Das kurze Ende eines langen Traums
„We’ll say, that was just another time,
One day, we will put it all behind,
We’ll say, that was just another day on Earth“
– Brian Eno, Just Another Day
1 – Radio und Tagesrest
Heute früh, in meiner letzten Traumphase, war ich wieder halbwegs in der Wirklichkeit angekommen. Mit dem Radiokollegen Karsten M. sass ich zusammen und erzählte unserem einstigen Chef Harald, wie oft ich schon meine letzte Sendung in Angriff genommen hätte, und das Loslassen geübt. Aber es standen natürlich noch eine und noch eine Sendung an, ich war in der Redaktion, und Martina B. öffnete den Computer, damit ich letzte Änderungen der Playlist vornehmen könnte.
Etwas früher in der Nacht ging es wilder zu, und daran ist auch Martina Weber und ihr Text zu Monte Hellmans Film „Two-Lane Blacktop“ schuld, obwohl ich ihn noch gar nicht gelesen habe. Aber ich plante eine Art „parallel watching“ und bestellte mir ein kleines Paket mit dem Film. Der Film war 1971 komplett an mir vorübergegangen, und bis vor zwei Tagen wusste ich nicht mal was von seiner Existenz. Gestern Abend huschte ich, vorm Einschlafen, über die ersten zwei Absätze eines längeren, beiliegenden Essays, und erfuhr, dass der Film, in der Blüte meiner jungen Hippiejahre (in dem Jahr, als ich Joni Mitchell und Miles Davis entdeckte) gar nicht in Deutschland in den Kinos lief. Hollywoods schräges Filmbusiness! Über den Inhalt las ich nichts.
2 – A Day In The Life
Und gestern sorgte noch etwas anderes dafür, dass ich einen besonderen Traum von alten Zeiten erleben sollte. Ein Blogtext von Richard Williams und seinem 16. Lebensjahr, er ist sieben Jahre älter als ich, und er beschreibt etwas, das aus einer Ära und einer Stadt stammt, in die mich meine allererste Zeitreise in einer Zeitmaschine wohl hinführen würde.

„Als ich neulich ausräumte, stieß ich auf einen kurzen Versuch, im Winter 1963/64 ein erzählendes Tagebuch zu führen. Ich war 16 Jahre alt und ein paar Monate davon entfernt, die Schule verlassen zu dürfen, um es höflich auszudrücken. Der größte Teil des Tagebuchs handelte von Mädchen, und zwar so sehr, dass es direkt in den Schredder wanderte. Aber eine Seite schien mir erhaltenswert. Sie beschreibt einen Schulausflug von Nottingham nach London, der von einem unserer Englischlehrer organisiert worden war, um Joan Littlewoods neues Musical „Oh, What a Lovely War!“ zu sehen, das gerade von seiner ersten Aufführung im Theatre Royal Stratford East ins Wyndham’s Theatre in der Charing Cross Road an der östlichen Grenze von Soho verlegt worden war. Wie im Tagebucheintrag beschrieben, kamen wir in Soho an und waren auf uns allein gestellt. Samuel Pepys ist es nicht, aber es ist ein kleiner Schnappschuss von etwas Besonderem. Wie Sie sehen werden, schwänzte ich am Tag vor der Reise die Probe des Schulorchesters, besuchte ein lokales Café, das mit vollem Namen „Don Juan“ hieß, nahm Kontrabassunterricht und kaufte eine Beatle-Jacke (braun, Rundhalsausschnitt, irgendwelche Zierknöpfe, bei C&A, glaube ich). An diesem Abend gingen ein Freund und ich in die Rainbow Rooms, wo gelegentlich Beatgruppen auftraten, um die Renegades, eine Band aus Birmingham, und die Rocking Vulcans, eine lokale Gruppe, zu sehen und mit einem Mädchenpaar namens Anne und Jean zu tanzen.
In Soho angekommen, schien es das Ziel zu sein, so viele Cafés wie möglich zu besuchen, insbesondere das 2i’s und das Heaven & Hell, die nebeneinander in der Old Compton Street lagen. Ich erinnere mich (habe es aber nicht aufgeschrieben), dass, als wir draußen standen, ein Pärchen mit minestens nacktem Oberkörper den Kopf aus einem Fenster im ersten Stock steckte, um mit jemandem auf der anderen Straßenseite zu plaudern; das muss das Leben sein, dachte ich. Wir besuchten auch Act 1 – Scene 1, direkt auf der anderen Straßenseite, und Le Macabre in der Meard Street, wo die Kunden auf Särgen saßen.
