Loud and Clear

(In English here)
So also sah sie aus, die legendäre „Wall of Sound“ mit der die Grateful Dead bis Mitte der 1970er unterwegs waren. Diese Konstruktion, die einen unvergleichlichen Klang produzierte, war auch die, mit der sich die Band am Ende selbst in die Knie zwang.
Das ganze Ding inklusive Gerüst war etwa so hoch wie drei Stockwerke eines Wohnhauses. Die Open-Air-Version maß rund 100 Fuß (circa 31 Meter) in der Breite und rund 40 Fuß (12 Meter) in der Tiefe. Die Version für Konzerthallen war nur geringfügig bescheidener, etwa 76 Fuß (23 Meter) breit und 30 Fuß (rund 9 Meter) tief. Die Wall of Sound beherbergte rund 600 Lautsprecher (vom Bass bis zum Tweeter), die von 50 Macintosh-Verstärkern mit einer Leistung von zusammen 28.000 Watt versorgt wurden. Die Verkabelung möchte man sich lieber gar nicht erst vorstellen. Die gesamte Anlage wog um die 75 Tonnen und sollte mindestens zehn Fuß über dem Boden stehen, damit der Klang ungebremst durch den ganzen Saal schwingen konnte.
Um das Gewicht dieser Konstruktion tragen zu können, musste der jeweilige Bühnenboden mit einer zweieinhalb Zentimeter dicken Sperrholzplatte abgedeckt werden, auf der das Gerüst fest verankert war. Wenn möglich, sollte das Gerüst auch in der Höhe fixiert sein, denn wenn die Dead in die Vollen gingen, konnte der erzeugte Schalldruck die gesamte Konstruktion ins Schwanken bringen.
Auf- und Abbau nahmen jeweils einen vollen Tag in Anspruch. Das Gerüst existierte deshalb zweifach, ebenso gab es zwei hochspezialisierte Roadcrews. Der Aufbau konnte so bereits bei der Tourneestation B beginnen, während die Band noch bei A spielte.
Die Wall of Sound produzierte bis zu 120 dB. Sie stand hinter der Band, die Musiker hörten also denselben Sound wie das Publikum vor der Bühne, und sie bekamen selbst die volle Dröhnung ab. Gehörschäden haben sie alle davongetragen. Der Witz der ganzen Konstruktion war, dass nicht — wie sonst üblich — der Klang aller Instrumente am Mischpult zusammengemixt und auf die zwei an den Bühnenrändern stehenden PA (= Public Address)-Lautsprecher verteilt wurde, sondern dass jedes Instrument seine eigene, nur von ihm benutzte Abteilung innerhalb der Wall hatte. Im Prinzip ist die Wall also nicht eine PA, sondern fünf.
Die Konstruktion gefiel keineswegs allen. Der Drummer Bill Kreutzmann beispielsweise hatte schlicht Angst, dieses über ihm hängende halbrunde Ding könne ihm auf den Kopf fallen. Das war nicht abwegig; zumindest einmal riss sich eine der Lautsprecherboxen aufgrund ihrer eigenen Vibration los und fiel herunter. Glücklicherweise traf sie niemanden. Es stellte sich auch sehr schnell heraus, dass der Gesang, desgleichen der Flügel, in Rückkopplungspfeifen unterging — klar, denn die Mikrofone standen ja direkt vor der Lautsprecherwand. Die Techniker der Band entwickelten deshalb ein sehr cleveres System, das zwei Mikrofone einsetzte:

Der Sänger musste in das obere Mikrofon singen, das untere wurde phasenversetzt eingesetzt — im Prinzip war das dieselbe Idee, die wir heute von den „noise-cancelling“-Kopfhörern kennen. Allerdings klang das Ganze immer latent hohl, und die Dead-Sängerin Donna Jean Godchaux war unzufrieden — als Studioprofi war sie bestimmte Mindestbedingungen gewohnt, die hier nicht erfüllt wurden (man hört ihren Backup-Gesang unter anderem in Percy Sledges „When a Man Loves a Woman“ und in Elvis‘ „Suspicious Hearts“). Und natürlich wurde das ganze System, je größer es wurde, desto pannenanfälliger. Verstärker knallten durch, das Stromnetz brach zusammen, einzelne Lautsprecher gaben seltsame Nebengeräusche von sich, die Fans mussten teils mehrstündige Wartezeiten und Konzertunterbrechungen hinnehmen. Weil die Deadheads ihre Band kannten, gab es deswegen kaum jemals Ärger, aber eine Zumutung waren solche Pannen dennoch.
