Buddenbrooks & Co.
(English version here!)
Sagt einem Thomas Mann heute noch etwas? Soll man diese alten Kamellen wirklich noch lesen?
Die Weimarer Zeit und besonders ihre Kabarettszene interessiert mich seit je, damals wie heute. Neben Altmeister Tucholsky war Klaus Mann einer der wichtigen Impulsgeber. Seinen Roman „Mephisto“, 1936 im Exil geschrieben, musste ich schon der Verfilmung von 1981 wegen lesen (Regie: István Szabó; Oscar für „Best Foreign-Language Film“; Brandauer spielte darin wie immer Brandauer). In den Cafés rund um die Uni war der Film ein Dauerthema, den wir immer wieder diskutiert haben — da der Roman ja als „Schlüsselroman“ galt, erzeugte er jede Menge „Wer-ist-wer?“-Spekulationen, und man stieß auf Namen, die kaum noch jemand unterzubringen wusste. Ich, als an Kabarettgeschichte Interessierter, kannte etliche der Namen. Über die historischen Unebenheiten des Romans sahen wir damals großzügig hinweg; ein lesenswertes Buch über einen Karrieristen, der sich selbst in die Falle geht, ist „Mephisto“ allemal.

Und da ich dann schon bei Klaus Mann war, mussten „Treffpunkt im Unendlichen“ und „Der Wendepunkt“ folgen; letzteres Buch ist unverzichtbare Lektüre, wenn man sich für die politische und gesellschaftliche Situation der Ära interessiert — es ist erschreckend aktuell, aber weniger klatschsüchtig als Florian Illies (dem es in seinen Büchern wohl mehr auf den Unterhaltungsfaktor ankommt).
Mit Klaus war ich dann schon mal im Kraftfeld der Mann-Familie. Man kommt schwer heraus, wenn man mal drin ist. Denn auch „Der Untertan“ von Heinrich Mann erwies sich als fesselnde Entdeckung — und das, obwohl wir den auch schon Jahre vorher im Deutschunterricht besprochen hatten. Aber da kam es wie meist in solchen Fällen: Literaturexegesen im Schulunterricht sind eine ziemlich sichere Methode, einem auch die besten Werke zu vermiesen. Die Wiederentdeckung jedoch belehrte mich eines Besseren: „Der Untertan“ ist eine großartige Geschichte. (Es gibt auch eine meisterliche Verfilmung von 1951 in der Regie von Wolfgang Staudte.)
Und so bin ich dann letzten Endes auch auf den Herrn Papa selbst gestoßen — keine Ahnung, in der wievielten Auflage dieses Werk von 1901 inzwischen erschienen ist, aber dies hier ist die Taschenbuchausgabe, die ich noch immer im Regal habe:

Auch diesen Roman muss ich als Student zu lesen begonnen haben. Da bin ich mir ziemlich sicher, denn ich kann mich daran erinnern, dass es mir auf die Nerven ging, wie Thomas Mann jeden Kerzenhalter und jeden Kniff in jedem Sofakissen bis hinein in winzigste Details beschreibt. Ob ich die 759 Seiten damals bis zu Ende durchgelesen habe? Ganz ehrlich, ich weiß es nicht mehr.
Nun wollte aber der Zufall, dass ich vor einiger Zeit anlässlich Thomas Manns 150. Geburtstag in der ARD-Mediathek auf den Dreiteiler Die Manns — Ein Jahrhundertroman (2001, Trailer) von Heinrich Breloer und Horst Königstein stieß. Wie diese beiden das auch in anderen Produktionen schon gemacht hatten, kombinieren sie in dieser (wie man heute sagen würde) „Miniserie“ nachgespielte, manchmal auch fiktionale, Szenen mit Originaldokumenten aus dem Leben der erweiterten Mann-Familie. Da kommen sie alle vor, Thomas, Klaus, Heinrich, Erika, Golo, Katia, Monika, Elisabeth, Frido, die Pringsheims, Gustaf Gründgens (alias Mephisto), kurz: der ganze Clan, das Ganze in exzellenter Besetzung, und ein spannendes Stück Zeitgeschichte sowieso.
Dies wiederum brachte mich zu „Deutsche Hörer!“, der von Mely Kiyak herausgegebenen vollständigen Sammlung der Radioansprachen, die Thomas Mann ab 1941 von Los Angeles aus via BBC nach Deutschland schickte.

