Orbital
(English version here)
Diese Besprechung von Samantha Harveys Orbital, in der deutschen Übersetzung Umlaufbahnen, beinhaltet den Versuch des flowworker-Teams, ein Buch von mehreren Mitgliedern des Blogs besprechen zu lassen. Dies ist mein Beitrag dazu, die anderen finden sich hier von Olaf Westfeld, in den Kommentaren dort äußern sich Michael Engelbrecht und Martina Weber, weitere Erwähnungen hier und hier.
Ein Buch ohne Handlung, aber keineswegs ohne Inhalt. Zwei Frauen und vier Männer umkreisen die Erde, sechzehnmal am Tag — was immer „Tag“ in der Raumstation ISS heißen mag. Sagen wir besser: in vierundzwanzig Stunden. Wir folgen ihrem Tagesablauf, ihren Gedanken, ihren Gesprächen, ihren wissenschaftlichen Experimenten, etwa der Arbeit mit den 40 Mäusen an Bord. Wir erleben in knappen Schilderungen und Dialogen die Profanitäten des Daseins, die Schlafprobleme oder der Dusche in der Schwerelosigkeit, die Speisekrümel, die wieder eingefangen werden müssen. Das immer irgendwie vorhandene Bewusstsein, dass nur eine millimeterdicke Metallschicht vor dem Vakuum schützt, spielt ebenso eine Rolle wie die Tatsache, dass gerade ein Raumschiff eine Expedition zum Mond unterwegs ist. Würde man lieber dort mitreisen als hier an Bord der ISS? Man erfährt von dem Tod der Mutter einer der beiden Frauen und der Unmöglichkeit, an der Trauerzeremonie teilzunehmen.
Vor allem aber hören wir von den Impressionen beim Blick aus dem Fenster, auf die Erde. Nicht, dass die Autorin das hier philosophisch überfrachtet — in diesem Punkt hält sie sich zurück, auch auf die allzu naheliegenden ökologischen Belehrungen verzichtet sie. Aber doch ist es nicht egal, dass aus der Perspektive der ISS der Globus da draußen keine Grenzlinien hat, dass man keine voneinander abgesetzten Staaten sieht, ja, dass man schon aus den gerade mal 200 Kilometern, die die ISS von der Erde entfernt ist, keine Spuren der Zivilisation mehr erkennen kann. Nur bei Nacht verraten sich die Städte durch ihr Licht.
Gelegentlich tauchen in dem endlosen Strom der Gedanken Ideen auf, die man schon anderswo gelesen oder gesehen hat, etwa der von Carl Sagan entworfene kosmische Kalender, der den Zeitraum vom Urknall vor 13,6 Milliarden Jahren bis heute auf ein Jahr reduziert und auf diese Weise die unvorstellbaren Zeitdimensionen in eine handhabbare Größe verwandelt. Kaum zu glauben, dass in diesem Modell die Menschheit erst am 31. Dezember, drei Minuten vor Mitternacht, auf der Erde auftaucht. Vor 1,2 Sekunden ist Columbus in Amerika eingetroffen. Samantha Harvey erweitert die Skala recht clever, indem sie — anders als Sagan — die Uhr weiterlaufen lässt, in die Zukunft hinein. Dann ist in diesem Maßstab in spätestens vier Monaten Feierabend auf der Erde. Dafür sorgt die weitere Entwicklung der Sonne, die heißer werden und sich nach und nach zu einer Größe aufblähen wird, bei der die Erde verschluckt werden wird. — Aber das sind Probleme von übermorgen; zunächst müssen wir uns wieder um die vierzig Mäuse kümmern.
Ein sehr faszinierendes Buch und eine spannende Gedankenreise, wenn auch nicht immer ganz einfach und auch nicht immer ohne Längen. Die Autorin lehrt Creative Writing, manchmal merkt man das. Wie auch immer, Michaels Idee, es sollte vielleicht eine Audiobook-Version geben, in die gelegentlich Ausschnitte aus Brian Enos Apollo-Alben eingeblendet werden, hat etwas für sich. Aber wenn schon akustische Beiträge, dann wäre mein Vorschlag dieser hier. Der lässt mich seit Jahren nicht los und fasst eigentlich ohnehin das ganze Orbital-Buch in dreieinhalb Minuten zusammen.
