Liebe Villa Sonnenschein!
Ich weiss noch, wie wir vor Monaten zusammensassen bei eurer Hauspizza Neapolitana, und du eine Jugenderinnerung ausgrubst, Tobi, an diesen einen hypermelodischen Song von Velvet Underground, als Assoziation zu „Suddenly“ von Beatie Wolfe und Brian Eno – und tags später erzählte Beatie mit was von genau diesem Lied über einen magischen Sonntagmorgen.
Musik hat nie eine Hauptrolle in eurem Leben gespielt – dabei traf ich genau ins Schwarze, als dir, Ulrike ganz warm uns Herz wurde als ich dir, auch schon wieder länger her, eine Ballade aus John Coltranes „Ballads“ vorspielte.
Hier also eine Art Gebrauchsanweisung meiner gestrigen „Klanghorizonte“. Ich bin zuversichtlich: wenn ihr sie gelesen habt, werdet ihr beim Wiederhören die Musik nicht mehr in melodisch / eingängig und wild / schwierig einorden.
Es begann alles damit, als ich in „Electronic Sounds“ eine kleine Besprechung von Ludwig Bergers „Crying Glacier“ las, und Jan Bang mir Wochen später die erste aus dem Presswerk angekommen Schallplatte seiner neuen Arbeit, „After The Wildfire“, schickte. Es war völlig klar, dass diese beiden Alben den ersten Teil der „Klanghorizonte“ bilden würden.
Ein Unheil nach dem anderen. Die Feuerbrünste in Mazedonien, in Griechenland: als Brian und Roger Eno in der Akropolis spielten, war die Hitze bis zur Bühne hin erlebbar. Jan und Arve befassten sich mit dem Danach, der Trauerarbeit, aber auch mit unbändigem Widerstandsgeist. Die alten Gesänge bleiben unverwüstbar, niemand verlernt das Tanzen auf Dauer. Manchmal, in dem Stück das ich spielte, kracht es kurz, das ist die „Schattengitarre“ von Eivind Aarset.
Mit einem Augenzwinkern könnte man übrigens die „Feldaufnahmen“ aus den Schweizer Alpen für den Soundtrack eines Abenteuerfilms halten: „Indiana Jones im Vadret De Morteratsch“. Aber rasch wird aus humoriger Abwehr ein ungewohnter Ernst. Beim zweiten Hören fremdelt man nicht mehr mit dieser Musik der Natur. Staunen und Erschauern setzen ein.

Und so bekam die Erzählung der Stunde, mit allen ihren „field recordings“, eine klare Form: von dem „weinenden Gletscher hin zu einer anderen grünen Welt“. Es ist das gute alte „Prinzip Hoffnung“ meines deutschen Lieblingsphilosophen des 20. Jahrhunderts Ernst Bloch, das hier im Handlungsgefüge der Klanghorizonte zum Tragen kommt:
„Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern. Hoffen, über dem Fürchten gelegen, ist weder passiv wie dieses, noch gar in ein Nichts gesperrt.“
Lässt man diese Sätze etwas länger auf sich wirken, gewinnen sie an Klarheit. Brian Enos „Another Green World“ bietet solche utopischen Räume, die wir sterblichen Wesen in Angriff nehmen können, die Übergänge zwischen Traum und Wirklichkeit sind fliessender als wir gemeinhin denken.
Und so beginnt der dritte und letzte Teil der Stunde, zwar sehr unheimlich, in einem Niemandsland aus Yorkshire, aber es sind auch solche Randzonen, in denen sich unsere Welt abbildet. Natur und Zivilisation treffen aufeinander, elektronische Sounds grundieren das Gewebe aus Vogelstimmen, Zuggeräuschen und anderen Seltsamkeiten. Im Nachhinein hätte ich vielleicht ein sanfteres Stück aus der Philip Jeck Anthologie nehmen sollen.
Fliessender Übergang in andere Randzone: die Finka von Alfreda Benge und Robert Wyatt, ihr Sommerunterschlupf in den 1980er Jahren: das Album „Dondestan“ ruft diese „thin places“ wach, auch hier öffnen sich Zonen zwischen Traum und Wirklichkeit: ein imaginäres Kinderbuch beschwört ein eigenständiges Palästina, eine Mülltüte fliegt in sanfter Konkurrenz zu einem Zeitungspapier von gestern über den Strand.
Es sind solche Zwischenzonen und Randgebiete, die Jürgen Becker schon früh in seiner Lyrik aufgriff, Orte der Erosion, lange, bevor Die Grünen ihr erstes Grundsatzpapier verfassten.
Hier ein Screenshot der Playlist der Stunde. Im kommenden Jahr plane ich, themenzentriert, Art von Radio, öffentlich aufzuführen. Wie einst bei den „lectures“ in Kristiansand.

Es folgt ein Song aus dem dritten Album „Liminal“ von Brian Eno und Beatie Wolfe: gehüllt in pure Traumsphäre, legt der Zeitlupengesang eine ganz andere Ebens frei: unsere Fragilität, die Träume, die zerbrechen. Immer wieder auch ein Memento mori. Dass wir Kinder ohne Sterne seien, verkündet Beatie, und leise gesellt sich Brian Stimme am Ende dazu. Wie war das noch mit den Woodstock-Träumen von Joni Mitchell!?
Sich in die Dunkelheit fallen lassen, ist auch eine Kunst. Music, the doctor, music, the healer! Heilen in kleinen Dosen, keiner wird übertreiben.
Und so bleibt das Zentrum dieser Stunde, die beiden neuen Werke von The Necks und Steve Tibbetts, Stammgäste meiner Ausgaben der Klanghorizonte, in einer Stunde voller Stammgäste! Es gehört zu den schönen Zufällen, dass Enos Another Green World in diesem Herbst 50 Jahre alt wird, und somit, neben den Themen dieser Stunde, allemal ein naheliegendes Finale darstellt.