Unbedingt lesenswert. Man staunt, mit welcher Wucht, mit welcher Präzision und gleichzeitig mit welcher Hellsichtigkeit Thomas Mann die Naziherrschaft zersägt. Da bleibt kein Stein auf dem anderen. (Heißer Tipp nur: das Ganze nicht in einem Rutsch durchlesen, sondern eine Ansprache pro Tag.)
Thomas Mann also doch. Aber noch hatte ich die unendlich vielen, nervenden Kniffe in den Sofakissen nicht vergessen. Waren die nicht immer noch im Weg?
Es kommt darauf an, wie man die Geschichte liest. Diesmal habe ich „Buddenbrooks“ wirklich von der ersten bis zur letzten Seite gelesen, und nach anfänglicher Widerborstigkeit der Story bin ich zunehmend in ihr versunken. Der Untertitel „Verfall einer Familie“ zeigt, was zu erwarten steht: Es geht um eine zunächst wohlhabende Lübecker Kaufmannsfamilie und ihren sich über vier Generationen hinziehenden Untergang, beginnend 1835, bis die Geschichte 1877 in Pleite, Krankheit und Tod endet. Thomas Mann schrieb vier Jahre an dem Buch. Er kannte das Milieu, über das er spricht. Natürlich ist es keine Dokumentation, aber etliche der Personen haben reale Vorbilder; in Teilaspekten der Figur Hanno taucht Thomas Mann sogar selbst auf.
Die mir vorliegende Fassung folgt in Rechtschreibung und Grammatik den Regeln des Jahres 1901, und auch, wenn dies anfangs ein wenig irritiert, erweist es sich letztlich doch als richtig.
Auch ohne den Untertitel ahnt man recht bald, dass hier keine Erfolgsgeschichte erzählt wird. An der Oberfläche erfährt man eine Menge über die Lebensverhältnisse der Menschen jener Jahre, man lernt ihre Gewohnheiten, ihre Schicksale, ihr Handeln, ihre (meist kleinen) Erfolge kennen, ebenso auch ihr Versagen im Rahmen der Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung standen. Thomas Mann beschreibt sie ebenso liebevoll wie meisterlich; nach einer Weile meint man sogar ihre Stimmen zu hören.
Liest man die Marotten, mit denen Thomas Mann seine Akteure ausstattet, hat man manchmal schon fast den Eindruck, ein modernes Drehbuch zu lesen: Er beherrschte schon damals die Tricks, seine Personen leitmotivisch wiedererkennbar zu machen, sei es durch Dialekte („Ick heww da nu ’naug von!“), bestimmte Redewendungen (“ … sei glöcklich, du gutes Kend“, zu welcher stets auch ein „knallender Kuss auf die Stirn“ appliziert wird. So wird jede Figur mit individuellen Gewohnheiten oder Eigenarten ihres Auftretens ausgestattet, etwa Antonie (Tony), die bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten immer wieder ihr Beharren darauf zur Schau stellt, „kein dummes Ding mehr“ zu sein und zu wissen, was sie „vom Leben zu halten“ habe. Die geradezu satirische Schilderung einer Lübecker Ratsversammlung könnte aus dem heutigen Bundestag stammen. Und doch fehlt jede Häme; Mann macht sich über keinen seiner Charaktere lustig, immer lässt er ihnen einen letzten Rest Würde.
Thomas Mann bedient die volle Bandbreite zwischen hochkomischen und todtraurigen Ereignissen, Erfolgen und Fehlschlägen; sein Gespür für das richtige Timing ist bewundernswert. Die meisten der geschilderten Ereignisse kann man herannahen sehen, ihre unvermeidlichen Konsequenzen folgen dann glashart, und der Autor geht mit seinen Charakteren alles andere als schonend um. Allerdings auch nicht mit dem Leser — insbesondere seine Schilderungen von Krankheits- oder Todesfällen gehen nicht selten bis an den Rand des Erträglichen.
Das heißt nicht, dass es keine Schwerpunkte gibt. Thomas Mann hat auch Lieblinge, denen er größere Aufmerksamkeit widmet als anderen — Tony sei als Beispiel genannt, ebenso das verhinderte musikalische Wunderkind Hanno Buddenbrook, an dessen Beispiel Mann in einer Art Exkurs das elende Schulsystem der damaligen Zeit schildert. (Tatsächlich spricht Thomas Mann in diesen Abschnitten offenkundig über seine eigene Schulzeit, die purer Horror gewesen sein muss. Diese fallen ein wenig aus dem Rahmen der Handlung, und doch kann man diese Episoden nicht weglassen, ohne dass der Geschichte ein wichtiger Farbton fehlen würde.)
Aber dies alles ist eigentlich noch nicht das Entscheidende; es ist nicht das, was diesen Roman und seinen Autor so herausragend macht. Thomas Mann geht es in seinem Schreiben nicht primär darum, wie man heute sagen würde, „Content“ zu liefern. Das tut er mit seinem breiten Bildungsspektrum sowieso, ganz nebenbei.
Das Geheimnis liegt in Thomas Manns Schreibstil und der Art, wie er einem Architekten gleich einen Bauplan verfolgt. Ich habe während des Lesens zunehmend an den Aufbau einer Mahler- oder Bruckner-Sinfonie denken müssen. Da könnte man leicht versucht sein, zu sagen: Das hättste auch einfacher haben können, zum Beispiel als Klaviersonate oder als Streichquartett. Aber es geht eben nicht nur darum, ein paar Melodien passend zusammenzustellen, sondern eine Sinfonie arbeitet Leitmotive, Melodien, Stimmen, Variationen, Klangfarben, Tempi und Dynamikabstufungen aus bis in die letzte Verzweigung. Erst aus diesem Zusammenspiel ergibt sich das Gesamtbild. Nichts darf fehlen, auch wenn man den Sinn vielleicht nicht sofort erkennt.
Eine Sinfonie in dieser Weise zu hören erfordert geistige Mitarbeit, aber die zahlt sich aus. Auf das Tempo und den langen Atem der „Buddenbrooks“ muss man sich einlassen wollen. Die Zeit muss man sich nehmen. Diese Geschichte ist ein sinfonisches Gesamtkunstwerk; jeder Satz hat hier seine Bedeutung und seinen Sinn, aber er erschließt sich erst in der Gesamtschau. „Buddenbrooks“ ist ein klingender Kosmos.
Man ist das heute vielleicht nicht mehr gewohnt. Ein Grund mehr, in diese Geschichte einzutauchen. Man kommt als veränderter Leser wieder heraus.

