Sand ins narrative Getriebe streuen
Da eine Teilnehmerin meiner Literaturwerkstatt in Darmstadt, Kameliya Taneva, beim 32. Open Mike in Berlin nominiert ist, habe ich mir vor einigen Tagen die Interviews mit den 12 Finalistinnen und Finalisten angesehen, also denen, die aus 500 Bewerbungen für den wichtigsten Literaturnachwuchspreis ausgewählt wurden. (Die Interviews finden sich hier auf dem Blog des Open Mike.) Als aktuellen Buchtipp nannte eine Autorin den Roman Yellow Face von Rebecca F. Kuang. „Harscher Blick auf den Literaturbetrieb“ – das waren die Stichworte, die mich zur Leseprobe brachten. Das Buch schließlich erwies sich für mich als absoluter Pageturner, eine außergewöhnliche Leseerfahrung. Die Geschichte spielt in der Szene ambitionierter Jungautorinnen im Osten der USA, die ihr erstes, zweites oder drittes Buch schreiben, und es zeigt die aktuellen Debatten und Zwänge des Literaturbetriebs auf, besonders auf social Media. Die Erzählerin und Hauptfigur, eine weiße US-Amerikanerin, die mit ihrem ersten Roman nicht so erfolgreich war wie ihre Freundin koreanischer Herkunft, stiehlt das Manuskript der verstorbenen Freundin und bearbeitet es. Thema dieses Manuskripts ist die Rekrutierung chinesischer Arbeiter während des Ersten Weltkriegs durch die britische Armee. Der rote Faden, der den Spannungsbogen von Yellow Face bildet, ist die Frage, ob der Betrug erkannt wird. Auf social Media wird zudem erbittert darüber debattiert, ob sich eine weiße Autorin einen Stoff aus der Geschichte Chinas aneignen darf. Das Leben einer jungen Autorin zwischen Bestsellerlisten, Verfilmungsvisionen, Schreibblockade, Podiumsdiskussionen, Workshopleitung – das Smartphone immer griffbereit. Rebecca F. Kuang zeigt, wie die Literaturbranche (nicht nur in den USA) funktioniert, wie Erfolg gemacht wird, wie Narrative manipuliert werden und wie fließend die Wahrheit ist.
4 Kommentare
Lajla Nizinski
Martina, was für ein wichtiger Beitrag, der mal hinter die Kulissen blicken lässt, von denen man meist nur Gehörtes weiss. Würde jetzt gerne mit dir im Schokoladencafé in Köln sitzen und genau dieses Thema vertiefen.
Und einen Sandsack mitbringen.
Martina Weber
Schön, dir mal wieder auf dem Blog zu begegnen! Ja, eine außenstehende Person kann sich überhaupt nicht vorstellen, was da alles los ist in der Branche. Gib Bescheid, wenn du mal wieder in Deutschland bist! Dann treffen wir uns wieder.
C. Klepper
Guten Tag Frau Weber!
Selbst als Autor in Potsdam tätig, besuche ich seit Jahren gerne den Open Mike. Von Technik und Güte war der Beitrag von Frau Taneva zahlreichen Beiträgen voraus. Die lobende Erwähnung hat dies zwar anerkannt, jedoch nicht zu Ende gedacht. Der Zyklus hatte eine direkte, dotierte Auszeichnung verdient. Aber auch Wettbewerbe haben wohl ihre bevorzugten Themen.
So schließt sich vielleicht dann auch der Kreis zu der durch Sie aufgegriffenen Buchempfehlung.
In jedem Fall eine beachtliche Leistung, Glückwunsch an die Teilnehmerin und Ihre Textwerkstatt.
Martina Weber
Guten Abend, Herr Klepper! Vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich antworte Ihnen per Mail.
Für alle, die es interessiert: Über folgenden Link kann man die Literatursendung über den Open Mike auf Deutschlandfunkkultur nachhören:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/in-15-minuten-zum-literarischen-ruhm-wettlesen-auf-dem-32-open-mike-dlf-kultur-9c7ba316-100.html