Eine Art Unverwundbarkeit

Vielleicht ist meine Sendung über Brian Blade noch irgendwo vorhanden in den Archiven des Deutschlandfunks. Um Mitternacht herum, nach seinem Auftritt im Quartett von Wayne Shorter in der Kölner Philharmonie, sassen wir in einer kleinen Ecke am Ende des Flurs in einem nahgelehenen Hotel , und ich stellte die Fragen, die man stellt, wenn man in 55 Minuten Radio einen grossartigen Schlagzeuger und seine Vita nahebringen möchte. Ein Teil des Gesprächs drehte sich um seine Aufnahmen mit Dan Lanois, ein Teil um seinen Mentor Ed Blackwell, auch dessen fantastische Duoalben an der Seite Don Cherry (MU und EL CORAZON), wir sprachen über die tiefen Spuren, die frühe Jahre in New Orleans hinterlassen haben, und über den kaum fassbaren Zauber des Wayne Shorter Quartetts. Unspeakable, and all happens without a net.

Ich hatte Wayne bereits backstage 10 Minuten interviewt, und wusste damals noch nicht, dass seine kryptischen, surreal anmutenden Antworten Teil seines Spiels waren, selber eine gewisse Freude an solchen Befragungssituatuonen beizubehalten. Die Vier sind meines Wissens nie ins Studio gegangen, ihre an Zahl recht überschaubaren Werke sind allesamt Dokumente von Liveauftritten. Als Wayne mit seiner Frau alte Aufnahmen, diesseits und jenseits dieser Band (die ich zu den aufregendsten längerlebigen „Saxofon-Viererbanden“ der Historie zähle, in drei Atemzügen mit dem „amerikanischen“ Quartett von Keith Jarrett, und dem John Coltrane Quartett) für die Zeit nach seinem nahenden Tod durchging, fiel die erste Wahl auf „Celebration, Vol. 1“, aus Kopenhagen. Let‘s talk great double albums in jazz history. Circle – Paris Concert, for example.

So, und langsam komme ich zum Kern dieser Tagebuchnotiz. Ich lege jedem Leser und jeder Leserin dieser Zeilen die Idee ans Herz, sich die Musik als Doppel-Cd oder Doppel-Lp zu besorgen, an einem Abend alle Störfelder zu beseitigen, sanftes Licht oder Dunkelheit herzustellen, und den Kopenhagener Auftritt von 2014 auf sich wirken zu lassen. Nicht als posthume Dankbarkeitserweisung, sondern, weil ich ja nicht der einzige bin, der hier etwas Besonderes erlebt hat und erleben wird. Natürlich sollte man eine grundsätzlich Lust an solch offenen, raffinierten, abzweigungsfreudigen Improvisationnen haben. Alles fliesst, alles mäandert.


Am liebsten würde ich hier die Geschichten solcher privater Hörabende lesen, sollten die Michaels (und der Wolfgang) aus Saarbrücken und Bremen, Toni aus Ostfriesland, Norbert aus Hamburg, klar, Ulrike aus Düsseldorf, Lorenz aus Leinfelden-Echterdingen, Andreas aus Ostrwalhausen (oder wie das Kaff heisst), alle anderen El Hierro- und Lanzarote-Reisenden der nahen Zukunft, und ein paar Flowworker sich auf diese wunderbare Klangreise begeben. Einfach nur die Begleitumstände, die Randdaten, den jeweiligen Hörraum, die Stimmung vorher und nachher. Die Vorbereitungen. Der ausgewählte Wein, oder andere massvoll eingesetzte Drogen. Das Foto zeigt übrigens unsere sehr relaxte Katze Fusel, in einer kleinen Pause, nachdem sie die ersten zwei Seiten des Doppelalbums gehört hatte. Nur so eine Idee, am besten gleich vergessen, oder auch nicht. Free choice, time for improvisors!

