Mitten im Leserausch

Dies ist keine Romanbesprechung. Denn ich bin erst auf Seite 257. Und der Kriminalroman hat 571 Seiten. Federico Axat wurde 1975 in Buenos Aires geboren, wo er auch heute lebt. Das ist das erste Buch, das ich von ihm lese. Keine Spoilerei, keine Sorge. Die Geschichte beginnt mit einer enorm erfolgreichen Journalistin (zwei Emmys für investigative Fernsehbeiträge – na ja, okay!), die sich aus ihrem Beruf zurückzieht, und es dann doch nicht sein lassen kann. So weit, so bekannt. Eine Jugendliche ist verschwunden, man spricht von Suizid, aber daran bestehen gehörige Zweifel. Okay, das ist erstmal klassisches Krimi-Terrain.

Aber dann passiert mir dieser „switch“, dass ich plötzlich in der Story drin war. Axat hat einen angenehm intelligenten, unprätentiösen Schreibstil mit einer Prise Humor und der Fähigkeit, seine Figuren ernst zu nehmen. Das ganze Feld vibriert mit dem Zauberwort „coming of age“. Die junge Clique, die sich über Musik und Freundschaft findet, droht zu zerreissen, als ein Drama viral geht. Eine Protagonistin ist die nur musikalisch frühreife Janice, die nicht zufällig zu ihrem Namen gekommen ist und in Joplins Album „Pearl“ viel mehr von sich findet als in den keimfrei geschliffenen Pop-und-Country-Preziosen einer Taylor Swift. „I pulled my harpoon out of my dirty red bandana / I’s playin‘ soft while Bobby sang the blues / Windshield wipers slappin‘ time…“ Wie Musik als Bindemittel einer kleinen, halbverschworenen Gruppe von Teenagern fungiert, das hat was!

Dann das Ende all dieser Träume ewiger Verbundenheiten, das Ende der Jugend nah: ich fühle mich hier und da angenehm erinnert an meinen Lieblingsfilm „Absolute Giganten“. Ich mag es, wie der Autor aus manch unscheinbarer Figur vielschichtige Momente hervorzaubert. Der Aufbau der Spannungskurven funktioniert auch dank zweier faszinierend in Szene gesetzter Zeitebenen, angesiedelt vor und nach dem Verschwinden der hochintelligenten Sophia (hochintelligent, Zentrum der Clique, der diversen Handlungsebenen, Schlüsselfigur mit erstaunlich früh gebildeter Menschenkenntnis und detektivischem Talent – sie heisst auch noch Holmes, fällt mir echt erst jetzt auf).

Und so bin ich jetzt mittendrin, auf Seite 257, hoffe, dass Sophia keinen schlimmen Scheiss gebaut hat und noch lebt – und schreibe diese Zeilen im Wartezimmer einer ungemein sympathischen, extrem gutaussehenden Augenärztin. Zumindest in diesem autobiografischen Fall werde ich alle Rätsel auflösen (ich bin vielleicht viermal in meinem Leben bei Augenärzten gewesen, zweimal davon mit sechs oder sieben Jahren): normaler Augeninnendruck, mit Brille komme ich links zumindest auf 100 Prozent, Anfang eines Grauen Stars (muss nicht operiert werden), kein Grüner Star. So weit, so gut, so altersgerecht! Jetzt aber ratzfatz zurück in mein erstklassiges Leseabenteuer, dem wahrscheinlich besten Psychothriller seit „Der Gott des Waldes“ von Liz Moore! Ein Fall nicht nur für Sylvia aus meiner Klartraumgruppe!

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert