The Sky Will Still Be There Tomorrow 

Meine Frau gehört zu den Menschen, die beim Stichwort „Jazz“ eher distanziert reagieren. Freiwillig würde sie nie auf ein Jazzkonzert gehen, aber immer wieder haben gute (musik- und kunstliebhabende) Freunde uns zu Jazzkonzerten mitgenommen (wo sie oftmals ihre Vorbehalte bestätigt findet), da einer dieser Freunde gut vernetzt in der Berliner Jazzszene (bzw. einem bestimmten Teil davon) ist und diese Musiker gerne auch mal einlädt, bei seinem Geburtstag zu spielen. Die „Jazz“-Musik von bspw. ECM ist diesem Freund eher zu sphärisch und zu wenig kraftvoll, Gruppen wie Art Ensemble of Chicago ausgenommen. Selbst leidenschaftlicher (wenn auch nicht professioneller) Saxofonist, verirrte er sich vor ein paar Jahren in ein Konzert von Charles Lloyd, bei dem der Altmeister mit Zakir Hussain spielte – und spricht bis heute davon, dass das Konzert wie „Don Cherry auf Valium“ gewesen sei (wenngleich er das Können der Musiker nicht in Abrede stellt).

Ich erlebte Lloyd im gleichen Saal – der Pierre Boulez Saal eignet sich hervorragend für diese Art von Musik – zwar nicht bei diesem Aufritt, aber bei anderen, u.a. einmal mit dem „Chapel Trio“, mit Bill Frisell und Thomas Morgan, und zuletzt mit dem „Ocean Trio II“, d.h. Gerald Clayton und Marvin Sewell, plus Jakob Bro als Special Guest. Vor einem Jahr nahm ich meine Frau in einen Film mit – Music for Black Pigeons – ohne ihr zu sagen, worum es geht, schon gar nicht verriet ich, dass es ein Dokumentarfilm über (ältere) Jazzmusiker ist. Das Ende vom Lied war, dass sie vollauf begeistert von dem Film war und ihn seitdem jedem aus vollem Herzen empfiehlt. Außerdem hat sich seitdem ihr Verständnis von „Jazz“ geändert, sie hat sich im Anschluss sehr gerne in meine Jakob-Bro-CD-Sammlung gestürzt und großen Respekt für die älteren Herren in diesem Film gewonnen.

Als eben Ende des letzten Jahres Charles Lloyd mit Jakob Bro nach Berlin kam, konnte ich sie dort also gerne mit hinnehmen, und sie war ebenfalls sehr begeistert von dem intensiven Abend mit dem 85 Jahre alten Wahlkalifornier. Im Pierre Boulez Saal wird immer streng darauf hingewiesen, dass man keinesfalls das Mobiltelefon herausnehmen dürfe, und schon gar nicht dürfe man fotografieren oder „filmen“. Ich weiß nicht wie, aber irgendwer „filmte“ offenbar das komplette Konzert, wie diese Aufnahmen bei YouTube zeigen — und wie es aussieht, saß er fast genau dort, wo wie saßen. Vielleicht hinter uns? Diese Videos zeigen sehr schön, wie Lloyd seinen Musikern immer viel Raum gibt und selbst oftmals über längere Strecken nur dabei sitzt, bevor er wieder mit dem Saxofon oder der Flöte einsteigt. 

Nach dem Konzert wechselte ich wie häufiger ein paar Worte mit Jakob [der, nur nebenbei bemerkt, fast auf den Tag gleich alt ist wie ich, nur vier Tage unterscheiden sich zwischen unseren Geburtstagen], und da erzählte er mir, dass er in der darauffolgenden Woche mit Charles Lloyd in Kopenhagen ein Duoalbum aufnehmen würde. Als wir uns letztens im Februar wieder im Pierre Boulez Saal trafen (als er diesmal mit Ambrose Akinmusire und Gregory Hutchinson die Stücke aus dem Album Owl Song spielte), bestätigte er, dass die Aufnahmen gut gelaufen seien, aber er konnte leider keine Angabe dazu machen, ob wir nochmal die Chance bekommen, die beiden gemeinsam auf der Bühne zu erleben. In jedem Fall würde ich, sollte es noch einmal möglich sein, ohne zu Zögern Karten für Lloyd in irgendeiner Gruppe kaufen. 