Opus

(English here!)
Der Konzertfilm mit Ryuichi Sakamoto, produziert im Studio, weil Live-Bühnenauftritte seiner zweiten Krebserkrankung wegen nicht mehr möglich waren. Sein Sohn Neo Sora führt Regie, Bill Kirstein ist für die Kamera verantwortlich. Ich hätte den Film gern im Kino gesehen, aber er lief in Pittsburgh nicht. Nun also die DVD.
Opus ist ein Film in schwarzweiß in gedämpftem Licht, ohne Worte (mit einer Ausnahme), und auch sonst in jeder Hinsicht äußerst zurückgenommen. Sakamoto spielt allein am Grand Piano in einem ihm vertrauten Studio, umgeben von ihm vertrauten Mitarbeitern, umkreist und beobachtet von einer sensibel geführten Kamera. Wir hören 103 Minuten Solopiano, 20 Werke aus den Jahren zwischen 1972 und 2018, in einem Stück („20180219“ vom Album 12) ist das Klavier präpariert. Man könnte befürchten, dass eine Stunde und 40 Minuten Klaviermusik langweilig sind, aber das sind sie keine Sekunde lang — wenn man wirklich zuhört. Diese Bereitschaft muss man als Hörer allerdings mitbringen.
Ein spezielles Kompliment gebührt dem Toningenieur Zak und seinem umfangreichen Team, denn es gibt keine lauten Töne in dem Film, Sakamoto spielt zeitweise extrem leise, so dass sogar die Kameraschienen mit schweren Gewichten am Boden fixiert wurden, damit Kamerafahrten keinerlei Geräusch verursachen konnten. Wer die Möglichkeit hat, Dolby 5.1 zu nutzen, sollte das tun. Der Klavierklang ist kristallklar, und es sind wirklich keine Nebengeräusche zu hören außer jenen, die beabsichtigt sind: dem Klang der Pedale, die Dämpfer, gelegentlich Sakamotos Atem.
Sehenswert, weil tatsächlich informativ, ist der 15-minütige Bonus Meet the Filmmakers mit Neo Sora (rechts im Bild) und Bill Kirstein.

Das letzte Stück („Opus – Ending“) spielt das Piano, ein Yamaha Disklavier, allein. Sakamoto hat das Instrument verlassen, geisterhaft sieht man die Tasten sich bewegen. Einen besseren Schlusspunkt hätte man nicht finden können.
Knapp ein halbes Jahr später, im März 2023, hat sich Ryuichi Sakamoto für immer verabschiedet.

Wer war der fünfte Beatle?
Der Schweizer Autor Nicola Bardola bietet nicht nur einen, sondern gleich deren 55, und auch sie sind noch keineswegs alle, die man nennen könnte, sondern nur die besten:

Eine Karriere wie die der Fab Four passiert nicht aus dem Nichts. Zu allererst gehört mal Talent dazu, aber das allein nützt noch nichts. Man muss mit seinem Talent auch im richtigen Moment am richtigen Ort mit dem richtigen Material die richtigen Leute treffen. Und dann muss noch ein Schuss Glück dazukommen, dann kann es klappen.
Wenn es geklappt hat und man schaut später auf den Erfolg zurück, dann wird man sehen: Dies alles hat sich materialisiert in einer Vielzahl von Personen, die irgendwie zusammengewirkt haben. Wer waren sie? Was war ihr Beitrag? Was wurde aus ihnen? Man muss schon ein wirklicher Fan sein, um sich auf eine solche Recherchereise zu begeben. Nicola Bardola ist ein Langzeitkenner der Beatles, der sich schon seit langer Zeit mit der Band und ihrem Umfeld befasst hat (wie man beispielsweise hier sehen kann). Das Resultat liegt jetzt in Buchform vor.
Aber auch als Leser muss man eine gewisse „Nerdigkeit“ mitbringen, um wirklich goutieren zu können, welche Arbeit Bardola geleistet hat. Ist man aber ein solcher Edelfan, dann eröffnet sich mit seinem Buch ein Schatzkästlein, wie ich es nur selten gesehen habe — und ich kenne viele Musikbücher.
55 Personen aus dem (meist) näheren Umfeld der Beatles werden in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt. Pete Best kennt man, Stu Sutcliff ebenfalls, auch Astrid Kirchherr darf nicht fehlen — bekannte und weniger bekannte Namen tauchen in relativ kurzgefassten Kapiteln auf. St.-Pauli-Größen wie Indra-Chef Bruno Koschmider oder Star-Club-Manager Horst Fascher werden portraitiert, Brian Epstein, Bert Kaempfert, George Martin, Geoff Emerick, Klaus Voormann, Eric Clapton, Marianne Faithfull, Patti Boyd, Allen Klein, Billy Preston, Yoko Ono, der Maharishi haben ihren Platz. Dazu kommen Eltern, Familien, Geschwister, Mitarbeiter — ich will und kann sie hier nicht alle aufzählen, kann aber versichern, dass sie ausnahmslos aus gutem Grund in diesem Buch aufgeführt werden. Sie waren Teil des Beziehungsnetzes, das die Beatles-Karriere möglich gemacht hat.
In gewisser Weise ist interessant, wer in dem Buch nicht genannt wird — Linda Eastman beispielsweise, oder der Star-Club-Boss Manfred Weissleder, ebenso der Decca-A&R-Manager Dick Rowe, der die Beatles ablehnte. Dafür taucht irgendwo beiläufig der Name des Musikproduzenten Joe Meek auf, obwohl dieser mit den Beatles auch nur indirekt zu tun hatte, da er sie aufgrund der ihm vorgelegten Demos ebenfalls ablehnte (was eigentlich eh nichts Besonderes war; die Beatles waren so ziemlich schon überall abgeblitzt). In diesem Kontext ist sehr lesenswert, wie der Kontakt der Beatles zu George Martin zustandekam — das war komplizierter, als man im allgemeinen zu wissen glaubt.
Die schiere Materialmenge machte es wohl erforderlich, dass der Schreibstil gelegentlich ein wenig komprimiert geraten ist. Das führt gelegentlich zu ein wenig holzschnittartigen Beschreibungen. Das schadet aber nichts, denn das Buch eröffnet eher ein Gesamtbild als wirklich tiefgehende Einzelanalysen; es lädt ohnehin eher zum Blättern ein als zum Durchlesen von A bis Z. Dabei helfen sehr die Querverweise auf jene Namen, die ebenfalls mit einem eigenen Eintrag im Buch behandelt werden.
Ich bin auch sehr sicher, dass dieses Buch sich als wichtige Quelle für viele in Zukunft noch zu schreibende Magisterarbeiten und Dissertationen über die Beatles etablieren wird. In diesem Zusammenhang vermisst man allerdings schmerzlich einen Namensindex, mit dem sich das ganze Werk für solche Zwecke leichter erschließen ließe. (Aber ich kann es verstehen — es ist eine Heidenarbeit, ein solches Register zu erstellen.)
Aber das ist noch nicht alles! Im Anschluss an die 55 ausführlich portraitierten Personen folgen dann noch weitere 66 aus dem erweiterten Umfeld, die mit kurzen (meist halbseitigen) Einträgen vorgestellt werden. Und weil das immer noch nicht reicht, kommen noch weitere 77, diese allerdings nur noch als Namensliste. Eine Bibliographie bildet den Abschluss des Buchs, sie allein umfasst zehn Seiten.
Kurz & gut: Wer sich für die Beatles über ihre Platten hinaus interessiert, greife unbesorgt zu.
Nicola Bardola:
Die 55 besten Fünften Beatles
Verlag Andreas Reiffer, Meine 2025
354 Seiten, 20€
ISBN 978-3-910335-55-4Klaus Doldinger 1936 – 2025