Der Konstrukteur dieses ganzen Traumes (oder war es doch eher ein Alptraum?) war, die Fans wissen es natürlich, der Toningenieur der Grateful Dead, Owsley Stanley, genannt Bear. Ihn wird man fraglos als eine „schillernde Persönlichkeit“ bezeichnen dürfen. Er war nebenher auch der Hersteller des wohl reinsten LSD-Präparats, das überhaupt zu bekommen war, sofern man nicht über Verbindungen verfügte, durch die man an das Original-Delysid aus Albert Hofmanns Labor herankam. Dass davon sowohl die Crews als auch die Gruppe selbst, wie auch große Teile ihrer Fans, regen Gebrauch machten, gehört heute zum Allgemeingut dessen, was die Saga so über die 60er- und 70er Jahre, Ken Kesey, die Merry Pranksters und die Acid Tests zu berichten weiß. Wer es genau wissen will, lese Tom Wolfes Buch „The Electric Cool-Aid Acid Test“.
Das alles ist auch Teil dieses vor wenigen Wochen erschienenen Buches:

Loud and Clear heißt das Buch, The Grateful Dead’s Wall of Sound and the Quest for Audio Perfection ist der Untertitel. Der Autor, Brian Anderson, ist stolzer Besitzer einer dieser alten Wall-Boxen; er hat sie von seinen Eltern übernommen, die Deadheads waren. Er geht die Geschichte der Wall of Sound systematisch durch. Denn natürlich war nicht plötzlich die Wall in der Welt, sondern das Soundsystem hat sich über Jahre hinweg entwickelt und wuchs immer weiter, bis es dann schließlich so gigantisch war, dass es die Grenze zur Unbrauchbarkeit überschritt.
Weshalb dieser ganze Wahnsinnsaufwand? Die Grateful Dead waren Klangfreaks, von Anfang an. Während andere Bands auf Verzerrungen standen, wollten die Dead einen sehr lauten, aber dennoch kristallklaren, verzerrungsfreien Klang. Und sie wollten, dass der Sound am hinteren Ende des Saales noch ebenso gut zu hören sei wie direkt vor der Bühne. Das aber lieferte keines der damals verfügbaren Soundsysteme, und so entwickelten sie über Jahre hinweg ihr eigenes.
Und das ließ man sich etwas kosten. Die Wall of Sound schlug damals alles in allem mit rund 350.000 Dollar zu Buche (was heute rund 2 Millionen entspräche), zum Transport wurden sieben Trucks benötigt. Allein diese Transporte kosteten die Dead rund 100.000 Dollar im Monat. Dazu kamen Angestellte und die Roadcrews. Die Band erwirtschaftete zweitweilig gewaltige Einnahmen, doch blieb davon kaum etwas übrig — und so entstand der Zwang, denselben Betrag immer wieder im nächsten Monat erneut erwirtschaften zu müssen. Am Ende hatten die Dead keine andere Wahl mehr, als nur noch Stadionkonzerte und Festivals zu spielen, mit Clubkonzerten war das nicht zu machen. Das ging auf die Dauer natürlich nicht gut. Irgendwann sind selbst in Amerika alle in Frage kommenden Stadien, Festivals und Großhallen abgegrast, Tourneen etwa nach England, Deutschland oder Frankreich waren nicht mehr verlustfrei zu machen — die Anlage war praktisch nicht mehr durch den Zoll zu bringen.