Und es gab Plattenläden, darunter das kurzlebige Ronnie Scott’s in der Moor Street und zwangsläufig Dobell’s. Im Harlequin in der Berwick Street (das zwei Jahre zuvor eröffnet worden war) kaufte ich eine Prince Buster 45 auf dem Blue Beat Label (das dem später als Ska bekannten Idiom seinen Namen gab) und „Orange Street“ b/w „JA Blues“ von den Blue Flames. Das war auf dem R&B-Label, von dem ich heute weiß, dass es nach seinen Gründern Rita und Benny King (früher Isen oder Issel) benannt wurde, die einen Plattenladen in Stamford Hill betrieben und nebenbei ein Label hatten, um die vielen Westinder zu versorgen, die sich in der Gegend niedergelassen hatten.
Nach der brillanten und sehr bewegenden Show im Wyndham’s, die von der Originalbesetzung, darunter Barbara Windsor und Victor Spinetti, aufgeführt wurde, schlenderten wir zum unteren Ende der Wardour Street, wo wir feststellen mussten, dass das Whisky A Go-Go und der Flamingo’s All Nighter außerhalb unserer Preisklasse lagen. Aber irgendwo namens Meg’s gab es den „besten Hamburger, den ich je gegessen habe“ – mit ziemlicher Sicherheit den ersten, der kein Wimpy war.
Der „Jeff“, der mich bei diesen kleinen Abenteuern begleitete, war Jeffrey Minson, ein weiteres Mitglied unseres Folk-Trios und schließlich der Autor von Genealogies of Moral: Nietzsche, Foucault, Donzelot and the Eccentricity of Ethics. Ich wünschte nur, ich könnte mich daran erinnern, welche beiden Mitglieder der Rolling Stones wir an diesem Nachmittag in Akt 1 – Szene 1 gesehen hatten; ihre zweite Single, „I Wanna Be Your Man“, war am Tag zuvor veröffentlicht worden.
3 – Ein Chevy und andere Tagesreste

So weit, so gut, Richard! Meine Tageserlebnisse hatten genug Stoff angesammelt, um meine Traumerlebnisse in eine gewisse Richtung zu lenken, das Zauberwort der Traumforscher ist hier „Trauminkubation“. Aber hier kommt nun (für mich) die leichte Ernüchterung vor der wilden Pointe meines „amerikanischen Traums“: als ich um 4.30 Uhr daraus erwachte, stand ich auf und machte ein paar Notizen, aber merkte schon da, wie viel mir aus einem epischen Traum entglitten war. Gerne würde ich die Traumerzählung in voller Länge ausbreiten, so detailfreudig wie Richards Tagebucherinnerung, aber ich bekam nur einen Zipfel davon zu fassen, das dezent-skurrile, melodramatische Ende.
Zum Rest des gestrigen Tages und Abends zählten übrigens noch folgende Dinge: die Nacherzählung besonders „musikalischer Weihnachten 1971“ im Rahmen des dritten Teils meiner „Gospel-Story“, die Frau auf einem Filmfoto von „Two Lane Blacktop“, die wohl die „heisse Braut“ in dem Film zu sein scheint, an der Seite von James Taylor. Und das Auto, das eine besondere Rolle in dem Kinofilm aus der „Easy Rider“-Phase des „New Hollywood“ stammte, ein umgebauter Chevrolet, Baujahr 1955, wie ich. Und ich fand gestern das nun 20 Jahre alte, Berliner Interview mit Brian Eno, wo es um das Album „Another Day On Earth“ ging. Insbesondere suchte ich darin nach seiner bewegenden „Gospelgeschichte“!
