Das fidele Grab an der Donau
So hat der Schriftsteller Alfred Polgar sein Wien beschrieben. Dieser Satz hat viele Dimensionen. Nicht zuletzt ist er der Titel eines Buches von Georg Stefan Troller, im Untertitel „Mein Wien 1918 – 1938“.

Der Filmemacher, geboren 1921, nimmt uns in diesem Buch mit auf eine Reise durch die Zeit zwischen den Weltkriegen, dokumentiert sie in Zeitzeugenaussagen, Zeitungsartikeln, Filmen, Kabarett, und nicht zuletzt durch seine eigenen Erinnerungen — mit seinen jetzt 103 Jahren hat er reichlich davon. Und sie sind keineswegs nur romantisch, sondern Resultat scharfer Beobachtung und eines bisweilen harten, polemischen Humors, wie man es auch aus seinen Filme kennt. Anders wäre die Geschichte auch nur schwer zu ertragen.
Dieses Buch ist bereits 2004 erschienen. Ich, alter Wien-Fan, habe es damals gekauft und irgendwie im Regal vergessen. Jetzt habe ich es wiederentdeckt — was für eine Entdeckung!
Und wie verdammt aktuell sie ist.
Das alte Café Central ist der Ausgangspunkt. Das „alte“, das „klassische“ Wien, das Wien der Caféhäuser, das Wien der Zwischenkriegszeit, der zerfallenden Restbestände der K.u.k.-Monarchie, um sie geht es. Man liest, wie Wien versuchte, nach dem Ersten Weltkrieg so etwas wie eine neue Identität aufzubauen, die dann aber in Jahre des Verschweigens und Verfälschens mündete. Es geht um die Vergeblichkeit solcher Bemühungen, um die an sich selbst verzweifelnde (gelegentlich auch selbstmitleidige) Kulturszene jener Jahre. Denn in Wirklichkeit war natürlich nichts so, wie es zu sein schien, und alle Bemühungen führten — nun ja, man weiß, wohin sie führten. Der Autor erspart uns das nicht.
Auslöser war ein Filmdreh. Troller, dem wegen des geplanten Abrisses der Zugang zum alten Café Central behördlich verwehrt wurde, ließ sich mit seinem Filmteam heimlich im Gebäude einschließen und wurde nächtens in einem Kellerraum fündig: Dort fand er sie aufbewahrt, die Überbleibsel des alten Caféhauses, die Tische, die Schachbretter, Garderobenständer, Geschirrteile, die alte Kasse, „sogar eine Originalnummer des expressionistischen Sturm„, und unter dem Teppich ein Mosaik: „Eingang Café Central“. Damit beginnt das Buch, „Der Neubeginn 1918 – 1924“ heißt das Kapitel, und man ahnt bereits dort, dass der Neubeginn keiner sein wird.
Das Café Central war, wie Polgar sagt, gelegen „unterm wienerischen Breitengrad am Meridian der Einsamkeit. Kein Caféhaus wie andere Caféhäuser, sondern eine Weltanschauung, und zwar eine, deren innerster Inhalt es ist, die Welt nicht anzuschauen. Seine Bewohner sind größtenteils Leute, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen.“
Wir begegnen den klingenden Namen damaliger Stammgäste: Schnitzler, Werfel, Kraus, Musil, Kisch, Kuh, Torberg, Friedell, Klimt, und und und. Ein intellektueller, überwiegend jüdischer Zirkel.

Das Café Central, um 1920
Eine große Zahl ebenso großer Namen fliegt en passant vorbei, von Fritz Lang bis zu Conrad Veidt, von Gustav Mahler bis zu Arnold Schoenberg, von Kurt Tucholsky bis zu Erich Kästner. Ein spezieller Favorit Trollers ist der jüdische Kabarettist und Autor Jura Soyfer, „der Wundermann“ (Troller), dessen Weg quer durch das ganze Buch immer wieder beleuchtet wird. In jenen Zwischenkriegsjahren gehörte Soyfer zu den produktivsten Wiener Satirikern, im winzigen Kabarettkeller ABC fand man ihn ebenso wie im renommierten Ronacher. Seit Urzeiten habe ich Soyfers literarisches Werk im Regal stehen, zwei schmale Bände, Lyrik und Prosa. Denn zu mehr kam er nicht: Beim Versuch, auf Skiern in die Schweiz zu flüchten, wurde er entdeckt. Er starb 1939 im KZ Buchenwald. (Die Wiener Band Schmetterlinge widmete ihm eines ihrer besten Alben: Verdrängte Jahre — Österreich zwischen den Kriegen; erschienen 1981; mit etwas Glück kann man die LP manchmal noch gebraucht finden.)
„Geh’ma halt a bisserl unter“ heißt einer von Soyfers bissigen Kabaretttexten. Er weist den Weg in den Fortgang der Geschichte: in den Untergang, der sich dann aber leider nicht nur als a bisserl erwies. Am Anfang stand, was Karl Kraus als „Die Ratten betreten das sinkende Schiff“ bezeichnete — die vor den aufkommenden Nazis nach Österreich fliehenden Deutschen nämlich. Ihre Flucht half ihnen nicht, denn die Fluchtursache folgte ihnen — und sie wurde willkommen geheißen.
Troller schildert dieses Umkippen der österreichischen Gesellschaft bis 1938. Er selbst gehörte zeitweilig zur Bündischen Jugend: „Wir waren inmitten von lauter fanatischen Mitläufern, sowas wie ein Stück Basisdemokratie: Frühhippies, Ökologen, Aussteiger, Widerständler, Selbstverwirklicher.“ Es war eine sehr ambivalente Bewegung. Sie ließ sich in Teilen einkaufen, und damit passte sie ins allgemeine Bild. Troller schildert die immer weiter zunehmende Bereitschaft der Österreicher, sich mit den neuen Herren zu arrangieren. Ihre Gemeinheit, ihre Kleinkariertheit, die Politisierung jeder gesellschaftlichen Banalität, der zunehmende Antisemitismus, der in offenen Judenhass kippte.
Und jeder, der heute mit offenen Augen durch die politische Landschaft läuft, wird zusammenzucken, wie aktuell das alles wirklich ist.
Georg Stefan Troller:
Das fidele Grab an der Donau
Mein Wien 1918 – 1938
Artemis & Winkler, Düsseldorf und Zürich 2004
ISBN 3-783538-07188-9
2 Kommentare
Michael
Beeindruckend!
So manche Troller Dokus aus der alten BRD kommen in Erinnerung. Von seinen Reisen und Enthüllungen…. Der war schon ein guter Typ!
Olaf Westfeld
Bei mir ist Herr Troller untrennbar mit meinen Großeltern verbunden; ich erinnere mehrere Bücher im Regal; dann war der noch gefühlt immer im Fernseher, wenn ich bei denen zu Besuch war. Verblüffenderweise ist er ja noch am Leben.
Wien muss Anfang des Jahrhunderts wirklich ein sehr spannender Ort, voller spannender, exzentrischer Charaktere.