July Listening III

So wie sich die Arme des Flusses gleich einem verschlungenen Labyrinth tief in die Dunkelheit der Erde winden, so scheinen sich auch die Klänge der beiden vorliegenden Alben von Baikida Carroll („Orange Fish Tears“, 1974) und Rafael Toral („Spectral Evolution“, 2024) zu verästeln. Verschiedene Töne und Geräusche mischen sich, verschiedene Instrumente bilden ein Geflecht, aus dem die Zuhörer*innen die Musik als Ganzes erschaffen – oder zumindest das, was wir dafür halten (nicht alle in diesem Haushalt bezeichnen die Klänge als Musik).

„Orange Fish Tears“ könnte man benutzen um Menschen mit Free Jazz bekannt zu machen. Ob die dann gleich begeistert reagieren, sei mal dahingestellt – aber es ist doch ein relativ leicht zugängliches Album. Im ersten Stück formen sich Perkussionsinstrumente zu einem Fluss zusammen, über den zwei Blasinstrumente majestätisch schweben. Im zweiten Stück beschwören die Musik mit ekstatischen Rhythmen und solistischen Passagen den Waldskorpion. Die zweiten Seite (wieder mit zwei Stücken) startet mit einem langen Dialog zwischen Trompete und Saxophon etwas ruhiger, danach wird der Porte D’Orléans (ein Verkehrsknotenpunkt der Métro in Paris) heraufbeschworenen. Insgesamt eine vergnügliche Achterbahnfahrt – besonders das erste Stück ist pure Magie.

Über „Spectral Evolution“ hat Michael bereits geschrieben. Wieder handelt es sich um experimentelle Musik, zu der man mit etwas Geduld und Offenheit leicht einen Zugang findet. Rafael Toral ist Gitarrist und spielt auf diesem Album noch Bass und „electronic instruments“. Er ist ein Klanggärtner, in dessen Beeten Form, Wachstum und Chaos unterschiedlich eingesetzt werden. Immer wieder gibt es Momente der Deutlichkeit – eine Klangfläche, die sich langsam ausbreitet und verändert, eine elegische Gitarrenfigur – die aber dann überwuchert werden von farbigen Klängen, die sich scheinbar unkontrolliert in alle Richtungen ausbreiten, Wege und Mauern überwuchern, sorgfältig angelegte Beete erweitern – um dann wieder eingefangen und beschnitten zu werden. Auf dieser Schallplatte passieren unendlich viele Dinge, man wird von Kleinigkeiten überschwemmt, kann sich kaum satthören an den unterschiedlichen Harmonien, Klangtexturen und -farben. Ein üppiges Album, ein Klanggarten, der in einem extrem fruchtbaren Jahr in voller Pracht und Blüte steht.

3 Kommentare

  • Michael Engelbrecht

    Nie von Orange Fish Tears gehört. Werde mal hören, Richtung JazzFacts, wie aktuell und jazzhaltig sie ist …. somst muss sie mir nur noch sehr gefallen:)

    Rafael Torals Werk eine Platte für aufregend-meditative Stimmungen…

  • Olaf Westfeld

    https://soufflecontinurecords.bandcamp.com/album/orange-fish-tears

    Sehr jazzhaltig, nicht wirklich aktuell – wobei die Aufnahmen vor genau 50 Jahren waren. Und Nana Vasconcelos ist dabei – also Grund genug 😉

    Aus dem Bauch eine Pitchfork Wertung meiner sechs July Listenings (plus ein Bonus, über den ich nichts geschrieben habe). Alle Alben wurden mehrmals in unterschiedlichen Situationen gehört (mal sehr genau, mal flüchtig)

    Cherry / Khan 8.6
    James Newton (sehr speziell, deswegen schwer zu werten, mal 6 mal 9.8)
    Orange Fish Tears 8.5
    Rafael Toral 8.6
    Holger Czukay 8.0
    David Torn 7.7
    Special Edition (Jack DeJohnette) 8.5

  • Michael

    Ancient stuff also …

    Ich höre hier auf der Insel nur wenig, mit Absicht. Gestern kam allerdings Jon Hopkins‘ Neue als Stream von Domino … das wird was für meinen klassischen Strandkorbtag.

    Ansonsten hörte ich in letzter Zeit vor allem die diskret fantastische Cd Muntjac von Clevelode.

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