Adrift
Der Roman „Umlaufbahnen“ (Orbital) von Samantha Harvey verzichtet weitgehend auf Handlung oder einen Spannungsbogen. Es ist eine Meditation über die Erde und das Treiben der Menschen darauf. Insofern ist so etwas wie ein spoiler alert unnötig: 6 Charaktere leben und arbeiten in 400 km Höhe auf einer Raumstation, die mit einer Geschwindigkeit von 28000 km/h um die Erde kreist und diese so an einem Tag 16mal umrundet. Das ist auch die Idee des schmalen Buches: ein Tag, 16 Umlaufbahnen mit den Menschen auf dieser Raumstation. Wobei elementare Einheiten wie Tag und Nacht in diesen Höhen eine andere Bedeutung haben; 24 Stunden sind dort oben kein Tag.
Anstelle eines Plots, einer Handlung, steht das Geflecht aus den Gedanken, Gefühlen und vor allem Wahrnehmungen der Astronaut*innen (4 Männer, 2 Frauen) im Zentrum. Die Fenster zur Erde ziehen sie magisch an, sie beobachten den Planeten, die Wolkenformationen eines Taifuns, die Lichter der Großstädte bei Nacht (die einzigen Hinweise auf menschliches Leben, die sie aus der Höhe wahrnehmen können), das Spiel von Sonnenlicht und Schatten, die Gebirge, die Wüsten,…. Samantha Harvey findet hier eine ganz eigene Sprache, durchzogen von einer spröden Sinnlichkeit; der schwindelerregende Fortschritt der Menschheit wird deutlich, vor allem aber die Demut gegenüber dem blauen Planeten.
Die Erde ist „(E)in Planet, der vom Zentrum ins Abseits verbannt wurde – um ihn wird sich nicht gedreht (abgesehen von seinem knubbeligen Mond), er dreht sich selbst um andere. Er beheimatet uns Menschen, die wir größere und noch größere Objektive für unsere Teleskope polieren, die uns zeigen, dass wir kleiner und noch kleiner sind als gedacht. Da stehen wir und staunen. Und mit der Zeit erkennen wir, dass wir nicht nur an den Außenlinien des Universums stehen, sondern dass das Universum nur aus Außenlinien besteht, es keinen Mittelpunkt gibt, nur eine schwindelerregende Masse von tanzenden, taumelnden Dingen, und dass vielleicht all unser Wissen nur aus einem ausgeklügelten und sich ständig weiterentwickelnden Bewusstsein für unsere eigene Fremdartigkeit besteht, dass wir mithilfe der wissenschaftlichen Forschung das menschliche Ego immer weiter zertrümmern, bis es am Ende ein brüchiges Gebilde ist, durch dessen Risse Licht hereindringt.“
Gegen Anfang und Ende des Buches wird auf das Gemälde „La Meninas“ von Velázquez verwiesen. Ebenso wie das Buch hat das Gemälde zahlreiche Bedeutungsebenen, es zeigt das „Spiegellabyrinth des menschlichen Lebens“, es erzählt auch von dem Ende der Herrschaft der Habsburger in Spanien. Zwar am Rande und doch im Vordergrund des Bildes findet sich ein Hund, der sich als einziges Wesen nicht an dem Spiel der Blicke beteiligt, sondern das eitle Treiben um ihn herum („all die Wege, die sie finden, keine Tiere zu sein“ schreibt Harvey über die Mitglieder des Hofes auf dem Bild) gelassen zu ertragen scheint.
„Umlaufbahnen“ schafft es, die Zerbrechlichkeit und Kostbarkeit der Erde und das Treiben der Menschen darauf aus einer ganz neuen Perspektive zu zeigen und öffnet so zahlreiche Bedeutungsebenen. Der Roman hat eine Tiefe und Intensität, so dass die schnelle Lektüre lange nachhallt. Auch ohne Spannungsbogen hat das Buch einen enormen Sog, dem ich mich sehr gerne hingegeben habe.