“Folk music, surrealism, the blues, the avant-garde, deep intelligence, primitive emotion.”
In den letzten Tagen waren meine Erinnerungen ab und an unterwegs in einem Damals, das die erste Hälfte der Siebziger Jahre darstellt, mit einem Arsenal von Zeitreisetechniken: Alltagstrancen, Rumstöbern im Netz, „Köln 75“, der Film, das Wiederhören der langen ersten Seite von „The Köln Concert“, und, nicht zuletzt, das Versinken in der „Relativty Suite“ von Don Cherry nach Ewigkeiten… die Platte gehörte im Wintersemester 74/75 im Doppelzimmer 510 des „I-Hauses“ zur Grundausstattung der Musikversorgung von David Webster und mir.
Ein zufällig zusammengewürfeltes Schicksalsduo für zwei Semester, David lernte den Free Jazz kennen, und ich drang tiefer denn je ins „Weisse Album“ der Beatles vor. Dank der Erinnerungen von Richard Williams öffnete sich jene Tür im fünften Stock wieder, als er zu seinen Don Cherry-Inselalben kam. Das Stichwort lieferte ein Satz von Ethan Iverson: “Folk music, surrealism, the blues, the avant-garde, deep intelligence, primitive emotion.” – es wae an Ornette Colemans Album „Science Fiction“ von 1972 gerichtet.
„That’s good“, reagierte Richard darauf, und führte aus: „And, as much as I love Cherry’ work with Coleman, Albert Ayler and Gato Barbieri, my favourite Cherry albums are probably those that best encapsulate the full range of those qualities, and of his imagination. They would be Eternal Rhythm, Relativity Suite from 1973 (with the JCOA, never reissued in any form since its its first appearance on vinyl), and the wonderful Modern Art: Stockholm 1977, a concert at the city’s Museum of Modern Art, which appeared on the Mellotronen label in 2014.“
Das „Modern Art“ Album von 1977 kenne ich gar nicht, aber die fast vergessene „Relativity Suite“ wurde flugs auf dem raren Markt vergrabener Schätze aufgetan, und voller Begeisterung neu gehört. Fast wie beim ersten Mal. Es ist der 13. Januar 1975, nasskaltes Januarwetter. Fünfundzwanzig sorgsam für die grosse Reise in die zweite Heimat ausgewählte Langspielplatten stehen, sorgsam im Schatten platziert, an der Wand, mit dabei „Diary“, „Lord of the Rings“, „Facing You“, und „Third“. Davids Kassettenrecorder gibt „Happiness is a warm gun“ von sich, John Lennon auf der Höhe seiner Kunst, und es ist schon später Abend, fast Nacht.
Während das Album noch läuft, ist David schon eingeschlafen, ich lese bei spärlichem Licht noch ein Kapitel in Ralf Oerters „Entwicklungspsychologie“, auch ein gutes Einschlafmittel, und draussen, nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt, sitzt ein übermüdeter Musikproduzent am Steuer seines zitronengelben Renault und fährt einen unruhig schlafenen Keith Jarrett Richtung Köln. Sie fahren gerade an Würzburg vorbei, und der Produzent verwirft den Gedanken, hier auf einem Rastplatz ein wenig Schlaf nachzuholen. Ich bekomme von alldem natürlich nichts mit, hole am nöchsten Morgen die Post bei Herrn Kopka in der Pforte ab. Ein Päckchen von „Jazz by Post“ ist angekommen, mit Bennie Maupins „The Jewel In The Lotus“. Drei Wochen später verliebe ich mich im rumpeligen Fahrstuhl unseres Wohnheims. Das Leben nimmt einmal mehr volle Fahrt auf.
2 Kommentare
Eckart
Lieber Michael,
schön, von dir zu hören und von Keith Jarrett. Ein guter Anlass, auf der neuen Liege das Köln-Konzert nochmal zu hören … und dann die Erinnerung an unsere Zeit im I-Haus vor Jahrzehnten. Ein schöner Nachmittag.
Ja, Köln ’75 ist eine Reise in die Vergangenheit, die wirklich nur das Gerüst der Geschichte erzählt. Vielleicht lässt sich ja auch die Geschichte des Konzerts nicht erzählen, so genau treffen mich und unsere ganze Generation diese Töne.
Wann kommt deine Sendung? Ich werde sie hören
Dir alles Gute nachträglich zum Geburtstag und bis bald.
Eckhard
Michael
See you later, alligator!
Alles weitere per mail!
M