(English here!)
Und ich dachte immer, der Mann sei unsterblich, so lange kenne ich den Namen schon. Aber 89 ist ja ein durchaus gesegnetes Alter, da kann man sich wohl nicht beklagen.
Zu seiner Karriere muss man nichts mehr sagen; zu seiner Bedeutung ebenfalls nicht. Es ist zwar nicht zu bestreiten, dass sich die Todesmeldungen von Musikern häufen, das ist in meinem Alter wohl normal. Aber wenn dann eine wie diese kommt, dann wird einem klar, dass es Musiker gibt, die mehr Gewicht hatten als andere. Doldinger war so einer.
Der Multiinstrumentalist Klaus Doldinger hatte 1953 die Feetwarmers gegründet, während er Klavier und Klarinette an Düsseldorfs Robert-Schumann-Konservatorium studierte. Aber dabei beließ er es nicht. Er fügte seinen Studien das Saxophon hinzu (von der Klarinette aus ist das kein allzu großer Sprung, weil die Grifftechnik ähnlich ist, vom Charakter her ist es aber ein großer Sprung). Im Jahr 1955 gründete er Oscar’s Trio, so benannt zu Ehren Oscar Petersons, und gewann den „Coup Sidney Bechet“. Zudem machte er an der Hochschule eine Ausbildung zum Toningenieur, was ihm später sehr zugute kommen sollte. Im Jahr 1960 tourte Doldinger durch die USA, kam dort in Berührung mit George Lewis und anderen Jazzgrößen, spielte im Birdland und wurde Ehrenbürger von New Orleans. Zurück in Deutschland arbeitete er mit hier lebenden amerikanischen Musikern wie Don Ellis, Johnny Griffin, Kenny Clarke, Donald Byrd und Benny Bailey. 1962 folgte die Gründung des Klaus Doldinger Quartetts mit Ingfried Hoffmann (Orgel), Helmut Kandlberger (Bass) und Klaus Weiss (Drums). Dieses Quartett nahm für das Philips-Label die Alben Jazz Made In Germany (1963) und Live At The Blue Note Berlin (1964) auf; beide wurden von der Kritik hoch gelobt. Ab 1964 produzierte Doldinger Werbemusik – ein Nebenjob, für den er später berühmt wurde (wir erinnern uns an die wilde Frische der Seife Fa; ein Jingle, der über die Jahre in etlichen Variationen erschien, zuletzt auf dem Fairlight gespielt). Das alles öffnete Doldinger die Tür zur Filmmusik, die er nicht nur komponieren, sondern auch spielen und aufnehmen konnte; seine erste Filmmusik entstand im Jahr 1963 für den längst vergessenen Kurzfilm Verpasst den Anschluss nicht von Klaus Lemke. Doldingers erste eher jazzrockorientierte Band hieß Motherhood; der Name war ein freundlicher Gruß in Richtung Mothers Of Invention. Motherhood ist auf zwei LPs zu hören, die Besetzung war nicht konstant. Und Doldinger hielt sich fern vom Free Jazz, was seinem Erfolg nicht geschadet haben dürfte.
Meine erste unmittelbare Begegnung mit Doldinger war ein Sammel-Doppelalbum namens Electric Rock von 1969, das mir ein Mitschüler zum 13. Geburtstag schenkte. Darauf war Doldingers Motherhood zu hören, das Stück hieß „Sahara“.
![Electric Rock (Idee 2000) – 2 x Vinyl (LP, Sampler, Stereo), 1970 [r961447] | Discogs](https://i.discogs.com/3DnyxBPtbAlgXm4PwT-9QnUD4OEZcecsPb0HhLfznBI/rs:fit/g:sm/q:90/h:566/w:600/czM6Ly9kaXNjb2dz/LWRhdGFiYXNlLWlt/YWdlcy9SLTM4Nzgy/ODMtMTM0OTI4MDM4/NC0xMDY4LmpwZWc.jpeg)
Ich war hypnotisiert von der uhrwerkartig dahintickenden Schlagzeugmonotonie dieses Stücks, das von mir aus ewig hätte weitergehen können. „Sahara“ war das erste Stück, das mir den Namen Klaus Doldinger ins Bewusstsein brachte. Interessanterweise ist die auf diesem Album präsentierte Version (mit den Münchner Studiocracks Olaf Kübler, Joe Quick, Lothar Meid und dem Schweizer Drummer Kurt „Düde“ Dürst von Krokodil) auf keiner anderen Platte zu hören – schade und ein bisschen seltsam, denn das Stück war bis zuletzt noch in Doldingers Live-Repertoire.
Hier: SAHARA, Version 1969
Zweimal habe ich Doldinger live erlebt, beide Male in der Hamburger Musikhalle. Das erste Mal muss wohl 1975 gewesen sein, im Rahmen seiner „Jubilee ’75“-Tour, die ein wenig an die zeitlich korrekte „Jubilee“-Tour von 1974 angeklebt zu sein schien, wohl wegen des großen Erfolges.
![Passport And Les McCann, Philip Catherine, Johnny Griffin, Buddy Guy, Pete York – Doldinger Jubilee '75 – CD (Album, Reissue, Repress), [r4514800] | Discogs](https://i.discogs.com/yEiyWBjR4_9IXxqHZtK0n1zpbXRftLlalaGkZr9DTTM/rs:fit/g:sm/q:90/h:600/w:600/czM6Ly9kaXNjb2dz/LWRhdGFiYXNlLWlt/YWdlcy9SLTE2OTAw/MDctMTQ1NDk1OTc0/MC0yNDQwLmpwZWc.jpeg)
Die Besetzung war live aber eine andere als auf der zugehörigen LP, ich erinnere mich an Alphonse Mouzon an den Drums, der auf der LP nicht dabei ist.
Irgendwann spielte Doldinger mit seinem Ensemble Passport auch in Hamburgs legendärem Pö. Die wollten wir sehen, aber vor dem Eingang stand bereits eine solche Menschentraube, dass wir erst gar nicht versucht haben, hineinzukommen.
Vom Boot, von der Unendlichen Geschichte, vom Tatort, von Liebling Kreuzberg und vielem mehr will ich mal gar nicht erst anfangen. Auch nicht von all den Musikern, die durch ihn oder mit seinen Ensembles erst groß geworden sind — die Liste wäre zu lang.
Was sonst kann man noch sagen außer „Bye bye“ — am besten einfach nur „Gute Reise“, wohin auch immer.
Popol Vuh