Heute feiert er seinen 86. Geburtstag, und zu diesem Anlass erscheint sein neues Album The Sky Will Still Be There Tomorrow, mit einer All-Star-Besetzung — Jason Moran, Larry Grenadier und Brian Blade. Auch wenn wir von Lloyd in den letzen zehn Jahren, seit seinem letzten ECM-Album (der Duo-CD mit Jason Moran), im Schnitt jedes Jahr eine neue Platte geschenkt bekamen, bietet dieses Doppelalbum seine ersten Studioaufnahmen seit 2017 (als Vanished Gardens eingespielt wurde). Die 15 Stücke bieten sechs neue Kompositionen, vermutlich während der Corona-Zeit (die seine Frau Dorothy in einem vom Pierre Boulez Saal finanzierten und dort vorgestellten Dokumentarfilm mit der Kamera begleitete) geschrieben, sieben Neueinspielungen von Stücken, die auf früheren Alben bereits auftauchten, und zwei neue Interpretationen traditioneller Lieder. „Charles Lloyds […] neues Album [ist] ein Meisterwerk voller Wärme und fröhlichem wissendem Optimismus […] und schöpft aus den Klängen und Schwingungen seines ganzen Lebens“, schreibt Mauretta Heinzelmann. „The Sky Will Still Be There Tomorrow stands as one of his best late-career master works.“ schreibt heute Thom Jurek über das Album und vergibt 4,5 Sterne, John Fordham gibt im Guardian sogar 5. Ich glaube, dem muss ich vollauf zustimmen, auch wenn ich es gerade erst zum ersten Mal höre. Die souveräne Vielseitigkeit und Ruhe des späten Charles Lloyd, wie ich sie sowohl in seinen Konzerten als auch auf seinen letzen Alben (u.a. dem „Trio of Trios“) erlebte, zeichnet diese gut anderthalb Stunden sehr aus. 

Heute Abend war ich im übrigen, hier die Straße runter, mit eingangs erwähnten Freunden in einem Jazzclub-Konzert von Dave Douglas, der seine Band „Gifts” präsentierte, mit der er, auch auf dem Album, das offiziell Mitte April erscheint (aber heute schon erhältlich war), neue Kompositionen spielt, die vom Leben und der Musik Charles Lloyds inspiriert sein sollen – so die Beschreibung des Konzertprogramms: Das „Gifts Quintet” reflektiert die Weisheit, Vision und Positivität des Komponisten und Saxophonisten auf innovative Weise und erforscht insbesondere Lloyds Faszination für die Musik von Billy Strayhorn. Der Klang des Quintetts konzentriert sich auf die Liedform und erforscht deren Möglichkeiten auf so noch nie gehörte Art und Weise. Ich habe das zwar so deutlich in dem Auftritt nicht herausgehört, habe aber die CD mitgenommen und bin gespannt, wie sich diese hochspannende, facettenreiche Besetzung auf dem gut einstündigen Album macht (James Brandon Lewis, Ian Chang und Rafiq Bhatia; live war noch Tomeika Reid dabei). Fürs erste nun aber: The Sky Will Still Be There Tomorrow — aber wenn Charles Lloyd morgen noch unter uns ist, muss man mit jedem neuen Tag von neuem dafür dankbar sein. Immerhin dürfen wir uns noch auf und über neue Musik des Altmeisters freuen. 

7 Kommentare

  • Michael Engelbrecht

    Was für ein verzweigte Jazzgeschichte, bei der ich in einigen Räumen gern dabei gewesen wäre. Ich hörte, als das Label den Stream schickte, THE SKY WILL BE THERE TOMORROW, erstmals im Toyota zwischen Aachen und Dortmund, und war begeistert von allen Vieren die da mitwirken. Komplette Hingabe.