Ich ertappte mich jedenfalls dabei, über weite Strecken völlig sprachlos zu sein. Das Wort sublim wird vielleicht auftauchen, wenn ich im Radio dazu ein paar Sätze sage. Würde die Welt hinter Tonis Fenster, wie vor zwei Jahren, wieder mal tiefdunkel werden (in shocking moments while time stands still and nature forgets breathing), und ein Baum von einem Tornado der Stufe F2 aus dem Erdboden gerissen, er würde, mitten in „Orbits“, einfach nur weiter atmen, wohlwissend, dass seine Bande, Frau und Hund, nebenan weilen, keinerlei Furcht empfinden: zuweilen gewährt Musik wie diese ein tiefes Empfinden von Unverwundbarkeit. It sends you places.

12 Kommentare

  • Michael Engelbrecht

    Die legendären Zeiten von Blue Note sind viele Jahrzehnte her. Aber, neu aufgestellt mit altem branding, liefert das gutbbetuchte Label derzeit grossartige Musik in kurzer Abfolge, wie in den alten Zeiten halt. Und ich kann mich nicht erinnern, jemals in meinen Top 25 drei oder vier Alben des Labels aufgeführt zu haben. 2024 haben Charles Lloyd, Shabaka, und Wayne S. Ihren Platz schon sicher, und eine weitere Kandidatin, Meshell Ndgeocellos opulente Hommage an James Baldwin (auch ein Doppelalbum) könnte sich da noch einreihen.

    Bin gespannt, was Ingo vielleicht dazu erzählen wird, zumal er die Basisstin evtl. live in Berlin hören wird. Er hat mir ein paar Fotos aus seinem Urlaub gesendet, von dunklen Wolken und verregneten Fjorden. Läge ich beim Anschauen eines seiner Bilder auf der Couch, würden mir in freier Assoziation folgende Begriffe in den Kopf kommen: Windharfe, Dis, Jan Garbarek, Terje Rypdal, Waves. Solstice. Ralph Towner, Wangerooge. Transistorradio.

  • Michael Engelbrecht

    Wir spielen ja gegeneinander am Samstag um 15.30 Uhr, und meine verlässliche Voraussage ist, dass ihr nicht verlieren werdet. Ich fand es falsch, Emre Can wieder zum Kapitän zu machen, was einer Einsatzgarantie nahekommt. Bei allem Respekt, statt seiner sollte Marcel Sabitzer als box to box Spieler eingesetzt werden und nicht irgendwo im Nirgendwo links platziert werden. Der BVB ist noch ein neues fragiles Gebilde nach dem Transfersommer, und ich glaube nicht, dass wir hier in naher Zeit ein grosses Spielfeuer anzünden. Guirassy hätte ich nie geholt, eine tolle Saison, zuvor gar nix, und dann massiv verletzungsanfällig. Könnte so eine Enttäuschung werden wie Felix Mnecha, von dem gar nichts kommt. Alle schwärmen hier von Maxi Beier, den ich kaum kenne, on va voir. Mein neuer Lieblingsspieler ist, neben Jule Brandt, Pascal Gross, nachdem Lücke nicht mehr da ist.

  • Michael Engelbrecht

    Nein, der BVB macht das nicht. 100 Euro-Wette.

    Aber wenn du mir „deinen Abend mit Wayne“ schickst, bis Mitte September bekommst du eine tolle Schallplatte von dem Label mit den drei Buchstaben, die ich versehentlich doppelt habe…

  • Norbert Ennen

    Wayne-Klangreise steht bevor. Label mit drei Buchstaben? Keine Ahnung. Trotzdem Vorfreude.

  • Michael Engelbrecht

    ECM, ich nahm die Umschreibung von Henry:)

    Es gibt seit einiger Zeit gute bis fabelhafte Duoalben bei ECM, angefangen bei Fred Hersch und Enrico Rava über Henriksen / Fraanje, bis hin zun den anstehenden Duos Sclavis / Moussay sowie Trygve / Frode….

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