Wer Steve Tibbetts‘ Werke nicht kennt, wird vielleicht ein zweites, drittes Hören brauchen, bis der berühmte Groschen fällt. Es gibt solche „Kippeffekte“, bei denen etwas, das zuerst seltsam, verstörend, unheimlich wirkt, auf einmal fasziniert und fesselt. Wie bei Bergers Gletschermusik. Das könnte auch für das „warm strömende Sonnenlicht“ der Necks gelten: eine gute Einführung für diese Komposition wäre ein Besuch im Pariser Museum der Impressionisten, und da speziell der Raum mit den riesigen Seerosenbildern von Claude Monet!
Die Stories, die Steve erzählt (und er zählt zu meinen liebsten Interviewpartnern), sind auf eigene Weise spannend, nehmen sie ums doch mit in den kreativen Prozess des Musikmachens – und Musikhörens!
In diesem Sinne hoffe ich auf das eine und andere Aha-Erlebnis bei euren „zweiten Hören“, und auf ein baldiges Wiedersehen in der Villa Sonnenschein oder meiner „elektrischen Höhle“.
In den 80 Welten um den Tag, in welchen wir regelmässig landen, bin ich gerade in jener unterwegs, die mich mit dem Toyota nach Mainz führt, zum Auswärtsspiel des BVB, und zu zwei alten Freunden. Im Gepäck ein alter Lyrikband von Jürgen Becker, „Triple Override“ von Jeff Tweedy, und eine Karte für die Pressetribüne. Thank you, Uli!
P.S. Die kleine Kiwi hatte was!
3 Kommentare
W. S. aus Frankfurt
Das Stück von Phillip Jeck ist wirklich unheimlich. Es ist Teil eines grösseren Hörspiels gewesen, glaube ich. Das Album rpm ist eine bemerkenswerte Einführung in Jecks Werke.
Die fieldrecordings sind also hier ein Leitmotiv, und dazu die Inspirationen von Naturklängen. Robert Wyatts Stimme imitiert den Wind. Und auch auf Brian Enos Schlusstück säuselt eine Art Wind zu Beginn (nicht zu hören hier im Hintergrund).
Tibbetts klingt wahnsinnig gut. Und wenn jemand so unterhaltsam und ernst erzählt, dann ist das auch eine gute Einführung in die Musik.
Michael E
Oh, da kennt aber jemand ANOTHER GREEN WORLD sehr gut. Bin mal gespannt, pb es zu dem Album zum halben Jahrhundert angemessene Würdigungen gibt.
Die Sache mit dem Jubiläen gehört natürluch zu der Recycling / Remaster Kultur. Als och noch hin und wieder Corso am Samstag machte, fragte mich ein Redakteur, ob ich was zu einem Musiker von Queen machen wolle, der gerade 65 geworden sei. Ich lehnte freundlich ab.
Ich freue mich, wenn jemand bei solch einem Jahresjubiläum wie AGW wird 50 diese Musik erstmals entdeckt. Pure Nostalgie nimmt der Musik viel von ihrer Kraft.
Email for Beatie
Dear Beatie,
Now you could listen to the hour on a quiet evening.
A long time ago, I visited Brian (in 1990, 1991) in his old house in Maida Vale, where they had worked hard on the songs of the first Roxy album. But there he sat and I looked over his shoulder working on details of The Shutov Assembly.
Early in the day, we went to a park nearby and I made my crash course with him on lucid dreaming. The basics. It was Hassell who at first opened that field with some notes accompanying „Dream Theory In Malay“.
The same afternoon I would visit his old friend Robert Wyatt. And Alfie. Two months before the release I has just been traveling with „Dondestan“ (on cassette) through Dorset and Cornwall. He wrote some words for Robert and Alfie, put them in an envelope – and he was keen to listen to my cassette of Dondestan. He kept it😉.. As Robert told me later in the day, Brian had visited them one long summer week in their little house near the Spanish beach.
Now in my radio hour i am speaking at one point about two great duos / couples / best buddies on their creative high: Robert and Alfie, Brian and you. The song „Sight of the wind“ is followed by „Shallow Form“.
I had to think hard: should I play „Shallow Form“ or „Shudder Like Crows“? The last one ist such an elevating song (despite some verses inside), such a perfect ending of Liminal, such a wonderful treatment of your voice (trembling, falling apart, sending me places)….
but I chose „Shallow Form“ because it kept – and extended – the mood of „Sight Of The Wind“, and I loved the way Brian entered the scene at the end. („we are children of the stars…“ like the other side of Joni‘s „Woodstock“ dream).
Then my words of circles closing (f.e., Another Green World, 50 years ago, was the first melange of ambient and song, songs and „nongs“, so to speak), and now Liminal… the hour is closing with the irresistible impact of Brian’s Becalmed…
By the way, there are no albums I‘ve heard more often in my life than Another Green World amd its „night mix twin“ Music For Films. And that says something. As someone born in 1955 I had my teenager years with Sgt. Pepper😉
Now i will write a review on Liminal, and i have one question only, and it would be perfect if you can write me your amswer via email.
Can you tell me the story behind „Shudde Like Crows“? How did the music came to be, in relation to the lyrics? And who did the words find you, words like „… a quiet life where / We can blend / Hidden thoughts / With sweet lament…“
Again: so uttterly sad, and so uplifting in a strange way…
Best, Michael!