Karte und Gebiet
Die Musik war traurig, aber nicht schwer. Alles in ihr war in Bewegung. Wenn ich wirklich hinhörte, wie ich es jetzt tat, war es, als fände sie den Weg zu dem hinein, was sich sonst nicht in mir regte, und was ich normalerweise nicht fühlte. Der Gedanke lag nahe, dass die Musik ein Art Karte über das Innere zeichnete, allen Anstiegen und Mulden, Höhen und Tälern, Ebenen und Wäldern folgte, die es dort gab, so dass man sich ihrer bewusst wurde, aber nun, als ich dort saß und in die stille, blasse Nacht hinaussah, schoss mir durch den Kopf, dass es vielleicht umgekehrt war, dass es vorher nichts gegeben hatte, wozu die Musik den Weg fand, sondern dass sie es war, die es erschuf.
(Aus: Karl Ove Knausgård. Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit.)
Album of the Year
Ich frage mich immer noch ob ich nicht spontan am kommenden Sonntag nach Berlin fahren sollte, um auf das Beth Gibbons Konzert zu gehen. Der Auftritt mit Rustin‘ Man im Audimax der UDK vor 21 Jahren ist eine meiner schönsten Konzert Erinnerungen. Und über die Qualität des neuen Albums hat Michael schon so viel treffendes geschrieben, dass mir dazu nichts mehr einfällt. Die Band scheint die Magie der Musik auch live einzufangen – allerdings ist Magie in diesem Großraumklotz (Verti Music Hall) nur schwer vorstellbar.
Der Anfang Vom Ende
Irgendwann im letzten Spätsommer waren C und H endlich zu Besuch in unserem Garten. Es war ein lauer Nachmittag, wir plauderten gemütlich bei Limo, Kaffee, Kuchen über dies und das. C war in meinen ersten Berufsjahren ein wichtiger Bezugspunkt, sehr erfahren, intellektuell, mit einer Künstlerseele. Und durch und durch mit Initiativkraft gesegnet, ständig hatte er Projekte am Laufen, inszenierte mindestens ein Theaterstück mit Schülern pro Jahr, gründete eine Beratungsstelle, schrieb Konzepte oder Artikel. Nachdem er 2015 in den Ruhestand ging, war es still zwischen uns geworden: wir telefonierten dann und wann mal, liefen uns hier und dort zufällig über den Weg. Ich hatte ein leicht schlechtes Gewissen, mich so wenig zu melden, um so glücklicher war ich dann, als das Treffen endlich klappte – und auch noch sehr nett, nicht beklemmend, langweilig oder ähnliches war.
Ganz der Unternehmer bat er mich kurze Zeit später, ob ich nicht in seinem kleinen Lesezirkel ein Buch vorstellen könne. Ich zierte mich ein wenig, so etwas ist nicht wirklich mein Fall, sagte dann aber zu. Vor zwei Monaten erreichten mich dann eine Mail von H, dass es ihm sehr schlecht ginge. Er verbrachte lange Zeit auf der Intensivstation, wo er natürlich noch eine Strichfassung des nächsten Theaterprojekts mit seiner Seniorengruppe erstellte, im Herbst sollten „Die 12 Geschworenen“ auf die Bühne kommen. H schrieb weiter Mails, der Tonfall wurde immer tapferer, doch Anfang des Monats kam dann die Nachricht, dass er gestorben ist.
Und morgen werde ich nun in besagtem Lesezirkel ein Buch vorstellen „Der Anfang vom Ende“ von Mark Aldanow. Warum dieser Titel? C schrieb mir, als ich mich nicht entscheiden konnte, dass es am einfachsten sei ein Buch über ein Thema zu nehmen, womit man sich ohnehin gerade beschäftigt. Der Roman lag oben auf meinem Stabel mit Literatur aus und über Russland, der sich angehäuft hatte, weil ich eine Unterrichtsreihe zur Geschichte der Sowjetunion vorbereitet habe.
