Buddenbrooks & Co.

(English version here!)

Sagt einem Thomas Mann heute noch etwas? Soll man diese alten Kamellen wirklich noch lesen? 

Die Weimarer Zeit und besonders ihre Kabarettszene interessiert mich seit je, damals wie heute. Neben Altmeister Tucholsky war Klaus Mann einer der wichtigen Impulsgeber. Seinen Roman „Mephisto“, 1936 im Exil geschrieben, musste ich schon der Verfilmung von 1981 wegen lesen (Regie: István Szabó; Oscar für „Best Foreign-Language Film“; Brandauer spielte darin wie immer Brandauer). In den Cafés rund um die Uni war der Film ein Dauerthema, den wir immer wieder diskutiert haben — da der Roman ja als „Schlüsselroman“ galt, erzeugte er jede Menge „Wer-ist-wer?“-Spekulationen, und man stieß auf Namen, die kaum noch jemand unterzubringen wusste. Ich, als an Kabarettgeschichte Interessierter, kannte etliche der Namen. Über die historischen Unebenheiten des Romans sahen wir damals großzügig hinweg; ein lesenswertes Buch über einen Karrieristen, der sich selbst in die Falle geht, ist „Mephisto“ allemal.

Und da ich dann schon bei Klaus Mann war, mussten „Treffpunkt im Unendlichen“ und „Der Wendepunkt“ folgen; letzteres Buch ist unverzichtbare Lektüre, wenn man sich für die politische und gesellschaftliche Situation der Ära interessiert — es ist erschreckend aktuell, aber weniger klatschsüchtig als Florian Illies (dem es in seinen Büchern wohl mehr auf den Unterhaltungsfaktor ankommt). 

Mit Klaus war ich dann schon mal im Kraftfeld der Mann-Familie. Man kommt schwer heraus, wenn man mal drin ist. Denn auch „Der Untertan“ von Heinrich Mann erwies sich als fesselnde Entdeckung — und das, obwohl wir den auch schon Jahre vorher im Deutschunterricht besprochen hatten. Aber da kam es wie meist in solchen Fällen: Literaturexegesen im Schulunterricht sind eine ziemlich sichere Methode, einem auch die besten Werke zu vermiesen. Die Wiederentdeckung jedoch belehrte mich eines Besseren: „Der Untertan“ ist eine großartige Geschichte. (Es gibt auch eine meisterliche Verfilmung von 1951 in der Regie von Wolfgang Staudte.)

Und so bin ich dann letzten Endes auch auf den Herrn Papa selbst gestoßen — keine Ahnung, in der wievielten Auflage dieses Werk von 1901 inzwischen erschienen ist, aber dies hier ist die Taschenbuchausgabe, die ich noch immer im Regal habe:

Auch diesen Roman muss ich als Student zu lesen begonnen haben. Da bin ich mir ziemlich sicher, denn ich kann mich daran erinnern, dass es mir auf die Nerven ging, wie Thomas Mann jeden Kerzenhalter und jeden Kniff in jedem Sofakissen bis hinein in winzigste Details beschreibt. Ob ich die 759 Seiten damals bis zu Ende durchgelesen habe? Ganz ehrlich, ich weiß es nicht mehr.

Nun wollte aber der Zufall, dass ich vor einiger Zeit anlässlich Thomas Manns 150. Geburtstag in der ARD-Mediathek auf den Dreiteiler Die Manns — Ein Jahrhundertroman (2001, Trailer) von Heinrich Breloer und Horst Königstein stieß. Wie diese beiden das auch in anderen Produktionen schon gemacht hatten, kombinieren sie in dieser (wie man heute sagen würde) „Miniserie“ nachgespielte, manchmal auch fiktionale, Szenen mit Originaldokumenten aus dem Leben der erweiterten Mann-Familie. Da kommen sie alle vor, Thomas, Klaus, Heinrich, Erika, Golo, Katia, Monika, Elisabeth, Frido, die Pringsheims, Gustaf Gründgens (alias Mephisto), kurz: der ganze Clan, das Ganze in exzellenter Besetzung, und ein spannendes Stück Zeitgeschichte sowieso.

Dies wiederum brachte mich zu „Deutsche Hörer!“, der von Mely Kiyak herausgegebenen vollständigen Sammlung der Radioansprachen, die Thomas Mann ab 1941 von Los Angeles aus via BBC nach Deutschland schickte.

Unbedingt lesenswert. Man staunt, mit welcher Wucht, mit welcher Präzision und gleichzeitig mit welcher Hellsichtigkeit Thomas Mann die Naziherrschaft zersägt. Da bleibt kein Stein auf dem anderen. (Heißer Tipp nur: das Ganze nicht in einem Rutsch durchlesen, sondern eine Ansprache pro Tag.)

Thomas Mann also doch. Aber noch hatte ich die unendlich vielen, nervenden Kniffe in den Sofakissen nicht vergessen. Waren die nicht immer noch im Weg?

Es kommt darauf an, wie man die Geschichte liest. Diesmal habe ich „Buddenbrooks“ wirklich von der ersten bis zur letzten Seite gelesen, und nach anfänglicher Widerborstigkeit der Story bin ich zunehmend in ihr versunken. Der Untertitel „Verfall einer Familie“ zeigt, was zu erwarten steht: Es geht um eine zunächst wohlhabende Lübecker Kaufmannsfamilie und ihren sich über vier Generationen hinziehenden Untergang, beginnend 1835, bis die Geschichte 1877 in Pleite, Krankheit und Tod endet. Thomas Mann schrieb vier Jahre an dem Buch. Er kannte das Milieu, über das er spricht. Natürlich ist es keine Dokumentation, aber etliche der Personen haben reale Vorbilder; in Teilaspekten der Figur Hanno taucht Thomas Mann sogar selbst auf.