„Er war zuerst mal Poet und dann erst Musiker, und sein Gefühl für die innere Struktur eines Filmstoffs war unfehlbar“, sagt der Filmemacher Werner Herzog über Florian Fricke (1944 – 2001), und Michael Cretu (Enigma) ergänzt: „Popol Vuh sind die größten Vorbilder, die ich je hatte und je haben werde.“
Popol Vuh, von Florian Fricke gegründet 1969, so benannt nach dem heiligen Buch der guatemaltekischen K’iche‘-Maya, gehörte fraglos zu den bemerkenswertesten Erscheinungen der frühen deutschen Rockszene — aber schon da zögert man, denn Rockmusik war das eigentlich nicht, was die Band zu Gehör brachte.
Was aber war es dann? An genau dieser Frage hangelt sich die jetzt vorgelegte Biografie entlang. Michael Fuchs-Gamböck und Michael Joseph untersuchen „die Klangwelten des Florian Fricke“, wie der Untertitel lautet. Und da gibt es einiges zu entdecken.
Florian Fricke war der zweite Besitzer eines Moog-Synthesizers in Deutschland nach Eberhard Schoener (der sein Miesbacher Nachbar war) und gilt seit Popol Vuhs Erstling Affenstunde (1970) als Pionier des Elektronik-Rocks. Es wird schnell deutlich, dass er das ohne seinen Mitstreiter, den Musiker und Filmemacher Frank Fiedler, wohl nicht geworden wäre, denn sein Technikverständnis war, sagen wir mal: begrenzt. Und ohne solches spielt der Synthesizer mit dem Musiker, nicht umgekehrt. Insofern war es konsequent, dass Fricke den Moog schon nach dem zweiten Album In den Gärten Pharaos (1971) wieder aufgab (der landete dann bei Klaus Schulze). Da er dafür allerdings eine deutlich durchgeistigtere Begründung angab, hat dieser Schritt seinem Ruf als Pionier nicht geschadet. Erst viel später, als die elektronischen Instrumente deutlich musikerfreundlicher geworden war, kehrte Fricke zu Synthesizern zurück (For You and Me, 1991) und entdeckte mit dem Synclavier auch das Sampling, das dann eine wichtige Rolle in seinen weiteren Werken spielte.
Einen großen Teil des Buches nimmt selbstverständlich Frickes Zusammenarbeit mit dem Regisseur Werner Herzog ein. In der Tat kann man Fricke wohl als kongenialen Partner bezeichnen; etliche von Herzogs Werken leben von seiner Filmmusik mindestens so stark wie von Herzogs künstlerischer Fantasie. Da hatten sich ganz offenkundig zwei gefunden — ein Glücksfall.
Ein eigenes Kapitel erhält auch Frank Fiedlers wunderbarer Film „Kailash — Pilgerfahrt zum Thron der Götter“ — eine Art Reisebericht ohne Kommentar, aber natürlich mit der Musik von Florian Fricke, gedreht 1994 auf einer gemeinsamen Reise der beiden nach Tibet. Der Mount Kailash wird als heilig angesehen und darf nur umrundet, aber nicht betreten werden.
Der komplexen Persönlichkeit Florian Frickes ist nicht leicht beizukommen. In diesem Buch spiegelt sich dies darin, dass die Autoren kapitelweise getrennt vorgehen, wobei jeweils namentlich gekennzeichnet ist, wer gerade spricht. Auch werden verschiedene Darstellungsformen gewählt; essayistische Texte liest man ebenso wie ein langes Gedicht, es gibt einen Ausflug in Frickes Tätigkeit als Kursleiter und Vortragender in Sachen Musik- und Atemtherapie, sehr informativ ist auch ein Gesprächsprotokoll vom Mai 2025 mit Frank Fiedler.
Mit der Persönlichkeit Frickes gehen die Autoren sehr pfleglich um — kein Wunder, denn sie waren mit ihm befreundet bzw. als Mitmusiker tätig; Frank Fiedler dürfte sogar einer von Frickes engsten Freunden und Mitstreitern gewesen sein. Dass man von anderen, die ihn ebenfalls kannten, durchaus handfestere Aussagen über Frickes Persönlichkeit, insbesondere auch über seinen frühen Tod, zu hören bekommen kann, wird in diesem Buch bestenfalls angedeutet. Das stört aber kaum und wird durch die Vielzahl der Informationen über ihn mehr als aufgewogen.
Frank Fiedler sagt heute: „Ich bin der große Archivar, wenn man so will. Außerdem waren Florian und ich enge Freunde, wobei wir durchaus mal Streit untereinander hatten. Wie das bei wahren Freunden üblich ist. Wir teilten eine Menge kreativer Ideen, waren ständig im Austausch. Florian und ich wussten voneinander, wie der andere künstlerisch tickt.“
Und Co-Autor Michael Joseph: „Das Thema lässt mich nicht mehr los. Ich werde weiter an der Aufarbeitung dieses Lebens arbeiten, denn die Geschichte von Florian Fricke ist noch lange nicht zu Ende erzählt. Vielleicht lebt er so in vielen Herzen weiter.“
In diesem Sinne ist dieses Buch ein guter Anfang.
Michael Schmidt-Gamböck und Michael Joseph:
Popol Vuh — Die Klangwelten des Florian Fricke
(inklusive Diskografie, Filmografie und Literaturliste)
edition kopfkiosk im Verlag Andreas Reiffer
Meine 2025, 188 Seiten, 16 €
ISBN 978-3-910335-13-4Georg Stefan Troller 1921 – 2025

Der Journalist, Filmemacher, Schriftsteller und Kenner der klassischen Wiener Kaffeehauskultur hat heute im gesegneten Alter von 103 Jahren seine Adresse von Paris ins Kosmische gewechselt. Wenn das kein Verlust für die Welt ist, dann weiß ich nicht, was einer ist.
Gerade noch im März dieses Jahres habe ich in diesem Blog an eines seiner Bücher erinnert.
The journalist, filmmaker, writer, and connoisseur of classic Viennese coffee house culture has changed his address from Paris to the cosmos today at the blessed age of 103. If that isn’t a loss for the world, I don’t know what is.
Just last March, I remembered one of his books in this blog.KI / AI

Wenn die KI wirklich intelligent wäre, würde sie sich weigern, solchen Schwachsinn zu produzieren.
If AI were truly intelligent, it would refuse to produce such nonsense.
Another Sunday Afternoon
Another fine organ concert on the 1962 Rudolf von Beckerath Organ at this year’s Saint Paul Cathedral Organ Concert Series, the last concert of five. Amanda Plazek Bruce played works by
Johann Sebastian Bach
Peter Kolar
Jean Langlais
John Dixon
Aaron Shows
Dieterich Buxtehude
Zsolt Gárdonyi
Marcel Dupré.
The concert got recorded and will hopefully be broadcast on Classical WQED-FM Pittsburgh — providing that this station will exist any longer. You might have heard that the funding of public radio and tv is no longer guaranteed.
Loud and Clear

