Die Unschärfe der Porträts, und andere Berichte über Beth

Aus Paris: „Sie macht das Beste aus einer Mischung aus Flüchtigkeit und absoluter Präsenz. Sie hat etwas von Miles Davis‘ kühler Weigerung, für die Galerie zu spielen, und wendet sich am Ende eines Songs oft vom Publikum ab, als ob sie aus der hinteren Reihe ihres Orchesters Kraft schöpfen würde. Dies mag einer der Schlüssel zu ihrer einzigartigen Anziehungskraft sein. All dies ist bei ihrem Auftritt zu erleben, einem Spektakel, das auf mutiger Selbstoffenbarung und selbstverleugnender Zurückhaltung beruhte, mit einem natürlichen Charme, der alle Qualitäten eines echten Zaubers besaß.“

Aus Zürich: „Und stets verzichtet sie auf das Rampenlicht. Ihr zurückhaltendes, schemenhaftes Auftreten erinnert bisweilen an eine Nonne, manchmal gar an einen Zombie. Mit gekrümmten Schultern, von Schatten umfangen, steht sie vor dem Mikrofon, an das sich ihre gefalteten Hände klammern. Die Strähnen fallen ihr so tief ins Gesicht, dass ihre Mimik verborgen bleibt. Nur selten scheint ihr ein Luftzug ein paar Lichtstrahlen ins Gesicht zu wehen, was ihr einen umso gespenstischeren Ausdruck verleiht. Geht das Licht an, am Ende, verwandelt sich die 59-jährige Künstlerin in eine lächelnde Frau, die zwar Bescheidenheit ausstrahlt, aber auch Selbstbewusstsein, und Gelassenheit.“

Aus Brüssel: Das wird spannend, wenn wir auf die Gästeliste kommen. Die wenigen Sätze, die sie über ihr Album preisgab, finden sich alle in der offiziellen Verlautbarung ihres Labels. Der Rest wird, ebendort, von James Ford und Lee Harris beigesteuert, die etwas von dem mitteilen, was Beth während der Produktion, im Studio, gesagt haben soll. Tolle one-liner dabei. Das war brilliante Promotion, eingedenk der Tatsache, dass sie strikt jedes Interview verweigert. Ich werde sie, ohne wie ein Idiot zu wirken, in der Lobby des Hotels ansprechen. Ergibt sich ein richtiges Gespräch, werde ich zwei Alben ins Spiel bringen, die bislang in der Rezeption von „Lives Outgrown“ unerwähnt geblieben sind: „Le mystère des voix bulgares“ und „Wicker Man O.S.T.“ Und die Unschärfe ihrer Porträts in freier Natur. Ansonsten wird es eine Kurzgeschichte.

Kleiner Anhang: Es ist interessant, wie KünstlerInnen zu Proktionsflächen werden, und umso mehr noch, wenn sie sehr zurückhaltend sind, keine Interviews geben. Dann mischen sich Fantasien / Zuschreibungen selbst in den Versuch von möglichst sachlichen Besprechungen. Ein Zombie? Eine Nonne? Was da alles so an Bildern ins Kraut schiesst! Zudem wird bei Beth Gibbons gerne diskutiert, ob sie an Depressionen leide, oder eine depressive Grundstruktur habe. Wenn jemand depressiv ist, sind Konzerte wie die, die sie in der Gegenwart abgliefert, gar nicht möglich. Dieser „élan vital“ würde ihr komplett abgehen.

Seit ich mich mit „Lives Outgrown“ befasse (der Titel selbst wie die Musik selbst, sprechen für gelungene, mitunter schmerzhafte Metamorphosen), habe ich ein paar alte Stories gesichtet, und vor allem die Fotografien genau angeschaut, die im Umlauf sind, von ganz frühen Jahren bis heute, und auch die Konzertaufzeichnung aus Roseland, NYC, der wir ein beeindruckendes Portishead-Album verdanken. Egal, wie dunkel viele ihrer neuen Lieder sind, ihnen ist dermassen viel Kraft zueigen, dass es eher eine Frage des Mutes ist, wie sehr man in sie eintaucht. Oder es bei hünschen sanften Schauern belässt. Ich bin ganz sicher, in einem Gespräch würde sie kein besonderes Image von sich mühevoll transportieren. Allürenfrei ist das Wort. Sie wäre auf natürliche Weise nachdenklich, klar, ohne selbstverliebten Schnickschnack. Eine normale Person mit aussergewöhnlichen Gaben. Einmalig wie wir alle. Raucht sie eigentlich noch? Wenn Lukas von Domino mir zwei Pressekarten besorgt für Brüssel, werde ich das natürlich rausfinden.

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