4 – Ende eines Traums

Ich war vielleicht Mitte 20 und mitten im bunten Treiben, in einer amerikanischen Stadt. Früh in den Siebzigern, keine Frage. Es gab viel zu tun, und ich wollte Hippiefreunden aus der Patsche helfen, mit knapp unter 1000 Dollar. Die Einzelsummen schrieb ich auf ein grosses Zeitungsblatt mit einem dicken Filzstift und zählte sie im Kopf zusammen. Meine Freundin sass neben mir – mein Gott, wie schön sie war! Bevor ich zum Hotel am anderen Ende der Stadt aufbrach, in einem alten Volkswagen (!), sagte ich ihr, sie solle in fünf Minuten nachkommen, ich würde die Sache mit dem Geld rasch regeln. Das tat ich auch. Ratzfatz war ich dort, und das Hotel sah aus, wie ich mir ein altes amerikansiches Hippie-Hotel vorstellte, aus einzelnen Fenstern ertönte Rockmusik, ich war in meinem Element. Zügig wickelte ich die Geldsache ab und kam zum ersten Mal zur Ruhe. Ich setzte mich ans Ende eines langen Flurs, es war recht dunkel, spärliches Sonnenlicht fiel durch ein schmales Fenster allein. Und dann kam meine Traumfreundin, vom andern Ende des Flurs. Sie ging langsam auf mich zu, und die Tränen schossen mir aus den Augen, es gab kein Halten. „Was ist los?“, fragte sie mich besorgt, als meine stillen Tränen in lautes Schluchzen übergegangen waren. Ich sagte ihr, nachdem ich etwas zu Atem gekommen war, mir sei bewusst geworden, wie sehr ich sie liebe , und sie schloss ihre Arme um mich und bedeckte mich mit Küssen.
NACHKLAPP: Zu „amerikanisch“?! Nein, einfach der Traumtext. Um von meinen zu deinen endlos gezählten Tagen überzugehen, zum Tanz von Liebe, Glück, und Flüchtigkeit, klicke am besten auf den Songtitel „Just Another Day“ in der vierten Zeile, nach dem Lyrikzitat, und hör dir das Lied an. Nur eine Idee! Richard Williams Tagebucherinenrung findet sich auf seinem Musikblog „The Blue Moment“. Ich hatte heute Nacht meinen „blue moment“! „Aftermath“ war meine erste und einzige Stones-Platte (HIER das ganze Album zu Anhören!), die ich mir als Teenager besorgte. Und „Late For The Sky“ fiel mir zu dieser Geschichte als ideales Cover ein (und ziemlich guter Soundtrack) – sowieso mein Lieblingsalbum des Amerikaners! Nachklapp 2 enthält ein paar Zeilen aus „What We Are“ von Beatie Wolfe und Brian Eno, for all the good reasons!
Nachklapp 2:
Here
In the stars
Can you trace
What we are
Where
Is the line
That divides
You and I
Nights
Fading fast
Made to live
Made to last
6 Kommentare
Martina Weber
Also eine Annäherung an den Film über verschlungene, zusammengecuttete Umwege 🙂
flowworker
Eine Annäherung an mich über diverse Zeitreisekanäle. Und an einen mir unbekannten Film, yes!
Martina Weber
Deine Annäherung an dich über verschiedene Zeitreisekanäle erinnert mich methodisch fast schon an Jürgen Ploog 😉
Du machst es spannend und ich bin auf deine Eindrücke zu dem Film (und zu meinem Text über den Film) gespannt. Aufmerksam wurde ich auf Two-Lane-Blacktop übrigens durch das Buch „Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino“ von Thomas Elsässer aus dem Jahr 2009. Bei mir wird das ja eine kleine Serie. Einige der Autorenfilme, die ich vorstelle, kannte ich schon lange; mir war aber nicht klar, dass sie Teil einer Undergroundbewegung waren. Das macht die Filme umso sympathischer.
flowworker
Ich kenne Ploog zu wenig.
Mir geht es um Storytelling. Dass das was mit mir zu tun hat, ist Randerscheinung. Alles, was ich hier in die Story bring, läuft auf Aspekte des Traums hinaus. Und Traumdeutung ist meine Spezialität. Die Traumdeutung hier ist allerdings weitegehend easy peasy. Die Fäden diverser „Tagesreste“ mit hohem impact aufzudröseln, macht riesig Spass. Zum Glück, und das liebe ich an Träumen odz, bleibt ein unerklärbarer Rest im Spiel, der besonders spannend ist.
Olaf Westfeld
Ich habe zwei Stones Alben: Sticky Fingers und Aftermath. Letzters hab ich mir noch in der alten Heimat gekauft – mit 14 oder so – und schleppe es seitdem mit mir rum. Hab die platte in diesem Jahrhundert bestimmt noch nicht aufgelegt. Aber ich denke gern dran – gutes Album in meiner Erinnerung.
flowworker
Fünf, sechs tolle Songs imo, auf Aftermath.
Und hier gepostet wegen der kleinen Pointe
in Richards Geschichte,
und weil es eine Platte meiner Kindheit war.