“All these blue moments“
Ich erinnere mich an den Pausenhof des Max Planck-Gymnasiums, 15 Minuten zu Fuss vom Stadion Rote Erde entfernt, wohin wir ab und zu zum Training hingingen, und ich endlich ein Autogramm meines grossen Helden Hans Tilkowski bekam. Ich erinnere mich, wie Klaus, unser bester Gitarrist, immer wieder die berühmten „Ba Ba Ba‘s“ von „Barbara Ann“ intonierte, und wir mit Leib und Seele die Mehrstimmigkeit probten. Wir waren offen für die kalifornischen Botschaften der Beach Boys. Den Beatles standen sie viel näher als die Stones, und man weiss, was Brian Wilson alles anstellte, um ein transatlantisches Pendant von Sgt.Pepper zu entwickeln.
Ich erinnere mich, wie ich 1990, um Mitternacht herum, John Zorn nach einem Konzert mit „Naked City“, in seinem Mannheimer Hotelzimmer interviewte, und er mir seine Version der tiefen Melancholie vieler Brian Wilson-Songs kundtat, eine abgrundtiefe Tottraurigkeit, die sich in vielen Winkeln der Lieder verbarg und, als Unterströmung, die Klänge von Glück, Strand und Liebe dezent aushebelte, und die so viel früher, als es die späteren Hollywood- und Drogendramen besorgten, manch naive Hippieträume zu Grabe trug.
Vielleicht habt ihr „Love and Mercy“ gesehen, das Brian-Wilson-Biopic von 2014: da gibt es einen Moment, in dem sich Paul Dano als junger Brian ans Klavier setzt und einen Song spielt, den er gerade geschrieben hat. Als seine Hände die ersten Akkorde von „God Only Knows“ spielen, überkommt uns ein Gefühl des schieren Staunens. Ich meine, woher kamen diese Sachen, diese Stimmlagen, diese Progression, diese Melodie?
Darüber und über vieles andere habe ich nachgedacht, als ich Anfang des Monats las, dass Brian aufgrund seiner fortschreitenden Demenz und nur wenige Wochen nach dem Tod seiner zweiten Frau Melinda unter eine formelle Vormundschaft gestellt worden war. „Won’t last for ever“, sang er 1964 mit großer Voraussicht auf einer großartigen Single. Sechzig Jahre später hat ein Gericht in L.A. entschieden, dass seine persönlichen, medizinischen und finanziellen Angelegenheiten von nun an unter der Kontrolle seiner Familie und seiner Freunde stehen.
Im Auto hörte ich an diesem Tag einige Lieblingslieder, von „Surfer Girl“ bis „Surf’s Up“ und darüber hinaus. „Please Let Me Wonder“. „Wendy“. „Girls on the Beach“. „Caroline, No“. „When I Grow Up (To Be a Man)“. „Let Him Run Wild“. „The Little Girl I Once Knew“. „She Knows Me Too Well“. „The Warmth of the Sun“. „Kiss Me Baby“. Und natürlich „Don’t Worry Baby“, das wahrscheinlich mehr von der Essenz in einem einzigen Stück zusammenfasst als alle anderen: die sonnengeküssten Harmonien, die Autos, die Mädchen, die jugendliche Verzückung und die narürlich wieder unterschwellige Traurigkeit. Und die Art und Weise, wie Brian anfing, die Standardbesetzung Gitarre-Tasten-Bass-Schlagzeug wie eine neue Art von Orchester klingen zu lassen.
Und dann sah ich mir „The Beach Boys“ an, eine neue 112-minütige autorisierte Dokumentation unter der Regie von Frank Russell und Thom Zimny, die die Geschichte der Gruppe von ihrer Gründung in der Garage der Familie Wilson in Hawthorne, Kalifornien, im Jahr 1961 bis zum Comeback in den frühen 1980er Jahren erzählt. Als Stream könnt ihr euch das jetzt auf Apple + anschauen. Eine sinnvolle zeitliche Einschränkung, auch wenn sie bedeutet, dass Brians Renaissance im 21. Jahrhundert mit den Pet Sounds-Konzerten und der SMiLE-Neuauflage ausgelassen wird. Ich sah Brian Wilson damals in der Frankfurter Oper, und es war sehr speziell. Nun, ich habe hier eigene Erinnerungen mit dem neuesten Text von Richard Williams verwoben. Nebenan zu lesen in seinem Blog „The Blue Moment“. Es gab bekanntlich schon viele Filme über die Beach Boys, und dieser hier ist sehenswert allein wegen seiner Fülle an Archivmaterial, auf und abseits der Bühne. Und nicht nur deshalb. All these blue moments, you know what I mean. Allerdings verdanken sich diese „blue moments“ nicht einer kritischen Reflexion, da gehen die Macher eher mit Märchenonkelnbrille ans Werk, sondern unserem „Lesen zwischen den Bildern“. Das sanfte Erschauern beim Eintauchen in alte Zeiten. The impact of childhood and singing „Barbara Ann“ on the schoolyard.
2 Kommentare
Jan Reetze
Ich wusste gar nicht, dass Brian Wilson unter Vormundschaft steht. Das ist erschreckend. Aber was hilft’s, wir werden alle nicht jünger …
Michael Engelbrecht
Da war auch früher schon dieser übergriffige Psychiater, der die Autonomie von Brian Wilson massiv einschränkte. Diese neue Doku ist, was ihre Schwäche ist, nicht von der Sorte, dass sie kritisch reflektiert…. sie lässt die Bilder und Klänge und Stimmen sprechen, und man bekommt schon, mit etwas Hintergrundwissen, mit, wer sich da „hochsterilisiert“ (Bruno Labadia).
Ein alter Freund aus Studentenzeiten war grosser Fan, und ich immer an der Story von SMILE interessiert. Und dann erlebten wir Brian, wie SMILE (rekonstruiert) live aufgeführt wurde in Frankfurt. Zwar wurde das Album dazu in der Presse gefeiert, aber ich hatte bei der Musik und dem Konzert von Anfang an ein zwiespältiges Gefühl.
Alles war so hochglänzend und auf Perfektion aus, die Verwundbarkeit der Klänge von einst ging verloren. Es war eher wie ein Besuch in der Oper, im Museum: alte Träume zur Schau gestellt, aber irgendwas ging verloren on the long way through time…. meine Meinung war wohl ein Minderheitending, aber ich erzählte diese Story nachts und überblendete die alte Magie und ihre Rekonstruktion in einer alten Klanghorizonte Nacht.
Diese Doku habe sich ch gerne gesehen, und manchmal eine Gänsehaut bekommen. Wie Godard einmal sagte, ein Lieblingsspruch: Kino heisst, dem Tod bei der Arbeit zusehen. Bei dieser Doku passiert das, ohne alle Absicht der Macher, auch…so ein Film erzählt auch eine Story von den Älteren unter uns:)