-I-V-O-R-C-E“) und die Vagabundenromantik der Eisenbahn, „this little teardrop“ auf der Stimme einer tammy Wynette, einer Dolly Parton, die sich selbst auf die Schippe nimmt, indem sie sagt, es sei elend teuer, so billig auszusehen wie sie. So geht das. Es wird klar gesagt, dass manche Leute zu reich sind, aber eben auch, dass auch sie sich für all ihr Geld keine andere Coke kaufen können als du und ich.
Kleiner Schönheitsfehler: Dieses Kapitel ist zwar chronologisch, gleichzeitig aber als fortlaufende Darstellung angelegt, die von einem Namen zum nächsten springt. Da vermisst man schmerzlich ein Namensregister, das den Zugriff auf einzelne Künstlerpersonen und das Wiederfinden sehr erleichtern würde. Und klar, ein Vorhaben wie dieses Kapitel kann nicht vollständig sein, der Autor musste eine Auswahl treffen. So wird etwa die wunderbare k.d. lang, die das Countrygenre gleichermaßen lieben wie hochnehmen kann, auf gerade mal einer halben Seite abgehandelt, auch etwa Linda Ronstadts Einfluss auf das Entstehen von Bands wie den Eagles und ihr Umfeld vermisse ich.
Das ist aber zu verschmerzen, denn im letzten Teil des Buches stellt der Autor nicht weniger als 500 Alben vor, chronologisch von 1966 bis heute, viele davon mit kurzen oder ausführlichen Kommentaren. Hier findet man neben Genreklassikern auch viele Geheimtipps. Namen wie Tom Petty oder Lucinda Williams tauchen immer wieder auf, Emmylou Harris und Gram Parsons, aber eben auch The Band, The Byrds, die Allman Brothers, Lynyrd Skynyrd oder eben CCR. Fast alle dieser Platten sind mittlerweile auch in den Streamingdiensten zu finden. Eine Zusammenfassung der vielleicht 20 besten dieser Alben wäre schön gewesen, aber ohne sie kann man sich tagelang mit eigenen Forschungsarbeiten beschäftigen und lernt dabei mehr und Interessanteres kennen.
Das Buch kommt im übrigen mit vielen Fotos daher, die das Blättern zum Vergnügen machen. Ich kenne in deutscher Sprache kein vergleichbar informatives und gut lesbar geschriebenes Buch zum Thema — unbedingte Empfehlung.
Wer dann auf den Geschmack kommt und weiterforschen möchte, sei vielleicht noch auf Ken Burns erstklassige PBS-Serie „Country Music“ von 2019 hingewiesen; mehr dazu hier.
Thomas Kraft:
Americana — Ein zerrissenes Land im Spiegel der Country Music
315 Seiten mit vielen Fotos
Verlag Andreas Reiffer, Meine 2024
ISBN 978-3-910335-25-7, 25 €
5 Kommentare
Michael Engelbrecht
Diese Besprechung war schon mal ein Lesegenuss.
HIER ein Beispiel für einen archaischen Vetreter von „weird americana“, der nun auch achon oft bewiesen hat, dass er old school a la Nashville kann, und das, ohne zur lahmen Ente zu werden. Aus seinem im Januar 2025 erscheinenden Country- oder, ähem, Americana-Album.
Meine meistgespielte „Americana“ Band in 34 Jahren Klanghorizonte ist Wilco. Gefolgt von Lambchop, Lucinda Williams (Essence mein favourite), Will Oldham aka Bonnie Prince Billie, und mehr noch, Smog aka Bill Callahan. Bill Callahan ist mein persönlcher Americana Hero und Lyric und Songwriter. In meinem ranking ist Apocalypse das beste Americana Album aller Zeiten. Neben Pure Comedy von Father John Misty und ein paar anderen….
Aber ist der Begriff trennscharf genug, bei so vielen Mischformen…
Mein Klassenkamerad Klaus hat damals, da genaue Jahr weiss ich nicht, seine Babsi am Tag de Konzerts der Four Highwaymen oder wie sich die Granden nannten, in Las Vegas geheiratet. Eine schönge Geschichte.
(P.S. Klaus Kreuzeder sah ich mal, zumindest glaube ich mich zu erinnern, als Saxofonist von Aera im Rollstuhl sitzend spielen, in Würzburg bei den Falken. Ich schlage nach: er hat dann ja noch sehr lange gelebt.)