    Wenn man bedenkt, dass die Geschichte von uns älteren Jungs mit Charles einst in bunter Hippievorzeit begann, mit einem Album namens Sombrero Sam😉… schon damals ein grosses Quartett mit Keith J Jack DeJ und Ron McC. As time goes by… umd 86 ist er nun.

    Die Doppel-Cd kam gestern, und eins ist klar, sie ist sooo gut, dass mir nie der Satz über die Lippen käme, eine einzelne Cd hätte auch gereicht… über die Jahrzehnte haben sich ja so ein paar CL Lieblingsalben bei mir rauskristallisiert, zu denen man besonders gern zirückkehrt… diese Arbeit gehört nun dazu.

  • Lajla NizinskiMaciejowski

    So wie deiner Frau ging es mir auch mit dem Jazz. Ich bin Henning sehr dankbar dafür, dass er meine Kritiken, Ansichten und “ Niederschläge“ geduldig aufnahm und seine Jazzkentnisse und Jazzmusikbegeisterung bei mir fruchteten. Die vielen kleinen Konzerte, die ich mit ihm besuchte, waren immer Neuland für mich. Zwar bin ich immernoch zuallererst Country and Bluesfan, aber inzwischen gehe ich auch in Jazzkonzerte, besonders angetan haben es mir hier der Jazzgitarrist Torsten de Winkel und der Saxophonist Kike Perdome.

  • Olaf Westfeld

    Schöne Reise durch Zeiten und Räume. Von Herrn Lloyd kenne ich nur diese Live Album aus den 60ern (das bekannteste?) mit Keith Jarrett – vielleicht greife ich ja hier mal zu. Etwas anderes: bist Du im April bei The Necks im Heimathafen Neukölln, Ingo?

  • radiohoerer

    Hier ein Tipp zu Charles Lloyd.

    BBC Radio 3 J to Z: Charles Lloyd’s inspirations
    Julian Joseph präsentiert ein intimes Interview mit dem legendären Saxophonisten Charles Lloyd, der über die Musik spricht, die ihn sein ganzes Leben lang beeinflusst und inspiriert hat – von seiner Schulzeit, in der er mit dem großen Blueser Howlin‘ Wolf spielte, über seine frühen Jazz-Idole bis hin zu der Musik, die ihm während seines jahrzehntelangen spirituellen Rückzugs nach Big Sur Kraft und Trost gab.

  • Ingo J. Biermann

    Hallo Olaf,
    ich kann mir vorstellen, dass dir von Charles Lloyd (aus den letzten zehn Jahren) die Alben mit den „Marvels“ (Bill Frisell, Greg Leisz, Reuben Rogers, Eric Harland) gefallen könnten; die sind eher pop-nah, und haben vereinzelt singende Gäste wie Lucinda Williams oder Norah Jones. „Vanished Gardens“ ist ein großartiges Album. Unter seinen ECM-Alben (1989 bis 2013) gibt es auch sehr viele sehr gute, u.a. spielten oft Bobo Stenson, Billy Hart und Anders Jormin mit – vielleicht ist „Canto“ eines der besten. Später dann mehrere mit Grenadier, Higgings, Abercrombie, Mehldau. Ich glaube, „Voice in the Night“ oder/und „Lift every Voice“ wären noch Empfehlungen.

    Zu den Necks möchte ich tatsächlich gerne gehen, zögere seit längerer Zeit … Eigentlich fand ich so 25 bis 30 Euro im letzten Jahr so das Maximum für Improv-/Jazz-Konzerte dieser (Bekanntheits-)Größenordnung; mittlerweile geht oft kaum noch was unter 35, was ich mir zuletzt so als grobe Grenze gesetzt hatte (Dave Douglas, Chris Potter Trio, Notwist, Lloyd, Neubauten in 2 Wochen…).
    Aber bei über 40, wie jetzt bei den Necks oder auch für Frisell im Mai, da muss ich schon schlucken… irgendwo muss man dann überlegen, wie viel Geld man für Konzerte ausgibt, denn es gibt aktuell einiges, was ich im Frühjahr gerne besuchen würde (Frisell, Necks, Dave Holland Trio, Mehldau Trio…), aber alles über 40 bis über 50 kostet; daher ist es schwer für mich, da fällt es schwer, das eine gegen das andere aufzuwiegen, weil alles geht halt nicht 🙂 Ich werde dann vielleicht via Kleinanzeigen.de oder spontan vor der Halle schauen oder vielleicht erwischt mich ein schwacher Moment und ich kaufe dann.