Der Roman ist lesenswert: in den 30er Jahren reist eine Gruppe sowjetischer Diplomaten nach Paris, mit unterschiedlichen Aufträgen. Dabei ist ein alter bolschewistischer Kämpfer, desillusioniert und des Lebens überdrüssig, ein erfolgreicher Diplomat, dazu noch ein General. Die letzteren haben unter den Bolschewiki Karriere gemacht, waren aber ursprünglich in anderen politischen Lagern verortet, der eine bei den Menschewiki, der andere hatte schon unter dem Zaren gedient. Es entspannen sich unterschiedliche Konstellationen, in dem gut 600 Seiten dicken Buch spielen auch noch andere Charaktere größere Rollen: der kulturpessimistische französische Schriftsteller, dessen Sekretär, der einen Mord begehen wird, die junge und sehr hübsche Sekretärin des Diplomaten, die den drei Russen den Kopf verdreht. Es gibt viel Handlung, Spuren werden gelegt, die ins Leere laufen. Das Buch ist humorvoll, aber auch durchzogen von Paranoia. Und erzählt vom Epochenbruch, vom Untergang eines alten Europas, von der Ungewissheit, was kommen wird, von einem Tanz auf dem Vulkan am Vorabend des zweiten Weltkriegs.
Zurück zu C und seiner Leidenschaft, dem Theater. In den letzten Monaten war ich auch damit beschäftigt, mit meiner Klasse ein Stück auszusuchen, um es Ende Oktober aufzuführen. Die Wahl der Schüler*innen fiel ausgerechnet auf „Die 12 Geschworenen“.
Curated Reality
Mit Erstaunen lese ich, dass The The ein neues Album ankündigen, das erste seit 2000, und damit auch auf Tour gehen werden. Die beiden Termine in Deutschland werde ich leider verpassen. Anfang der 90er war die Formation um Matt Johnson eine der wichtigsten Bands für mich, Soul Mining, Infected, Mind Bomb und Dusk habe ich rauf und runter gehört, die Texte kannte ich auswendig. Der neue Song mit dem schönen Titel Cognitive Dissident gefällt mir – nichts weltbewegendes, ein solides Stück Musik. Das Album erscheint im September.
ECM Vinyl Wantlist
Bennie Maupin The Jewel In The Lotus
Rabih Abou-Khalil Nafas
Terje Rypdal Whenever I Seem To Be Far Away
Jon Hassell Power Spot
Jon Hassell Last Night The Moon Came Dropping Its Clothes In The Street
Egberto Gismonti Danca Dos Escravos
Jack DeJohnette Special Edition
Keith Jarrett Changeless
Leo Smith Divine Love
John Surman Private City
Charles Lloyd Quartet Fish Out Of Water
David Torn Cloud About Memory
Für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemand eines dieser Alben loswerden will, gerne einen Kommentar hinterlassen.
The Way To The Horizon
One element that me and Klaus Dinger shared is taking to the road, to the air, to the waves, and going all the way to the horizon. We didn’t care about red lights or stopping, it was about endless movement. After Klaus and I left Kraftwerk, it was clear that we would have this one idea in our songs—this fast, forward movement. At the end, what mattered was what happened in the studio.
Aus einem Interview mit Michael Rother, zu finden auf dem sehr lesenswertem Tone Glow Newsletter.
Magic and Trance
Gestern hatte ich nicht nur das große Vergnügen The Necks im gut gefüllten Heimathafen Neukölln zu erleben, sondern konnte dort auch erstmals fellow blogger (oder Bloggenossen?!) Ingo kennen lernen. Da mein Freund M auch dabei war, ich hatte ihm die Karte zu einem runden Geburtstag geschenkt, die Band war ihm allerdings unbekannt, war die Zeit vor und nach den Auftritten mit anregenden Gesprächen sehr gut gefüllt.
Die Musik, die uns ja zusammengebracht hat, war hypnotisch. Es gab zwei Sets, unterbrochen von einer kurzen Pause. Der erste Abschnitt war etwas kürzer; ich würde schätzen, dass die drei Musiker ungefähr 45 Minuten auf der Bühne standen, aber Zeit spielte nach wenigen Tönen keine Rolle mehr. Klangwellen türmten sich übereinander, kleine Nuancen veränderten die Strömung, irgendwann brachen die Wellen, liefen aus um von den nächsten abgelöst zu werden; ein wahnsinnig spannendes und intensives Miteinander im Zusammenspiel. Nach einer kurzen Pause kamen die drei wieder auf die Bühne, um noch einmal zu spielen, dieses Mal etwas länger (vielleicht 60 Minuten). Es begann mit wenigen, sehr melodiösen Basstönen, zu denen sich Klavier und die swingenden Becken des Schlagzeugs gesellten, grundiert von einem Schaben auf der Snare. Zum Ende der 60 Minuten wurde diese Atmosphäre wieder aufgenommen, dazwischen lagen Klangcluster, Wiederholungen, Höhepunkte – ein ocean of sound. Es hat nicht nur uns dreien sehr gut gefallen, es gab standing ovations und lang anhaltenden Applaus.