Die mir vorliegende Fassung folgt in Rechtschreibung und Grammatik den Regeln des Jahres 1901, und auch, wenn dies anfangs ein wenig irritiert, erweist es sich letztlich doch als richtig. 

Auch ohne den Untertitel ahnt man recht bald, dass hier keine Erfolgsgeschichte erzählt wird. An der Oberfläche erfährt man eine Menge über die Lebensverhältnisse der Menschen jener Jahre, man lernt ihre Gewohnheiten, ihre Schicksale, ihr Handeln, ihre (meist kleinen) Erfolge kennen, ebenso auch ihr Versagen im Rahmen der Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung standen. Thomas Mann beschreibt sie ebenso liebevoll wie meisterlich; nach einer Weile meint man sogar ihre Stimmen zu hören. 

Liest man die Marotten, mit denen Thomas Mann seine Akteure ausstattet, hat man manchmal schon fast den Eindruck, ein modernes Drehbuch zu lesen: Er beherrschte schon damals die Tricks, seine Personen leitmotivisch wiedererkennbar zu machen, sei es durch Dialekte („Ick heww da nu ’naug von!“), bestimmte Redewendungen (“ … sei glöcklich, du gutes Kend“, zu welcher stets auch ein „knallender Kuss auf die Stirn“ appliziert wird. So wird jede Figur mit individuellen Gewohnheiten oder Eigenarten ihres Auftretens ausgestattet, etwa Antonie (Tony), die bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten immer wieder ihr Beharren darauf zur Schau stellt, „kein dummes Ding mehr“ zu sein und zu wissen, was sie „vom Leben zu halten“ habe. Die geradezu satirische Schilderung einer Lübecker Ratsversammlung könnte aus dem heutigen Bundestag stammen. Und doch fehlt jede Häme; Mann macht sich über keinen seiner Charaktere lustig, immer lässt er ihnen einen letzten Rest Würde.  

Thomas Mann bedient die volle Bandbreite zwischen hochkomischen und todtraurigen Ereignissen, Erfolgen und Fehlschlägen; sein Gespür für das richtige Timing ist bewundernswert. Die meisten der geschilderten Ereignisse kann man herannahen sehen, ihre unvermeidlichen Konsequenzen folgen dann glashart, und der Autor geht mit seinen Charakteren alles andere als schonend um. Allerdings auch nicht mit dem Leser — insbesondere seine Schilderungen von Krankheits- oder Todesfällen gehen nicht selten bis an den Rand des Erträglichen.

Das heißt nicht, dass es keine Schwerpunkte gibt. Thomas Mann hat auch Lieblinge, denen er größere Aufmerksamkeit widmet als anderen — Tony sei als Beispiel genannt, ebenso das verhinderte musikalische Wunderkind Hanno Buddenbrook, an dessen Beispiel Mann in einer Art Exkurs das elende Schulsystem der damaligen Zeit schildert. (Tatsächlich spricht Thomas Mann in diesen Abschnitten offenkundig über seine eigene Schulzeit, die purer Horror gewesen sein muss. Diese fallen ein wenig aus dem Rahmen der Handlung, und doch kann man diese Episoden nicht weglassen, ohne dass der Geschichte ein wichtiger Farbton fehlen würde.) 

Aber dies alles ist eigentlich noch nicht das Entscheidende; es ist nicht das, was diesen Roman und seinen Autor so herausragend macht. Thomas Mann geht es in seinem Schreiben nicht primär darum, wie man heute sagen würde, „Content“ zu liefern. Das tut er mit seinem breiten Bildungsspektrum sowieso, ganz nebenbei.

Das Geheimnis liegt in Thomas Manns Schreibstil und der Art, wie er einem Architekten gleich einen Bauplan verfolgt. Ich habe während des Lesens zunehmend an den Aufbau einer Mahler- oder Bruckner-Sinfonie denken müssen. Da könnte man leicht versucht sein, zu sagen: Das hättste auch einfacher haben können, zum Beispiel als Klaviersonate oder als Streichquartett. Aber es geht eben nicht nur darum, ein paar Melodien passend zusammenzustellen, sondern eine Sinfonie arbeitet Leitmotive, Melodien, Stimmen, Variationen, Klangfarben, Tempi und Dynamikabstufungen aus bis in die letzte Verzweigung. Erst aus diesem Zusammenspiel ergibt sich das Gesamtbild. Nichts darf fehlen, auch wenn man den Sinn vielleicht nicht sofort erkennt. 

Eine Sinfonie in dieser Weise zu hören erfordert geistige Mitarbeit, aber die zahlt sich aus. Auf das Tempo und den langen Atem der „Buddenbrooks“ muss man sich einlassen wollen. Die Zeit muss man sich nehmen. Diese Geschichte ist ein sinfonisches Gesamtkunstwerk; jeder Satz hat hier seine Bedeutung und seinen Sinn, aber er erschließt sich erst in der Gesamtschau. „Buddenbrooks“ ist ein klingender Kosmos.

Man ist das heute vielleicht nicht mehr gewohnt. Ein Grund mehr, in diese Geschichte einzutauchen. Man kommt als veränderter Leser wieder heraus.

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