  • Michael Engelbrecht

    Charles Lloyd hatte nach seinem Comeback bei ECM, und später bei Blue Note, alle künstlerischen Freiheiten, und dankte es den Labels mit durchweg beeindruckenden Alben… für mich waren seine Werke allesamt von hoher Qualität, so dass es eher eine Sache der persönlichen Hörgeschichte ist, welche Alben man zu seinen besten erklärt. Ich würde nir von Favoriten sprechen, und nenne folgende:

    Fish Out Of Water
    Canto
    (Zwei Quartettaufnahmen bei ECM)*

    Which Way Is West
    Hagar’s Song
    (Zwei Duo Alben auf ECM, mit Billy Higgins, und mit Jason Moran)

    The Sky Will Be There Tomorrow (ein fantastisches Alterswerk, auf Blue Note)

    * für knapp 40 Euro findet man noch eine feine ECM Box mit seinen fünf Alben. Dieses 5-CD-Boxset kam Charles Lloyds 75. Geburtstag heraus, blickt zurück auf die Anfänge der Verbindung des Saxophonisten zu ECM. Es enthält die Alben „Fish Out Of Water“, „Notes From Big Sur“, „The Call“, „All My Relations“ und „Canto“. Alle fünf Alben wurden zwischen 1989 und 1996 in Oslo von Manfred Eicher produziert. Und jedes dieser Alben spielte ich in jenen Jahren in meinen frühen Klanghorizonte-Nächten.

    „Fish Out Of Water“ markierte Lloyds Comeback nach einem langjährigen Rückzug von der Jazzszene. Er hatte nun skandinavische Mitspieler, die von seiner bahnbrechenden Musik in den 60er Jahren inspiriert worden waren und ihn unterstützen und herausfordern konnten. Eine besonders starke Bindung entwickelte sich mit Pianist Bobo Stenson, der auf allen CDs hier zu hören ist und eine wichtige Rolle in Lloyds musikalischem Gruppenkonzept einnahm. Wie Charles 1995 sagte: „Ich beanspruche gar keine wirkliche Urheberschaft. Ich bin sehr stolz auf mein Orchester, aber es geht dabei nicht um irgend jemandes Solo. Es geht um diese wundersamen Momente, wenn die Musik sich öffnet und du weißt, dass du zuhause bist.…“ (press info)

    Natürlich waren seine frühen Alben mit Jarrett, DeJohnette, Und Ron McClure Schlüsselwerke für viele Junghippies wie mich, tiefer in Jazzwelten einzudringen. Er wurde damals gerne als Scharlatan beschimpft, mit seinen Hippie-Klamotten.

    Liebend gerne wäre ich auf seinen Konzerten damals dabei gewesen, maybe my friend Brian Whistler had been there, at the Fillmore…

    who knows…😉

    Es gibt im Deutschlandfunk noch eine alte Studiozeit, 45 Minuten lang, in der ich Charles Lloyds Weg von seinen Anfängen bis zum ECM Comeback nachzuzeichnen versuchte. Vielleicht grabe ich die mal aus…

    Vielen Dank, Henry, für den RadioLink!

    Ingos schön mäandernder Text wird am 1. April unter „monthly revelations – albums“ gepostet, egal, ob er noch was anhängt oder nicht.

    Am 4. April singe ich dann als Letzter das Loblied auf das neue Doppelalbum, mal sehen, ob mir noch irgendetwas einfällt, was in diesem Tagen nicht schon wieder und wieder gesagt und geschrieben wurde….

  • Olaf Westfeld

    Danke für die Infos und auch den Radiolink – mal schauen wann es mich da wo hintreibt….

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