Insofern kann ich nur allen Mitlesenden empfehlen, sich The Necks anzuschauen, wenn sie gerade mal in der Gegend sind. Im Idealfall in netter Gesellschaft, dann macht das gleich viel mehr Spaß. Im November scheinen sie noch einmal in Berlin zu spielen.
Weekend Nourishment
Die letzte Schulwoche vor den Ferien liegt vor mir, Montag bis Donnerstag werde ich eine 10. Klasse nach Berlin begleiten. Museumsinsel, Bundestag, Gedenkstätte in Hohenschönhausen, Informationszentrum zum Holocaust und wahrscheinlich noch das Humboldtforum stehen auf dem Programm. Zwischendurch schaffe ich es vielleicht noch in einen Plattenladen – das Hostel ist in Friedrichshain, da gibt es eine gewisse Auswahl.
Hinter mir liegt eine sehr anstrengende Woche. Kurz vor den Ferien sind alle müde und kaputt, dazu musste ich noch ein Mitarbeitergespräch führen, dass eher fordernd war. Nichts gegen den Stress, den meine Frau gerade auf der Arbeit hat – dagegen war meine Woche ein Zuckerschlecken! Dementsprechend war die Stimmung im Hause Westfeld am Wochenende aber ruhig und gedämpft. Und zum Glück ist music ja bekanntermaßen the healing force of the universe. Seit Freitag lagen folgende Alben auf dem Plattenteller:
Henri Texier: Varech (Low End Theories) / Van Morrison: Common One (Before Spirit Of Eden) / Bengt Berger: Bitter Funeral Beer (Ethnomusicology) / Dino Saluzzi: Kultrum (Nightscapes) / Marthe Lea Band: Asura (Rites Of Spring) / Karate: Unsolved (Guitarworker) / Bark Psychosis: Codename Dustsucker (Nocturnal Sound Paintings) / Henri Texier: Varech (A second time: Jazz Au Lait) / Charlie Haden: Ballad Of The Fallen (Soul Food) / Kalma, Chiu, Honer: The Closest Thing To Silence (Close to silence, and other grooves)
Letztes Licht
2004 veröffentlichte der amerikanische Maler und Musiker Tor Lundvall sein Album „Last Light“ als CD. 19 Jahre später, im November 2023, erschien eine Vinyl Version. Der Anlass ist mir nicht ganz klar, spielt aber auch keine Rolle. Sein Ambient Pop ist zeitlos und passt in diese post-pandemische Zeit wie das gedämpfte Licht einer Nachtlampe ins Kinderzimmer.
Winter. Der Teich ist mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Darüber wabernder Nebel. Geister tauchen auf und verschwinden wieder. Es ist diesig. Immer wieder regnet es. Wenig Licht fällt durch die Vorhänge, wird spärlicher, Dunkelheit senkt sich. Der Wind setzt seinen Mund ans Haus. Von überall starren mich die Erinnerungen an, es werden immer mehr, ihre Blicke lähmen mich.
„Last Light“ ist ein reines Soloalbum: Lundvall spielt alle Instrumente bei sich zu Hause ein. Die Klänge sind elektronisch, langgezogen, sphärisch, sanft. Langsam. Selten spielt er mal Gitarre. Dazu die körperlose Stimme, die oft mehr spricht als singt, immer wieder seufzt. Den Klangkosmos hat ein Maler geschaffen, die Sounds wurden wie auf einer Leinwand angeordnet. Komponiert. Wenn das Wörtchen enoesque nicht schon existieren würde, könnte er für dieses hübsche, verlorene Album erfunden werden.