Neil Young und Country / Americana .. da verschwimmen mir die Kategorien, ist janauch nucht so wichtig… was ich sagen wollte, das schönste countryeske Album von Neil Young in meinen Ohren, für immer und einen Tag, und damals wie heute, heisst: ……ahhhh, jetzt fällt mir der Albumtitel nicht ein, das mit Four Winds am Ende, was ja auch ein Cover ist….ich sehe das Album vor mir…. Old Ways? …
Michael
Comes a time heißt das tolle coubtryeske Album von Neil Young und ich liebe es immer …. jeden Song bis auf das doofe motorcycle mama 😉
Jan Reetze
Klaus Kreuzeder habe ich auch mehrfach live gesehen. Einmal bei einem Brecht/Weill-Abend im Schauspielhaus mit Eberhard Schoener, Sting, Gianna Nannini, Jack Bruce und Musikern des NDR-Sinfonieorchesters (gibt’s auch auf Youtube), und dann auch mit Aera als Vorprogramm von Steve Hillage in der Hamburger Markthalle. Am Ende spielte dann Aera zusammen mit der Hillage-Band eine Session.
flowworker
In eimer Hinsicht widerspreche ich:
„Man muss sich klarmachen, dass genau diese Widersprüche, diese sozialen und politischen Probleme der Motor sind, der die USA voranbringt. Sie lösen die Kreativität aus, weil man weiß, dass kein Politiker und keine staatliche Stelle kommen und sie lösen wird, sondern dass man sie selbst lösen muss.“
Wenn es dazu kommen sollte, und ich befürchte es, dass Trump wiedergewählt wird, und dazu reicht aufgrund des speziellen Wahlrechts weniger als die Hälfte aller Wählenden, dann ist das eine Katastrophe, die auch mit dem unfassbaren Erfindungsgeist jenseits der Politik, nicht kompensiert würde. Und es wäre ein Armutszeugnis für die USA, wenn ungefähr die Hälfte der Wählenden einen faktischen Lügner, Verbrecher, Faschisten / Rassisten zur zweiten Präsidentschaft verhelfen würde. Einen Trump man/ frau nur wählen, wenn man mit einem frappierenden Mangel an emotionaler Intelligenz resp. vergleichbarer Niedertracht ausgestattet ist. Oder eben Opfer von Desinformation ist. Oder nur auf den Erhalt eigener Privilegien achtet. Insofern ist das mit der Zerrissenheit schon eine traurige Wahrheit. Und dass dieser Soziopath, dem auch zunehmend jede Form geistiger Klarheit abhanden kommt, wieder an die Macht kommen kann, ist schlictweg ERSCHÜTTERND. (m.e.)
Dazu HIER mehr…
How Trump talks: Abrupt shifts, profane insults, confusing sentences
The Republican presidential nominee calls it “the weave” and a sign of a brilliant mind, but his remarks at recent public appearances have been strikingly erratic and coarse. (washington post)
Um in deinem zitierten Bild zu bleiben: 2016 sorgt man für das Erdbeben, und in der Folge steigerte es sich noch mal nach und nach. Die Wiederwahl wäre dann der ultimative Irrsinn, mit fatalen Folgen für die demokratischen Potentiale der USA. Und für einen beträchtlichen Teil vom Rest der Welt.
Jan Reetze
Die Frage, wie es möglich sein konnte, dass ein Vollpfosten wie Trump auch nur in die Nähe des Präsidentenamtes gelangen konnte, stellt sich derzeit halb Amerika. Im Augenblick würde ich keinerlei Prognosen mehr abgeben, wer gewinnt.
Sicher ist allerdings, dass das Kapitel Trump nicht erst 2016 angefangen hat, sondern bereits vor mindestens 20 Jahren mit dem Aufstieg der Tea-Party-Bewegung im Umfeld der GOP. Man hat leider verabsäumt, sie damals zu bremsen. Und nun haben wir den Salat.
Aber auch in puncto Wahlen sollte man nicht den Fehler machen, deutsche Maßstäbe an amerikanische Wahlen anzulegen. Weder ist die Funktion und Bedeutung des US-Präsidenten vergleichbar mit der des deutschen Bundeskanzlers, noch lassen sich die Parteien ohne weiteres mit den deutschen vergleichen. Die Demokraten entsprechen nicht der SPD, die Republikaner nicht der CDU; eher kann man die Demokraten mit der CDU vergleichen, die Republikaner sind irgendwo rechts davon angesiedelt. Die Leute wollen, wie gesagt, nicht, dass ihnen die Poltik zu dicht auf den Leib rückt, deswegen sind die USA grundsätzlich sehr konservativ. Man will möglichst keine Änderungen. Und es gibt eine allgemein gültige Smalltalk-Regel: No politics, no religion. Daran halten sich die Leute, deswegen erlebt man hier nur selten hitzigere Politikdebatten.
Die Bundesstaaten spielen hier für den Alltag die viel größere Rolle als die Bundespolitik. Das Wahlsystem der USA war zu Zeiten der Pferdekutsche sinnvoll, heute ist es veraltet und hat zur Folge, dass Wählerstimmen in verschiedenen Bundesstaaten nicht dasselbe Gewicht haben. Das System lässt sich aber nur ändern, wenn alle 50 Bundesstaaten einem neuen Wahlsystem zustimmen. Da können wir lange warten.
Und lass uns eines nicht vergessen: Die Amerikaner haben schon mehr als einmal ziemlichen Unsinn gewählt, man denke etwa an die McCarthy-Ära. Aber bis jetzt haben sie es immer geschafft, ihre Fehlentscheidungen auch selbst wieder zu korrigieren, wenn’s zuviel wurde.
Übrigens habe ich mir vorgenommen, wenn Kamala gewinnt, mich endlich mal um die Staatsbürgerschaft zu kümmern. Also, Kamala, Du weißt, worum es geht!