Und so wanderte die ganze Pracht am Ende 1974 in großen Teilen auf den Schrott. Etliche der Lautsprecherboxen landeten in Konzerthallen wie dem Winterland oder dem Fillmore East, etliche endeten aber auch als Hühnerstall in alternativen Landkommunen. Die Dead freundeten sich schlussendlich doch wieder mit handelsüblichen PA-Systemen an.
Es geht in dem Buch nicht nur um Technikbegeisterung, sondern auch um Tourneegeschichten — um nicht zu sagen: um Klatsch. Es spricht auch ein gewisser Wehmut, eine leise „Es war einmal“-Stimmung aus dem Buch. Denn wenn auch die Technik im Vordergrund steht, so sind hier auch immer die Menschen beschrieben, die sie gebaut und bedient haben. Davon hätte man sich gelegentlich etwas mehr gewünscht. So eine Überraschung ist zum Beispiel, dass Owsley Stanley nach einem Schwimmunfall auf einem Ohr so gut wie taub war, aber meinte, auf LSD könne er den Schall sehen. Vielleicht war das wirklich so, der Sound jedenfalls, den diese Wall produziert hat, dürfte bis heute unerreicht sein. Ich hätte ihn gern mal gehört. Man wüsste auch gern, was Bear (und die noch lebenden Dead-Mitglieder) zu den wesentlich kompakteren PA-Systemen sagen würden, die uns heute zur Verfügung stehen.
Zu kritisieren ist im Prinzip nur eine manchmal allzu sehr ins Längliche führende Detailfreude. Manches Mal hätte ein simples Foto drei Seiten Txt erspart. Das Buch hat zwar eine Fotostrecke, die aber eher wenig ergiebig ist. Und irgendwann hat auch der geduldigste Leser begriffen, dass Drogen zum Alltag gehörten und in jeder Halle wieder neue und andere Schwierigleiten auftraten, die irgendwie gelöst wurden (oder eben auch nicht). Ein gewisses Maß an Technikverständnis sollte man mitbringen, wenngleich sich Anderson viel Mühe gegeben hat, einen Lesefluss zu erzeugen, der durch die immerhin 350 Seiten dieses Buches trägt.
Brian Anderson:
Loud and Clear
The Grateful Dead’s Wall of Sound and the Quest for Audio Perfection
St. Martin’s Press, New York 2025
ISBN 978-1-250-31967-8
Ein Kommentar
Michael Engelbrecht
Falls das Wort nicht hier vorkommt, es kam mir in den Sinn: wahnwitzig.
Vieles ist mir neu, und man könnte die Geschichten um die Kkangbesessemheit der Deads auch kafkaesk nennen.
Ihre Platten galten allerdings selten als toll klingende Werke, oder audiophil. Ich habe nie einen tieferen Zugang zu ihrer Musik gefunden, vielleicht weil ich dachte, mann müsse LSD zu sich nehmen, um „dabei zu sein“. Es ist ja eine Drohe, die mitterweile in der Therapie eingesetzt werden kann, und Michael Pollans Buch darüber hat mir einiges bedeutet. Leider vertrage ich nicht mal mikro dosing. Schade.
Danke jedenfalls für das Buch des Monats August. Selbst wenn man nicht techniknah ist wie ich, kann ich mir vorstellen, dass es ein grosses Lesevergnügen ist, mit all den Obsessionen, dem „Klatsch“ etc. In Tom Wolfes Buch bin ich nicht reingekommen, vielleicht habe ich zu früh aufgegeben.
Und das Quantum Wehmut kann ich gut nachvollziehen, auch wenn man die Band nur von ferne verfolgte. Und eine Schallplatte hat es immerhin geschaft, über die Jahrzehnte in meinem Schrank, und es ist mein Favorit, wobei mir die Vergleichsmasstäbe fehlen: Blues for Allah.
Michael Frank hat vielleicht mal eine Sendung im DLF gemacht, ich frage ihn mal. Dunkel erinnere ich much, an den Stress den Journalisten hatten, wenn sie das Mastermind befragen wollten in der alten Bundesrepublik.