(In English here)
So also sah sie aus, die legendäre „Wall of Sound“ mit der die Grateful Dead bis Mitte der 1970er unterwegs waren. Diese Konstruktion, die einen unvergleichlichen Klang produzierte, war auch die, mit der sich die Band am Ende selbst in die Knie zwang.
Das ganze Ding inklusive Gerüst war etwa so hoch wie drei Stockwerke eines Wohnhauses. Die Open-Air-Version maß rund 100 Fuß (circa 31 Meter) in der Breite und rund 40 Fuß (12 Meter) in der Tiefe. Die Version für Konzerthallen war nur geringfügig bescheidener, etwa 76 Fuß (23 Meter) breit und 30 Fuß (rund 9 Meter) tief. Die Wall of Sound beherbergte rund 600 Lautsprecher (vom Bass bis zum Tweeter), die von 50 Macintosh-Verstärkern mit einer Leistung von zusammen 28.000 Watt versorgt wurden. Die Verkabelung möchte man sich lieber gar nicht erst vorstellen. Die gesamte Anlage wog um die 75 Tonnen und sollte mindestens zehn Fuß über dem Boden stehen, damit der Klang ungebremst durch den ganzen Saal schwingen konnte.
Um das Gewicht dieser Konstruktion tragen zu können, musste der jeweilige Bühnenboden mit einer zweieinhalb Zentimeter dicken Sperrholzplatte abgedeckt werden, auf der das Gerüst fest verankert war. Wenn möglich, sollte das Gerüst auch in der Höhe fixiert sein, denn wenn die Dead in die Vollen gingen, konnte der erzeugte Schalldruck die gesamte Konstruktion ins Schwanken bringen.
Auf- und Abbau nahmen jeweils einen vollen Tag in Anspruch. Das Gerüst existierte deshalb zweifach, ebenso gab es zwei hochspezialisierte Roadcrews. Der Aufbau konnte so bereits bei der Tourneestation B beginnen, während die Band noch bei A spielte.
Die Wall of Sound produzierte bis zu 120 dB. Sie stand hinter der Band, die Musiker hörten also denselben Sound wie das Publikum vor der Bühne, und sie bekamen selbst die volle Dröhnung ab. Gehörschäden haben sie alle davongetragen. Der Witz der ganzen Konstruktion war, dass nicht — wie sonst üblich — der Klang aller Instrumente am Mischpult zusammengemixt und auf die zwei an den Bühnenrändern stehenden PA (= Public Address)-Lautsprecher verteilt wurde, sondern dass jedes Instrument seine eigene, nur von ihm benutzte Abteilung innerhalb der Wall hatte. Im Prinzip ist die Wall also nicht eine PA, sondern fünf.
Die Konstruktion gefiel keineswegs allen. Der Drummer Bill Kreutzmann beispielsweise hatte schlicht Angst, dieses über ihm hängende halbrunde Ding könne ihm auf den Kopf fallen. Das war nicht abwegig; zumindest einmal riss sich eine der Lautsprecherboxen aufgrund ihrer eigenen Vibration los und fiel herunter. Glücklicherweise traf sie niemanden. Es stellte sich auch sehr schnell heraus, dass der Gesang, desgleichen der Flügel, in Rückkopplungspfeifen unterging — klar, denn die Mikrofone standen ja direkt vor der Lautsprecherwand. Die Techniker der Band entwickelten deshalb ein sehr cleveres System, das zwei Mikrofone einsetzte:

Der Sänger musste in das obere Mikrofon singen, das untere wurde phasenversetzt eingesetzt — im Prinzip war das dieselbe Idee, die wir heute von den „noise-cancelling“-Kopfhörern kennen. Allerdings klang das Ganze immer latent hohl, und die Dead-Sängerin Donna Jean Godchaux war unzufrieden — als Studioprofi war sie bestimmte Mindestbedingungen gewohnt, die hier nicht erfüllt wurden (man hört ihren Backup-Gesang unter anderem in Percy Sledges „When a Man Loves a Woman“ und in Elvis‘ „Suspicious Hearts“). Und natürlich wurde das ganze System, je größer es wurde, desto pannenanfälliger. Verstärker knallten durch, das Stromnetz brach zusammen, einzelne Lautsprecher gaben seltsame Nebengeräusche von sich, aus dem Publikum wurden Frisbees gegen die Speaker geworfen, die Fans mussten teils mehrstündige Wartezeiten und Konzertunterbrechungen hinnehmen. Weil die Deadheads ihre Band kannten, gab es deswegen kaum jemals Ärger, aber eine Zumutung waren solche Pannen dennoch.
Der Konstrukteur dieses ganzen Traumes (oder war es doch eher ein Alptraum?) war, die Fans wissen es natürlich, der Toningenieur der Grateful Dead, Owsley Stanley, genannt Bear. Ihn wird man fraglos als eine „schillernde Persönlichkeit“ bezeichnen dürfen. Er war nebenher auch der Hersteller des wohl reinsten LSD-Präparats, das überhaupt zu bekommen war, sofern man nicht über Verbindungen verfügte, durch die man an das Original-Delysid aus Albert Hofmanns Labor herankam. Dass davon sowohl die Crews als auch die Gruppe selbst, wie auch große Teile ihrer Fans, regen Gebrauch machten, gehört heute zum Allgemeingut dessen, was die Saga so über die 60er- und 70er Jahre, Ken Kesey, die Merry Pranksters und die Acid Tests zu berichten weiß. Wer es genau wissen will, lese Tom Wolfes Buch „The Electric Kool-Aid Acid Test“.
Das alles ist auch Teil dieses vor wenigen Wochen erschienenen Buches:

Loud and Clear heißt das Buch, The Grateful Dead’s Wall of Sound and the Quest for Audio Perfection ist der Untertitel. Der Autor, Brian Anderson, ist stolzer Besitzer einer dieser alten Wall-Boxen; er hat sie von seinen Eltern übernommen, die Deadheads waren. Er geht die Geschichte der Wall of Sound systematisch durch. Denn natürlich war nicht plötzlich die Wall in der Welt, sondern das Soundsystem hat sich über Jahre hinweg entwickelt und wuchs immer weiter, bis es dann schließlich so gigantisch war, dass es die Grenze zur Unbrauchbarkeit überschritt.
Weshalb dieser ganze Wahnsinnsaufwand? Die Grateful Dead waren Klangfreaks, von Anfang an. Während andere Bands auf Verzerrungen standen, wollten die Dead einen sehr lauten, aber dennoch kristallklaren, verzerrungsfreien Klang. Und sie wollten, dass der Sound am hinteren Ende des Saales noch ebenso gut zu hören sei wie direkt vor der Bühne. Das aber lieferte keines der damals verfügbaren Soundsysteme, und so entwickelten sie über Jahre hinweg ihr eigenes.
Und das ließ man sich etwas kosten. Die Wall of Sound schlug damals alles in allem mit rund 350.000 Dollar zu Buche (was heute rund 2 Millionen entspräche), zum Transport wurden sieben Trucks benötigt. Allein diese Transporte kosteten die Dead rund 100.000 Dollar im Monat. Dazu kamen Angestellte und die Roadcrews. Die Band erwirtschaftete zweitweilig gewaltige Einnahmen, doch blieb davon kaum etwas übrig — und so entstand der Zwang, denselben Betrag immer wieder im nächsten Monat erneut erwirtschaften zu müssen. Am Ende hatten die Dead keine andere Wahl mehr, als nur noch Stadionkonzerte und Festivals zu spielen, mit Clubkonzerten war das nicht zu machen. Das ging auf die Dauer natürlich nicht gut. Irgendwann sind selbst in Amerika alle in Frage kommenden Stadien, Festivals und Großhallen abgegrast, Tourneen etwa nach England, Deutschland oder Frankreich waren nicht mehr verlustfrei zu machen — die Anlage war praktisch nicht mehr durch den Zoll zu bringen.
Und so wanderte 1974 die ganze Pracht am Ende in großen Teilen auf den Schrott. Etliche der Lautsprecherboxen landeten in Konzerthallen wie dem Winterland oder dem Fillmore East, etliche endeten aber auch als Hühnerstall in alternativen Landkommunen. Die Dead freundeten sich schlussendlich doch wieder mit handelsüblichen PA-Systemen an.
Es geht in dem Buch nicht nur um Technikbegeisterung, sondern auch um Tourneegeschichten — um nicht zu sagen: um Klatsch. Es spricht auch eine gewisse Wehmut, eine leise „Es war einmal“-Stimmung aus dem Buch. Denn wenn auch die Technik im Vordergrund steht, so sind hier auch immer die Menschen beschrieben, die sie gebaut und bedient haben. Davon hätte man sich gelegentlich etwas mehr gewünscht. So eine Überraschung ist zum Beispiel, dass Owsley Stanley nach einem Schwimmunfall auf einem Ohr so gut wie taub war, aber meinte, auf LSD könne er den Schall sehen. Vielleicht war das wirklich so, der Sound jedenfalls, den diese Wall produziert hat, dürfte bis heute unerreicht sein. Ich hätte ihn gern mal gehört. Man wüsste auch gern, was Bear (und die noch lebenden Dead-Mitglieder) zu den wesentlich kompakteren PA-Systemen sagen würden, die uns heute zur Verfügung stehen.
Zu kritisieren ist im Prinzip nur eine manchmal allzu sehr ins Längliche führende Detailfreude. Manches Mal hätte ein simples Foto drei Seiten Text erspart. Das Buch hat zwar eine Fotostrecke, die aber eher wenig ergiebig ist. Und irgendwann hat auch der geduldigste Leser begriffen, dass Drogen zum Alltag gehörten und in jeder Halle wieder neue und andere Schwierigkeiten auftraten, die irgendwie gelöst wurden (oder eben auch nicht). Ein gewisses Maß an Technikverständnis sollte man mitbringen, wenngleich sich Anderson viel Mühe gegeben hat, einen Lesefluss zu erzeugen, der durch die immerhin 350 Seiten dieses Buches trägt.
Brian Anderson:
Loud and Clear
The Grateful Dead’s Wall of Sound and the Quest for Audio Perfection
St. Martin’s Press, New York 2025
ISBN 978-1-250-31967-8Sunday afternoon
Just heard a nice little organ concert at St Paul with J.R. Daniels on the cathedral’s 1962 Rudolf von Beckerath organ. It’s seen as one of the most important organs in the U.S., and I think rightly so.
As apparently today it seems unavoidable to play a concert like this without some film music (thanks to Anna Lapwood), a „Star Wars“ medley had to be included, but well, even this sounded fine.

